VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2008

 

19. August 2008, Dienstag 6:00

Verunsicherung macht sich breit. Wie jedes Mal kurz vor einem Anruf in Oberwart. Ist es die Angst, für jämmerlich und wehleidig gehalten zu werden? Panik davor, man könne mich für hysterisch halten, weil ich mich mittlerweile wegen jeder Verschlechterung melde? Oder würde ich es gar nicht, wenn der Termin bei der Neurologin gestern nicht einen derartigen Ausgang genommen hätte? Und hätte es nicht, wenn sich die Behandlungsweise im Krankenhaus nicht so drastisch verändert hätte und mittlerweile auf jedes noch so kleine „Husten“ mit Kortison reagiert wird? Ich habe gelesen, dass dies die neue Methode sei: Auf jegliche Äußerung der Krankheit aggressiv mit Kortison zu reagieren. Aber was ist das jetzt? Eine Verschlechterung, eine durch Hitze bedingte Verstärkung von vorhandenen Schäden oder doch ein Schub, wie sie gestern feststellte? Basierend auf dem letzten Befund und den mess- und sichtbaren Verschlechterungen zu damals. Ich muss mich erst sortieren. Tatsache ist: Auf dem Abschlussbefund der letzten Therapie vom 1. Juli steht: „Wenn sich in 2 bis 4 Wochen keine signifikante Besserung einstellt, ist eine weitere Kortisongabe angezeigt.“. Ich hab zwei bis vier Wochen gebraucht, ehe eine Verbesserung sichtbar wurde. Und nun? Tatsache ist auch, dass vor etwa 3 Wochen meine Beine begannen sich massiv bis schmerzhaft spastisch anzufühlen, vor allem das Linke. Tatsache ist, dass seit Donnerstag eine sich doch herauskristallisierende Verschlechterung stattgefunden hat: Der linke Arm war erst nur gefühlt schwer, dann in den Tagen fühlte er sich steif an, die Hand wurde immer unbrauchbarer und nun ein leicht schmerzhaftes Gefühl, je nach Betätigung. Mit diesem Phänomen wurden auch meine Augen schlechter, von Tag zu Tag, ich könnte im Moment nicht Autofahren, da die Doppelbilder sich nun den ganzen Tag mehr oder minder penetrant im Vordergrund halten. Und die Parese im linken Bein? Mein Gangbild war schon scheiße, im Moment sieht es noch grottiger aus und sie meinte gestern, die Parese sei definitiv feststellbar, was im letzten Befund nicht der Fall war. Für sie also ein Schub. Und ich, geprägt durch die Jahre und all die Erfahrungen, die ich machen durfte/musste im Krankenhaus, bin verunsichert. Zu viele Richtungswechsel, ich weiß nicht, worauf ich mich verlassen kann oder darf. „Wer sollte mir schon den Kopf abbeißen, wenn ich da anrufe?“. Wovor habe ich Angst? Zu stören, dass es nicht nötig wäre? Ich denke, wenn man mit mir einfach eine klare Sprache sprechen würde, mir mitteilt, wie man meine Prognose tatsächlich sieht, und mich nicht ständig in Watte packt, würde mir die Einschätzung meiner Zustände leichter fallen. Oder wissen sie es auch nicht?
Wie sieht es heute aus, am Tag, kurz vor dem Telefonat? Beine –steif. Gangbild –pfui. Arm –unendlich lang und schwer und die Hand plump. Augen? Ich weiß es noch nicht, müsste erst meine Brille holen. Und da ist schon ein weiterer Grund für Verunsicherung: Der Zustand ist über den Tag NICHT konstant. Es wird noch schlimmer werden. Kann dazwischen aber für kurze Momente auch wieder abflauen. Spricht das nicht für das Wetter? Dafür, dass es sich „nur“ um Schwäche handelt? Ich werde noch WAHNSINNIG!!!!

Sie hatte meinen Verlauf gestern als schwierig und kompliziert bezeichnet. Ist er das? In der Neuro ist doch immer alles halb so wild, so war mir dieses nicht bewusst. „Er ist nicht so wie bei Patienten, die vielleicht zwei oder frei Schübe haben und dann mit Kortison gut kuriert werden können.“. Hm… Gibt es überhaupt so viele von denen? Jene, die all die Pharmakonzerne vor sich herschieben wie goldene Kühe? Oder sind es jene, die erst am Anfang ihrer Reise stehen? Anfangs war doch bei mir auch alles rosig. Alles schien in zu bewältigenden Bahnen zu verlaufen. Man kann sagen, 5 Jahre mit der Diagnose lief noch alles rund. Und dann? Ja, dann kamen die ersten Schlaglöcher und mittlerweile laufe ich nur noch neben der Spur, verzweifelt versuchend, der eigentlichen zu folgen. Waren für mich doch all die wirklich drastischen Fälle immer ein Gradmesser des Verfalls. Und nun, wo Dauerschäden nicht mehr kaschierbar sind?

Im Geiste tippe ich bereits die Nummer: 05797932…. Ist es nicht unheimlich, dass ich diese bereits verinnerlicht habe, doch die Nummer meiner Eltern nicht kenne? Meinen Kalender schnappen, und die Beschwerden kurz notieren. Auf den ersten Blick scheint es doch ein Dauerzustand zu sein. Wenn ich nicht genau sagen könnte, dass er übers Wochenende drastisch zugenommen hat. Mich in der Firma krank melden. Und wieder warten.


 

20. August, Mittwoch 6:00

Der erste Anruf endete mit einer mir unbekannten Schwester am andren Ende: „Die Neuro ist jetzt schon so voll, so viele Patienten ohne Termin, rufen sie um 9 nochmals an, dann ist die Frau Dr. hier.“. Und das ganze noch ziemlich entnervt und unfreundlich. Meine Mutter rief ein zweites Mal an, mit falschem Namen, und verlangte direkt nach Schwester Hedi, die natürlich sofort das Freizeichen gab. Also fuhren wir los, und meine Mutter redete und redete. Kurz vor Oberwart war ich dann schon so dermaßen entnervt, dass ich ihren Fahrstil bemängelte. 3m bis zum Wagen vor uns. Und das eine Ewigkeit. „Hast du schon mal etwas von einem Sicherheitsabstand gehört? Wenn der nun bremst, klebst du hinten dran. Wenn ich auf der Strecke nicht immer meinen Abstand einhalten würde, hätte es wohl schon mehrmals Tote gegeben, da meine Lücken zum Vordermann häufig von geisteskranken Überholern als rettende Insel genutzt werden.“. Und was macht sie? Sie lacht mich aus, und verfällt in einen hämischen Ton: „Tz tz tz tz! Ach Kindchen! Ich hab doch ABS!“. An dem Punkt wäre ich fast an die Autodecke gegangen und ich fragte mich, ob sie ihren Umgang mit andren Menschen schon mal überdacht hat. Ich spreche immer von der jugendlichen Arroganz. Die des Alters ist keinen Deut besser. Es folgte ein Moment des Schweigens, ehe uns ein Leichenwagen überholte, der schlussendlich vor uns her fuhr und dann in die Kellerzufahrt des Krankenhauses einbog: „Unheimlich…“, sagte meine Mutter.

„Setzt euch.“, sagte Hedi gönnerhaft und wir nahmen hinten in der Kinderecke Platz. Nicht ganz zwei Stunden warten. Dann wurde ich aufgerufen, und ich sagte nur leise, als ich meiner Ärztin die Hand gab: „Tut mir leid, bin schon wieder hier…“. Ein kurzes Gespräch, Notizen wurden gemacht, die Untersuchung hatte meinem Empfinden nach dasselbe Ergebnis wie am Tag zuvor. „Sie wissen ja, ich bin zurückhaltender mit Kortisongaben. Sie werden noch arge Probleme mit ihren Knochen bekommen.“. „Ha!“, warf ich ein: „Die hab ich ohnehin bereits.“. und dann kam noch das, was ich ganz und gar nicht leiden kann: „Und bei ihnen bin ich auch vorsichtig wegen der Psyche.“. Da war es also wieder, das böse Wort mit Ps. Hatte ich zuvor nicht gesagt, es ginge mir gut? Was hab ich nicht alles für Tiefschläge und selbstschädigende Phasen hinter mir, die ALLESAMT KEINEN Effekt auf meine MS zeigten. Das waren IMMER andre Komponenten, die darauf einwirkten. Im Moment ist es wohl, tragisch aber wahr, die Arbeit. Wenn etwas einen Schub auslöste, wurde dieser behandelt und ich lies diese Tätigkeit danach. Doch die Arbeit geht kontinuierlich weiter, für die Psyche zum Glück. Es sind wieder dieselben Handgriffe, die gleichen Bewegungsabläufe. Distress oder Eustress, spielt keine Rolle. Ich bekam den guten Ratschlag, diese Woche frei zu nehmen und nur das zu tun, was mir Freude bereitet. Ob ich das kann? Die Lioresal kann ich noch auf eine 40-50mg Tagesdosis erhöhen, da ihres Erachtens so nichts feststellbar sei und meine Erzählungen „nur“ nach Verkrampfen klingen. Und wenn es in einer Woche nicht wirkt, wieder anrufen und dann eine Stoßtherapie. Ich wiederhole mich nur ungern, tu es aber ständig: SO scharf bin ich nicht auf eine Therapie. Worte allein hätten schon genügt, eine Portion Ehrlichkeit, ehrliche Einschätzung, ohne dieses ganze Psychegedöns. Ich verließ den Untersuchungsraum und traf meine Mutter an, sich angeregt mit den neben ihr sitzenden Patienten über mich unterhaltend. Einen Moment lang kotzte mich das dermaßen an, aber ich gab mich mit Kopfschütteln und schweigendem Hinnehmen zufrieden. Sonst hätte ich mich wieder schlecht gefühlt. Die Nachhausefahrt verlief ruhig. Meiner Mutter war tatsächlich der Stoff ausgegangen und vielleicht wurde ihr so bewusst, dass ich vorhin auch schon nicht viel gesagt hatte, es ihr aber nur nicht aufgefallen war. Und es war ihr unangenehm, sie begann zu pfeifen, leise zu singen und suchte am Straßenrand verzweifelt nach einem Thema. Vergebens. Ich weiß auch nicht was schlimmer ist: Wie sie früher all meine Symptome und Beschwerden in sich selbst erkannte, zu verstehen meinte und als weitere Bestätigung für ihre Verdachtsdiagnose erachtete oder die Tatsache, dass sie nun ständig Brücken schlägt: „Der ganze Unterarm kribbelt ständig.“, und dann selbst abwertet: „Ach, bei mir ist es JA NUUUR die Verkalkung im Hirn.“, oder: „Bei mir ist es ja nur die Sehnenscheidenentzündung.“, usw.. Das sind die Momente, in denen ich mir wünschte, sie hätte endlich IHRE MS-Diagnose. Sie hätte endlich das, was sie will und anscheinend braucht. Ist das krank? Oder traurig?
 Ich möchte heute selbst zur Arbeit fahren, ob es klappt? Vor allem die Rückfahrt?

Nachmittag

Und plötzlich fühle ich mich wieder schlecht, haltlos und leer. Und plötzlich ist da das Bedürfnis nach etwas Massivem, etwas, das weh tut, mich durch und durch erschüttert. Wenn mir keiner eine reinhaut, mir selbst Schmerzen zufügen?

 

Vergiss nicht, was du bist!

Scheiße! SCHEISSE!! Wenn die Psyche schon schuld sein soll, wieder Mal, dann kann es mir auch schlecht gehen. Es reicht nicht! Mir selbst auf die Lippe beißen, bis es blutet? Mit dem Kopf solange gegen die Wand schlagen bis es blutet? Warum bin ich es nicht wert? Drückende Schwere auf meinen Schultern. Jetzt gibt es auch keinen Grund mehr, mich und meine Symptome ernst zu nehmen. Es ist doch nur die Psyche. Ist es fair?
Und es reicht einfach nicht mehr, und die Schnitte werden doch nicht tiefer.

Wie zusammengeschlagen am Tisch hängen, Tablettenüberdosen im Sinn und die Feigheit vor Augen. Betäubt, berauscht, zugedröhnt. 3 oder 4 Aspirin schlucken und dann nochmals zur Klinge greifen? Alles sinnlos, den Gedanken fast nicht wert. Außer des flüchtigen Moments wegen, wenn die Hoffnung auf Erlösung kurz reell erscheint. Alles Lüge! Das glühende Gesicht in den Händen vergraben. Sie stinken nach Blut und Seife. Ja, jetzt fühle ich mich wieder zu Hause. Ab in den Dreck, wo ich hingehöre.

Abend

Schweigen. Sebastian fragt nach, doch ich antworte nicht. Ist das nicht Antwort genug? In der Wanne liegend, gehört meine Sorge voll und ganz den Wunden. Die Angst, diese zu verlieren, ist schier übermächtig. Und doch den Arm immer wieder ins heiße Wasser tauchen, wohl wissend, die Zeit, die Sebastian danach braucht, für meine Zwecke zu nutzen. Und es brennt und ich kann mich zumindest ein wenig spüren. Dann hinters Haus schleichen und mich ein drittes Mal aufschlitzen. Was könnte ich noch anstellen, um die Blutgerinnung in den Keller zu jagen? Was, um mich endgültig zu zerstören? Es macht alles keinen Sinn. Das Bild vor meinen Augen verdoppelt sich. Wie ein Schlag ins Genick- der Körper versucht sich selbst zu betäuben und ich bin Nutznießer der kranken Situation. Schlechtes bleibt schlecht. Wenn man davon überzeugt ist, wird es wohl auch stimmen. Was bin ich? Ein Simulant? Aufmerksamkeitsgeil? Für was hält man mich? Und fast scheint es, als dürfe es mir gar nicht gut gehen. Dass ich mich selbst lieber im Schatten sehe, ist das eine. Aber wenn es andre auch tun? So ist doch alles um so vieles einfacher, wie? Welchen tieferen Sinn hatte der Spruch gestern: „Ihre MS- Diagnose ist doch ohnehin sicher.“. VERDAMMT, was bin ich denn? Borderliner? Auf der Jagd nach Aufmerksamkeit und Mitleid, koste es was es wolle? Bin ich das für euch??? Dieser „Ich glaub dir kein Wort“ –Gesichtsausdruck, dieses Verharmlosen. Dieses „Du nervst!“ in jedem Wort. Wertlos. Abgestempelt. Verdiene keine Wahrheit. Bin ich die gelebte Lüge? Und am Ende fast gönnerhaft: „Sie kennen sich selbst ohnehin am besten.“. Wie denn? Das lässt man nicht zu. Ich weiß nichts. Ich kenne mich nicht, darf mich gar nicht kennen noch einschätzen. Was überwiegt? Der Zorn oder die Trauer? Da sind keine Tränen, bin wohl nur wütend, vor allem auf mich selbst. Mir wieder Mal vornehmen, diese Unklarheiten bei der nächsten Untersuchung offensiv auf den Tisch zu packen? Um somit den nächsten Stempel zu kassieren.

Macht wohl wirklich alles keinen Sinn. Die Klinge in greifbarer Nähe deponieren. Wenigstens das Werkzeug hat Bestand. Ich bekomme keine Luft mehr…


 

21. August, Donnerstagvormittag

Das Wetter hat kein Erbarmen mit mir, so wie der Schlaf. Erst war es kühl und bewölkt, doch je näher der Lauf rückt, desto mehr klart es auf. Die Hemiparese ist auch heute Thema. Natürlich, jetzt geht es mir ja auch grottig. Bitte schön! Diesem mir unterstellten MS-Psyche-Zusammenhang gerecht werden. Pah! Der andre Arm stinkt immer noch nach Blut, ich konnte es nach dem dritten Mal nicht abwaschen, konnte einfach nicht. Unter langen Ärmeln gibt es keine gesellschaftlichen Zwänge und Regeln. So einfach ist das. Und dort, wo ich hinlaufe, schert es niemanden, wie ich mit mir selbst umspringe, und brauche es somit nicht zu verbergen.  Es hat alles seine Zeit und seinen Raum und es läuft. Ich bezweifle, dass ich nachmittags arbeiten werde können, meine Augen werden die Autofahrt nicht gestatten. Wieder zu Hause bleiben und abstürzen. Haha, rosige Aussichten. Oder doch ein neues Bild beginnen? Das Bild in mir, ist seit Freitag da, und in den Tagen hat es sich immer mehr verändert, als sei es lebendig und als läge es an mir, ein Foto davon zu machen. Das Bild wurde immer dunkler, immer hoffnungsloser. Was sonst?


 

22. August, Freitag 5:00

Schlafen war nicht mehr möglich. Ist es das Bild? Oder die Fülle an Dingen, die mir heute bevorstehen? Noch erhellt nur die Mondsichel den Himmel, aber die erste Amsel zetert bereits draußen in den Hollerbüschen. Ich fühle nicht. Geht es mir gut, geht es mir schlecht? Irgendwie merke ich nichts mehr von den Tabletten, es ist, als würde ich keine nehmen. Und das trotz Erhöhung der Dosis. Die Beine bleiben steif, der Arm lang. Was sonst, wenn ich mir doch alles nur einbilde. Als ich abends die letzte Tablette einwarf, fand ich mich kurz darauf in einer Art Betäubung wieder. Und ich genoss es, loszulassen und zuzusehen, wie der Körper in sich zusammensinkt. Nachdem er mir doch wieder so viel Freude bereitet hat. Die Ärztin montags meinte, man würde aus dem Gespräch mit mir heraushören, wie massiv leistungsorientiert ich sei. Entweder das oder einfach nicht willens, Fähigkeiten kampflos aufzugeben. Der Lauf war ein Desaster. „Tut nicht weh, sieht nur scheiße aus!“. Mehrfach um Haaresbreite an Stürzen vorbeigeschrappt. Wenigstens auf mein rechtes Bein ist noch irgendwie Verlass. In Gedanken sah ich mich mehrfach hinfallen und ich erschauderte, zugleich gefangen in dem Reiz, den die damit verbundene Wucht in mir auslöst. Krank? Was ist es nicht? Oder vor ein paar Tagen, als ein LKW in einer engen Zufahrt anhielt,  um mich erst vorbeilaufen zu lassen. Und ich stellte mir vor, dann hinter ihm zu stürzen, die Beine ohnehin bereits am Versagen. Und ich sah mich auf den Asphalt knallen, im toten Winkel und dass er mich beim Zurücksetzen überrollt. Es tut mir leid. Für ihn, für mich nicht. Und abends, als ich „die Macht“, sprich: Die Fernbedienung, in die Hand gedrückt bekam, blieb ich bei einer Doku-Diskussionssendung zum Thema Beerdigungen hängen. Sebastian meinte, er fände den Gedanken traurig, dass nach dem Tod Schluss ist und er all die Dinge nicht mehr machen kann. „Ich nicht…“. Klammere an nichts, kann nie behaupten, noch irgendetwas vorzuhaben, unbedingt machen zu müssen, bevor ich sterbe. Allzeit bereit, wie? Ist das wieder so eine Art Selbstbestrafung? Oder meine Mutter, die ihren Schwimmunfall immer noch in den Knochen sitzen hat. Ich weiß ganz genau, wie ich darauf reagieren würde. Schockiert? Traumatisiert? Weit gefehlt. Auf den Geschmack gekommen, mich immer wieder zurückführen an diesen toten Punkt, von Sehnsucht zerrissen. Was hat mich dazu gemacht? Sie berichtet völlig aufgelöst von dem Moment, als sie sich bereits sterben sah und ich beneide sie um diese Erfahrung. Und wieder die Frage nach dem „Was hält mich?“. Schuld? Schuldgefühle? Oder die Angst zu scheitern und wieder in der Psychiatrie zu landen? Zwangseinweisung und weggeschlossen. In mir wohnt so unendlich viel Destruktivität, doch werde dieser nie gerecht. Elender Feigling!

Der Tag ist angebrochen, der aufsteigende Nebel lichtet sich und meine Krähen rufen. Etwas essen. Fühle ich mich nun besser, bzw. irgendetwas? Ein Lächeln auf mein Gesicht tackern und dann zur Arbeit. Die Schwere verborgen unter weitem Stoff. Oscarverdächtig. Das Lächeln für meine „Kinder“ ist echt und Martha streckt hingebungsvoll ihre kleine, rosa Zunge raus, als ich ihren Bauch durchknete. Draußen turnen die Kohlmeisen durch die Bäume in den Töpfen. „Hej, es wird ein schöner Tag!“. Wer weiß. Wenn ich dann heute Abend zum Mittelalterfest mein neues Kleid trage, entspricht mein Äußeres endlich dem, wie ich wirklich bin. Und stehe dann da, wie die Dunkelheit persönlich, und sehe zu, wie Mönche Bier hergestellt haben. Beinahe amüsant…


 

23. August, Samstag 7:30

Wie das Thema beginnen, ohne mich sofort ins Aus zu befördern?

Die Beziehung zu meiner Mutter ist krank. Ist sie kaputt? Verstehen lernen, warum mein Vater sie so behandelt und warum die beiden überhaupt nicht zusammenpassen?

Spätnachmittags rief sie endlich an um die Fahrt nach Fürstenfeld zu klären. Ein nicht enden wollender Redeschwall donnerte aus dem Telefon, wer hätte das gedacht. Dann fuhren wir endlich. Der Redeschwall wollte einfach nicht abreißen, irgendwann begann sie mich mit überflüssigen Fragen zu löchern, um so eine Art Gleichgewicht herzustellen. Wie überflüssig. Wie immer wartete sie die Beendigung der Antwort nicht ab und begann mittendrin von etwas ganz andrem zu erzählen. Ja, wie immer. Durch die Stadt zu gehen war eine Qual, meine Beine versagten komplett, ich wünschte mich weg oder Rollen an meine Schuhe. Und sie redete und redete und redete. Ihre Erzählungen verloren sich in unnötigen Details und Erklärungen, die nicht zu besserem Verständnis führten, eigentlich nur zum Abstellen des Kopfes. Und ich versuchte mich in sie rein zu finden, wie sie das in dem Moment im Kopf sehen müsste. Versuchte zu verstehen. Doch es war zu viel und irgendwann hörte ich auf verstehen zu wollen. Mit Sebastian gewechselte Worte wurden von ihr unterbrochen. Ich verstand es nicht, ich WILL es einfach nicht verstehen. Dieser Selbstdarstellungswahn, dieses „Wirtin“ sein, mit allem was dazu gehört. Dieses permanente „Seht her! Hier bin ich!“. Sie ertrug es nicht, nur kleinste Momente nicht beachtet zu werden. Sie ertrug es nicht, mal nicht im Mittelpunkt zu sein, mal nicht das Geschehen aktiv zu beeinflussen, mit ihrer Präsenz zu prägen. Und sie ertrug das Schweigen nicht. Entweder redete sie noch mehr oder begann zu singen. Teils begann sie irgendetwas zu summen, während man mit ihr sprach. ICH bin krank? DAS ist krank! Beim Abendessen in einem Lokal hätte sie stundenlang über den blauen Fleck an ihrem Unterarm referieren können, bis wir auch davon überzeugt gewesen wären, wie tragisch sich blaue Flecken aufs gesellschaftliche Leben auswirken. Bereits da bekam das von mir aufgesetzte Schauspiel Schlagseiten und ich hörte meinen Vater aus meinem Munde: „Wie kann man sich nur so lange über einen blauen Fleck aufregen?“. Sebastian bezeichnete es später als Produkt der Schlagerwelt, in der sie groß geworden sei. Und da hatte ich das erste Mal das Gefühl, sie mit so einer Kleinigkeit zutiefst gekränkt zu haben. Und ich ertrug ihre Stimme nach Stunden nicht mehr, alles, was sie ausmacht, war nicht zu ertragen. Und als sie dann am Ende beim Konzert der Mittelalterband einen lauten, pseudowitzigen Kommentar schob, weithin über den Platz hörbar und sie das Kommando zum Abmarsch gab, war ich vollends entnervt. So skurril, wie der Abschluss einer mitreißenden Bühnenshow und der heiß geliebte Hauptakteur verabschiedet sich bei seinem begeisterten Publikum. KRANK! SIE, SIE, SIE. Immer nur SIE! Kann man denn keinen Schritt zurück machen und auch mal leise im Hintergrund verweilen?
Wenn ich es so vor mir ausbreite, sehe ich, dass ich im Recht bin. Aber warum tut es dann weh, ändert nichts daran? Die Fahrt nach Hause schwieg ich. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Ist eine Beziehung nicht dann intakt, wenn man gemeinsam schweigen kann und sich dabei nicht schlecht fühlt? Sebastian übernahm vom Rücksitz aus meine Rolle und gestaltete die Rahmenbedingungen für den Redewahn meiner Mutter. Ab und an ein: „Bianca, schläfst du schon?“. „Nein.“. Minuten später meine Mutter: „Bianca schläft schon.“. „Nein, Bianca schläft nicht!“, zischte ich in einem etwas schärferen Ton. Damit hatte ich die geheuchelt am Leben gehaltene gute Laune abgeschlachtet. Scheiß Borderliner, nur zufrieden, wenn du die Stimmung um dich rum mit beeinflusst. Hätte ich es bewusst provoziert, hätte ich viel früher intervenieren können. Aber ich tat es doch nicht. Stopfte mir selbst das Maul, zwang mich zu schweigen. Nach dieser übermächtigen Kraftanstrengung nicht mehr in der Lage ein Schauspiel abzuziehen. Und am Ende bin ich böse, bin ich abgrundtief schlecht, denn sie meint es nur gut und sie bezahlt alles und sie opfert sich auf.

Vormittag

Fühle mich schlecht, schuldig, dreckig. Wir kamen dann zu Hause an, hinter uns das letzte Stück Fahrt in Schweigen verbracht, weil ich ja dafür „gesorgt“ hatte. Und als wir ausgestiegen waren, blieb ich noch in der offenen Tür hängen und musterte meine Mutter. Wünschte ihr guten Abend, sie gab dies zurück. Sah mich dann verstört an und sagte irgendwie verbittert klingend: „Mach die Tür zu.“. Volltreffer, abgeschossen und versenkt. Sebastian auf dem Sofa noch kurz mit meinem Schweigen quälen und dann ins Bett flüchten. Saß da in Unterwäsche, drehte und wendete die neue Klinge, ehe ich eine perfekte Kante fand um meinen linken Arm zu zerschneiden. Du bist schlecht! Du bist schlecht! So unendlich schlecht!!! Den Verband drüber ziehen und mich blutend hinlegen, der Arm brannte, die Betäubung kam und lullte mich ein. Die Wunden sollten auseinanderklaffen, die Bestrafung dem „Verbrechen“ gerecht werden, und ich drückte fest zu –doch sie tun es nicht. Wieder: Harmlose Kinderkacke. Meine Eltern tun sich gegenseitig weh, ich tu mir selbst weh. Meine Mutter ist verletzt und merkt dabei nicht, dass sie es ist, die unentwegt verletzt. Sebastian meint, sie war schon immer so. Ich, dass sie in letzter Zeit noch viel schlimmer geworden sei. „Es haben sich irgendwelche Türen geöffnet, du reagierst viel sensibler.“. „Ja, du hast wohl recht. Oder ich habe einfach keine Kraft mehr, sie einfach zu ignorieren und hinzunehmen, wie sie ist. Keine Energie, sie zu puffern und dafür zu sorgen, dass es ihr gut geht.“. Es ist nicht meine Aufgabe. „Deine Mutter ist 60. Die Ausrede, die Kindheit hätte sie dazu gemacht, was sie ist, zählt nicht mehr. DU bist das Kind.“. Ich weiß, aber ändert das etwas an dem eingespielten System? Es hatte mich dermaßen aufgerieben, ich hing nach der letzten Tasse Tee überm Klo und sah mich schon mich beim Lauf erneut übergeben. Es fühlt sich nicht gut an und ich weiß, ich werde ihrem nächsten Anruf entgegenfiebern, nur um heraushören zu können, dass wieder alles in Ordnung ist. BESCHEUERT!


 

25. August, Montag 6:00

Kobold, die kleine, schwarze Katze, schleicht wieder ums Haus. Mit flauen Magennerven Martha auf der Terrassentreppe anzutreffen, auf einer Maus rumkauend, tut das seine. Auch gestern war mir morgens nach Kotzen. Scheinschwanger? Haha. Nun kann ich tatsächlich nicht sagen, ob es meine Psyche ist oder nicht. Diese Panik davor, von meiner Mutter wieder so eine Retourkutsche serviert zu bekommen, wie z.B damals: „Ich wundere mich, wie Sebastian es mit dir aushält.“. Völlig unreflektiert, denn dazu war sie damals und auch heute noch nicht in der Lage. Ich weiß, dass ich genervt reagiere, und weiß auch, dass dies im ersten Moment ungerecht erscheint. Aber fast ist es wie ein perfides Spiel, aus dem wir nicht aussteigen können. Liegt es daran, dass ich mich nicht verändere, oder dass sie es nicht tut? Ich verändere mich sehr wohl, aber auf die Beziehung zu ihr gemünzt, nicht zum Positiven. Denn ich kann einfach nicht mehr. Kann ihr Verhalten nicht ertragen, ihre fast ignorante Art, mit Wörtern zu erschlagen, nicht länger hinnehmen. Dafür bin ich zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt, als dass ich mich mit den Sorgen ihrer gesamten Nachbar- und Bekanntschaft abquälen kann und im besten Falle auch noch mit den Intrigen und Schicksalsschlägen irgendwelcher „Stars und Sternchen“. Würde sie nicht so viel reden, könnte sie sich auch auf die eigentlichen Dinge konzentrieren. Oder bin ich auch so gereizt, um zu überspielen, dass ich ihr längst nicht mehr zuhören kann? Denn wenn wirklich ernste Geschehnisse besprochen, bzw. ausgesprochen werden, gibt es da keinen sensiblen Regulator mehr, der das Zuhören wieder ermöglicht. Das hatte sie damals nicht verstanden, das tut sie heute noch nicht. Kann man Lebendigkeit nicht anders ausleben?

Und so fühle ich mich also beschissen. Mein Körper hat auf die höhere Baclofendosis nicht reagiert. Fast so, als hätte ich nichts eingeworfen. Gestern war ich mir manchmal nicht sicher, ob die Muskelspannung nun nicht doch zu weit runter gefahren wurde. Diese Unsicherheit löste sich in „Wohlgefallen“ auf, als Körperteile anschließend zu krampfen begannen. Ich saß eigentlich den gesamten Tag auf dem Sofa, drang- und tatenlos, und genoss die penetranten Reize. Den linken Arm beinahe unentwegt angewinkelt an den Brustkorb gepresst, da es anders nicht zu ertragen war. Da ist keine Besserung. Nirgends. Auch samstags nach dem Lauf, bei dem die Parese bereits nach 3km zu greifen begann, war da ein massiver Widerstand beim Dehnen. Ist das denn kein erhöhter Muskeltonus? Keine Spastik? Und der linke Arm war nicht nur unangenehm verkrampft, teils war es schmerzhaft. Wieder nur Fragen, keine Antworten. Ich kenne mich eben NICHT besser. Denn ich durfte mich selbst nicht einschätzen, nur plötzlich ist es gewünscht. Psyche hin oder her, die Beschwerden sind unverändert präsent geblieben. Leichte Ausschläge darüber hinaus sind sicherlich auf diese seit Freitagnacht aktive Anspannung zurückzuführen. Aber das Grundgerüst? Noch eine Woche warten, bis sich das Thema aufgelöst hat und man dann sagen sehen wird, was bleibt und was nicht? Ich hätte freitags zu Hause bleiben, mich nicht wieder dieser voraussehbaren Katastrophe aussetzen sollen. Dann wäre es nun einfacher zu entscheiden, was zu tun und was unnötig ist. Und dann ist auch mein Hausarzt wieder im Urlaub und die gesamte Situation gestaltet sich noch komplizierter, als sie es ohnehin bereits ist. Und ich sehe mich selbst, verstehe mich nicht, hasse mich, in allem was mich ausmacht. Mein Erscheinungsbild, Körperteile von mir und jedes noch so überflüssige Wort, welches mein Mund formt. Von Schuld zerfressen, darf es nur Selbsthass geben.


26. August, Dienstag 6:00

Aufgrund des Umstandes, dass sich alles schwieriger gestalten würde mit irgendeinem Vertretungshausarzt, rief ich bereits gestern um halb Neun das erste Mal an. Die Bombe muss in der Neuro eingeschlagen haben, Schwester Hedi klang unwahrscheinlich gereizt. Natürlich bekam ich sofort das Gefühl, ich muss dran schuld sein. „Es sind bereits zwei mit Schubverdacht hier, rufen Sie ab 11 an.“. Zack, aufgelegt. Huhuuu, Eiseskälte umwaberte mein linkes Ohr. Und dann hatte sie mich auch noch gesiezt. Grausig. Ich dachte, was hab ich angestellt. Ist es noch wegen letzter Woche, gab es Anschiss, weil sie mich kommen ließ? In der Firma hatten zumindest die Küchengeräte keinen Strom, also stimmte mit dem Starkstrom etwas nicht, ein Elektriker wurde gerufen, welcher den Hauptschalter für einen Moment aus und anmachte, was zur logischen Folge hatte, dass mein Computer abstürzte und sich nicht mehr hochfahren ließ. Zudem hatte ich seit einer Stunde an einer „Anwesenheitsliste“ für den Gartenbereich gearbeitet und ich konnte nur darauf vertrauen, dass die „Strg + S“ –Fingerbewegung mir mittlerweile so sehr in Mark und Bein übergegangen war, dass ich zuvor noch gespeichert hatte. Ich schlurfte kurz in den Flur, um meinen Unmut kundzutun, anschließend kroch ich unter den Tisch, kämpfte mich durch den gordischen Knoten aus Steckern und Kabeln und bekam die Klapperkiste wieder zum Laufen. Tatsächlich fehlten nur mickrige Details an meiner Arbeit, was mich dem jungen Elektriker wieder wohlgesonnen stimmte. Um Dreiviertel ging ich, kurz nach 10 rannte ich los. Spaß sieht anders aus. Der eine Tag Laufpause hatte verheerende Folgen, bereits der Start stand unter einem schlechten Stern. Ich drehte meine Runde durch Rax, nach 6km saß ich wieder im Auto, das Mobiltelefon in der Hand und wartete darauf, dass die Kirchenglocken 11 Uhr läuteten. Warten und überlegen, was ich sagen werde. Als diese dann fertig waren mit Gebimmel, rief ich nochmals an. Diesmal war Schwester Elisabeth am andren Ende, klang zwar auch gestresst, aber doch etwas milder. Sie beförderte mich in die Warteschleife, im Hintergrund lief in mieser Qualität irgendeine James Last –Schnulze und ich sortierte die Worte in meinem Kopf. Dann war meine Ärztin dran und ihre Stimmlage war von selbiger Qualität, wie bereits bei Schwester Hedi. Aufpassen, dass mir das Ohr nicht abfriert. Da war es wieder, das Gefühl, eine Belastung zu sein, auf die Nerven zu gehen, gar kein Recht auf Behandlung zu haben. Als ob ich jede Woche bei jedem noch so kleinem Ziehen anrufen und sie stundenlang zulabern würde. Was kann ich denn dafür, dass ich seit November eine derart fiese Verschlechterungsfrequenz habe? Standardfragen wurden von Standardfloskeln abgelöst. „Wenn Sie unbedingt möchten, können wir schon…“, usw. und so fort. Was für ein „gefühlvolles“ Gespräch, denn da entstand schon das nächste. „Es ist ja nicht so, dass ich so scharf drauf bin. SO lustig ist das nicht!“, jetzt wurde ich langsam entnervt. „Was meinen Sie, was ich machen soll? Sagen Sie’s mir!“. Sie überlegte kurz: „Die Beschwerden halten nun ohnehin schon seit 10 Tagen an? Da können wir schon (ich konnte diese ganzen „schon“ schon nicht mehr hören) 3 Tage Kortison geben.“. Wie ein Gebrauchtwagenhändler, der von seinem Produkt nicht überzeugt ist und eigentlich im Moment lieber auf einer Insel liegen würde, um die nervigen Nasen seiner Kunden bloß nicht mehr sehen zu müssen. „Ich meine mich zu erinnern, sie kämen immer hier her zur Behandlung.“, ihr Tonfall immer noch grottig. „Was sonst? Mich will doch niemand.“, eine leichte Verbitterung in der Stimme. Heute oder morgen solle ich kommen, besser später als früher, am besten wohl gar nicht, wie? Ist das ein Armutszeugnis für das Krankenhaus, dass der Patient um Behandlung betteln muss? Zahlt meine Krankenkassa nicht ordentlich, oder was ist los? Wie kann ich in meinem Zustand Verständnis für Gestresstheit haben? Wenn eine Differenzierung nicht mal raushörbar ist und klar ist, dass nicht ich Grund für die Verstimmung bin? Irgendwie fühle ich mich zurückkatapultiert an den toten Beziehungspunkt, an dem wir schon mal vor Jahren waren, und ich mir am liebsten ein andres Krankenhaus gesucht hätte. Nicht ganz ohne Hintergedanken und nur der Strecke wegen ließ ich alles in Fürstenfeld machen. Die Sprechstundenhilfe der Vertretungsärztin zu hören, war sodann eine Wohltat und ich gab Bescheid, dass ein Fax kommen würde, über welches sie sich nicht wundern sollten.

Den Nachmittag verbrachte ich damit, bei jedem Brummen vors Haus zu rennen, in der Hoffnung, meine Mutter käme und würde mich erlösen. Und wie oft ich aufs Telefon starrte, auf eingegangene Anrufe hoffend, vermag ich nicht zu zählen. Als sie abends dann tatsächlich anrief, war ich nur noch froh. „Alles war wieder gut!“. Alles Einbildung? Was für ein seltsames System. Aber es war mir egal.

Mittag

Ein verzweifelter, junger Arzt, immer wieder die Frage nach dem: „Geht’s noch?“. „Das, was Ihnen an Sadismus fehlt, hab ich an Masochismus.“. Beim 5 Mal endlich getroffen und dass es nicht tropfte, lag zum Glück am Besteck und nicht am Zugang. Es war ja schlussendlich gratis beim NaCl dabei und: „Einem geschenkten Gaul….“. Angesprochen werden am Flur von der Cousine meiner Mutter, doch ich kenne sie nicht. Unterhalte mich, obwohl mit gar nicht danach ist. In mir ist Schweigen und angestrengtes Nachdenken, ich komme aber zu keinem Schluss. Als ich am Fuße unsres Hohlweges saß, um auf die Rettung zu warten, übermannte mich dieser Widerwille, das ganze Prozedere SCHON WIEDER über mich ergehen zu lassen. Und die Welt um mich rum zerfiel in scharfkantige Scherben, der Glanz verloren, bereit, mich zu verletzen. Ich versuchte, darüber nachzudenken, wie das hier enden könnte. Aber ich kam bis zu einer schwarzen Wand. „Bis hierhin und nicht weiter.“. Früher sterben, später sterben. Alles scheiß egal. Und nun, wo ich hier in mich zusammengesunken hocke, kommen die Erinnerung und die Sehnsucht nach einer Überdosis. Glaube nicht mehr an eine Änderung des Zustandes. Wieder sehe ich mich und mag mich nicht.
Nachmittag

Leichenblass aus dem Krankenhaus zurück...


27. August, Mittwoch 5:20

Willkommen zu Hause –welch vertrauter Satz. Gestern morgens im Bett hatte ich wieder einen dieser Anfälle, nachts vor dem Einschlafen exakt denselben Flashback, nur etwas abgeschwächter. Mein Herz pulsierte nach dem Kortison hörbar in meiner Brust und so konnte ich es auch hören, als es aus einem ohnehin schon schnellen Rhythmus gegen Ende des Anfalls zu rasen begann und mit abklingen dessen beinahe schlagartig wieder beim Ausgangspuls angelangte. Schlafen – es gibt kein Schlafen unter Korison. Und ich wiederhole mich, das kotzt mich an. Der Guten –Morgen –Capuccino plumpst steingleich Schluck für Schluck in meinen sich krümmenden Magen. Seit 4 bin ich wach, seit Dreiviertel auf den wackeligen Beinen. Die Nacht war lang, viel Zeit, nachzudenken. Was ich genau so hasse wie dieses „Nicht ernst genommen fühlen“ ist, wenn man große Ankündigungen macht und mich damit sitzen lässt. „Im Oktober haben sie ja einen Termin, wenn ich mich recht erinnere? Dann machen sie ein neues MRT, damit wir sehen, ob es fortschreitet oder was da passiert. Und dann müssen wir noch mal über die Therapie und das Copaxone sprechen.“. Soso. Das bedeutet im Klartext? Der Impfstoff könnte für meinen im Moment mit Vehemenz voranschreitenden Verlauf zu schwach sein? Darf ich nicht auch mal auf der Sonnenseite sein, mit einer Dauertherapie ohne Nebenwirkungen? Oder will sie mir erneut Endoxan andrehen, was in Bezug auf meine Venen und die Thrombose allein schon der Logik wegen dem Ausschlussverfahren zum Opfer fallen muss.
5:40, es dämmert.

10:30

Ich hänge und mein Gesicht glüht bereits jetzt. Die Stimmung ist immer noch seltsam.

Nachmittag
Wie blass geht noch?

 


28.  August, Donnerstag 4:00

3:38 Uhr, mein inneres Uhrwerk läuft präzise. Der allnächtliche Handgriff aufs Nachtkästen -suchend, tastend und mit tauben Händen erst nicht findend- dann die Eisentablette und den Magenschutz einwerfen. Versuchen, weiter zu schlafen. Es gibt die rote Karte. Zwar rast mein Herz heute nicht mehr, doch die Unruhe und auch meine Blase fordern ihren Tribut. Man sollte schließlich aufs Klo gehen, solange man dazu noch in der Lage ist. Viel Freude kommt nicht auf, als die Waage von 1,5kg mehr berichtet. Scheiß Kortison, ab heute Nachmittag wieder Furosemid und die nächsten Tage damit entwässern. Die Zwangsverordnete Laufpause bereitet „noch“ keine Schwierigkeiten, ich versuche auch nicht darüber nachzudenken, und nachdem ich mir gestern wieder Mal schmerzvoll vor Augen geführt habe, was alles verloren ist und ich nicht mehr kann, will so recht auch keine Vorfreude auf Bewegung aufkommen. Mir entkommen auch nur noch verbitterte Späßchen auf den Fahrten im Rettungswagen, habe nicht vor mich erneut über mich selbst und die aussichtslose Lage lustig zu machen. Bin nicht depressiv, bin „Kortison“. Haha. Noch so viele Stunden vor mir. Mich ächzend daran machen, diese abzustottern…

11:30

Erst fährt die Rettung an unsrer Einfahrt vorbei, weil ich es gewagt hatte nur dieses eine Mal vorm Haus zu warten. Und dann stand ich unten eine Ewigkeit in der Einfahrt rum. Irgendwann kamen sie wieder und blieben auch noch beim falschen Haus stehen. Eine rumpelnde Odysseefahrt begann, eine zweite Patientin musste nach Hause gefahren werden. Irgendwo im Güssinger Umland, über Hügel und gar grausige Kurven. Die Fahrt zog sich magenunfreundlich in die Länge, mir war speiübel. Und so war ich auch nicht in der Lage die Mitfahrt in einem der ominösen „Discobusse“ zu genießen. Das Venendrama sollte auch spätestens heute seine mir doch so wohlbekannte hinterfotzige Fratze zeigen. Die alte Leitung lief nicht mehr. Er versuchte es zweimal sozusagen im Trockenübungsmodus, was bereits zum Scheitern verdammt war. „Ich glaub’, ich bin um 4 noch hier.“, aufmunterndes Grinsen. Dann bekam ich sozusagen das Freizeichen, mich vorzubereiten. Saufen und Schwimmen. 1l Wasser auf Ex und dann rein ins heiße Wasser. Eine der Putzfrauen hing zuvor am Tropf und wurde soeben fertig. Der Spiegel war schon kein Spiegel mehr, und ich gab ihr den guten Rat, die Leitung abzudrehen, bevor Luft in die Leitung käme. Sie kam ja auch nicht vom Fleck und machte nicht ausreichend auf sich aufmerksam. Und als hätte ich nach dem Regler gegriffen, begann sie wie wild um sich zu fuchteln und garte mich hysterisch und panisch an: „Nein! Nein! Nix da drehen. Nicht angreifen!!!“. Ich versuchte mich noch kurz zu erklären, ehe ich ihr kopfschüttelnd den Rücken zudrehte und sozusagen im heißen Waschbecken abtauchte. Ja ja, das Krankenhaus ist voll gestopft mit seltsamen und geistig verwirrten Putz- und Hilfskräften. Ihr Pech. Dann lag ich auf dem Behandlungstisch, er hatte sich Verstärkung besorgt und mir drohte eine Synchronstechung: „Aber ich hab doch nur zwei Arme.“. Das war nun schon eine Frage der Ehre und er fand sogar eine kapitale Vene. „Möchten Sie die nicht mit nach Hause nehmen? Aufheben?“. Ein bettelnder Blick, und ich versprach mehrmals, morgen nicht mehr zu kommen. Kaum war sein Kittelzipfel um die Ecke verschwunden, begann das Kortison wieder an andrer Stelle auszutreten. Schwester Elisabeth verfiel in ein verzweifeltes Lachen und fragte nur noch, ob man denn nun noch lachen darf oder in Tränen ausbrechen müsste. Sie nahm den Hörer und hielt ihn mir entgegen: „Jetzt rufen Sie ihn aber an!“. Ich winkte lachend ab und soe gab ihm nur Bescheid, dass eine Blutabnahme bei einem neuen Patienten anstünde. Und als er hinten um die Ecke bog und mich erspähte, war da nur noch eine für sich sprechende Gesichtsentgleisung. „Hassen Sie mich mittlerweile?“. ZUM GLÜCK war lediglich die Leitung nicht richtig angeschlossen und ich verkrümelte mich wieder, vorsorglich direkt vors Aufnahmepult. Bevor er sich aus dem Staub machte, fragte Elisabeth noch: „Sie kommen morgen eh wieder?“, von einer normalen 5 Tage-Stoßtherapie ausgehend und man sah ihn nur zusammenzucken. Bin Stoff seiner zukünftigen Alpträume, wie? Bestätigte er mir doch, sein schlimmster Fall zu sein, was mich zumindest etwas mit Stolz erfüllte. Es läuft zu schnell, aber das ist mir mittlerweile scheiß egal. Genauso wie der Umstand, dass es brennt. Egal, nur weg hier. Nach 45 min fertig. Nun aber weg! Und vorher auf’s Klo!

Abend
Schöne Grüße aus dem Krankenhaus...


29. August, Freitagvormittag
Anruf aus der Praxis der Vertretung: Zitat vom Zitat: „Die Transportübernahme wurde abgelehnt, sie hätte ein öffentliches Verkehrsmittel mit Begleitung nutzen können!“. Ich lach’ mich scheckig!

Mittag

Es wagen, die Glotze anzuschmeißen. Ah, Einkaufsliste, Zykluskalender als Funktionen in Frauenhandys –was für ein Stuss, was frau alles braucht. Wie lange ich das ertrage? RTL ist dermaßen stulle, mir wird schlecht. Und da lichtet sich der Nebel im Hirn: Hatte die Krankenkasse nicht bereits zuletzt nicht bewilligt, bis ich einen aktuellen Befund nachreichte in dem ersichtlich war, dass ich nicht gehen konnte und eine Kortisontherapie durchgeführt wurde? Da ein aktuelles Schreiben aber erst montags in die Wege geleitet werden kann, wird das ja noch dauern. Mir ist ohnehin schon schlecht.

Nacht
Am Abgrund stehen, hinabblicken in all das scheinbar vertraute Schwarz, mich fragen, warum ich am Leben bleibe, wenn mir doch das gute Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, den Rücken „stärkt“. Irgendwo in irgendeiner Brusttasche wird sich immer noch ein kleiner Stempel finden lassen, mit dem die eigene Überheblichkeit noch abgesegnet werden kann.


 

30. August, Samstagmorgen

Das Gefühl im linken Arm ist heute noch penetranter als vor der Stoßtherapie. „Na, wenn das nun nicht die Psyche ist!“. Auf die Idee, das Phänomen mit dem viel zu anstrengenden Einkauf gestern in Verbindung zu bringen, kann auch nur ich kommen, wie? So einfältig von mir. Kann mich heute selbst nicht riechen: „Mädel, du stinkst!“. Fühlen muss ich mich leider und die gesamte Nacht hab ich damit zugebracht, alle 20 Minuten auf den Wecker zu sehen, um dann wieder einzuschlafen. Ja, eine lange Nacht.

Mittag

Ich fühle mich scheiße und unendlich schwach. Aber mir kribbelt es in den Füßen. Laufen?


 

31. August, Sonntagvormittag

Ich wackelte unsren steinigen Hohlweg runter, wackelte sogar als ich stehen blieb, um die Pulsuhr anzuwerfen. Das Gefühl in den Beinen war wie immer nicht sonderlich vertrauenswürdig, aber ich machte sozusagen einen Hechtsprung ins Ungewisse und dackelte einfach drauf los. Die Entwässerungstablette zwang mich auch relativ schnell zur Kehrtwende, aber 2,2km sind doch schon ein guter Anfang. Spätnachmittags im Supermarkt vor der Krabbelkiste stehen –es gibt wieder Laufsachen- und mich fragen, ob die Investition sich überhaupt noch lohnt. Aber nicht mal 10€ für ein Laufhemd? Was sind schon 10€. Hm, viel, wenn die Krankenkasse den Transportschein nicht bewilligt… Abends sah ich mich allein mit dem Problem konfrontiert, wie ich die Copaxoneinjektion in den linken Oberarm bekomme. Sebastian „durfte“ immer noch auf der Garagenbaustelle meines Vaters mithelfen. Klar, ich hätte auch den Bauch oder eine andre Stelle wählen können, das hätte aber die Reihenfolge durcheinander gebracht. Letztendlich jagte ich mir die Lösung mehr als unfreundlich direkt in den Muskel und es ging mir noch gut eine Stunde danach total beschissen. Herzrasen, starke Übelkeit, ein pochender Schmerz an der Einstichstelle und der Arm nicht mehr zu bewegen. Kotz!
Und nun? Das Frühstück war scheiße, denn alles schmeckt scheiße. Egal, im Moment gibt es für mich nur ein Ziel: Rein in den neuen Sport-BH und das Laufhemd. Besserung der Symptome? Das Gangbild vielleicht ein wenig verbessert, aber der linke Arm streikt erst recht. Den brauche ich aber nicht zum Laufen!


 

1. September 2008, Montag 8:00

Gefühlte 20 Mal musste ich mich umziehen. Wie kann man sich nur so unwohl fühlen? Auch jetzt ertrage ich mein Spiegelbild am Bildschirm nicht, noch darf ich an mir runter sehen. Fettes Schwein!!! Dabei ist die Waage gnädig, dabei haben die Entwässerungstabletten ganze Arbeit geleistet. Und als wir dann endlich im Wagen meiner Eltern saßen, endlich auf dem Weg in die Gaststätte waren, versuchte ich mir einzureden, nun die richtige Klamottenwahl getroffen zu haben. Meine Mutter drehte sich ständig um, um mir etwas zu erzählen und ich vermochte nicht mal ihr zuzuhören, geschweige denn beim Scheitern daran sie anzusehen. War es ein Fehler? Mein Vater hätte vermutlich auf seine Geburtstagsfeier gut und gern verzichtet. Da waren sie, diese bemitleidenden Blicke, diese grabschenden Hände, die einen doch nur stützen wollen. Die Kreuz- und Querkonversationen wurden mir noch vor ordnungsgemäßer Inbetriebnahme zu viel. Ab und an versuchte ich etwas zu sagen, doch mir blieb die Luft weg, wenn sich parallel dazu unterhalten wurde. Atemlos und wortlos. In mich gesunken, sah ich das Bild einer lebendigen Landschaft und inmitten all dessen eine graue Ruine. Jetzt erst wurde mir der Kontrast, den ich zum Rest meiner Familie abgebe, bewusst. Wie sehr ich im Laufe der Zeit verblasst bin. Tat ich mir selbst für einen Augenblick leid? Oder war nur erschrocken, weil es mir selbst noch nicht so drastisch aufgefallen war? War da Wehmut? Nicht daran denken, wie es sein könnte, wäre ich gesund. Mich nur fragen, warum ich noch hier bin. Wie wird das Bild in einem Jahr aussehen, wie in zwei? Sah mich still um und erkannte den Tod, erneut in meiner kleinsten Nichte, und es tat weh. So viele Fragen, so viele Gedanken rasten durch meinen Schädel.
Der erste und nicht der letzte Anruf an diesem Tag: Mich krank melden. Ich ertrage nicht mal meine eigene Stimme. So durcheinander; von geistiger Klarheit kann nicht die Rede sein. Meine Gedanken veranstalten eine Hetzjagd und die daraus resultierenden Gefühle sind nicht von bester Qualität. Schöne Grüße vom Herbst. Die Gedanken rasen und ich keuche, in Bewegungslosigkeit verharrend. Atemlos und Schweißausbrüche. Ich stinke erneut zum Himmel, muss mich vor dem Lauf wohl nochmals umziehen. Tja, der Lauf. Der gestrige war deprimierend. Mir ist irgendwo zwischen all den Schüben und Kortisonbehandlungen das Attribut „unerschütterlich“ verloren gegangen. Die Hoffnung ist tot. Meinten doch meine Sommernachbarinnen unterwegs auf der Straße, ich sei so unglaublich stark. Ich musste darüber nachdenken, wie es ist, nur für den Tag zu leben. Und kam irgendwie zu keinem Schluss, verlor mich lediglich in Erinnerungen. Bin auch viel zu schwach, um klitzekleine Fortschritte erkennen und würdigen zu können. Also steht heute der dritte Versuch an. Bin nicht gespannt, zergehe nicht in freudiger Erwartung. Wo nicht gehofft wird, gibt es auch keine Erwartungshaltung. Vielleicht ist aber genau das jenes ominöse „für den Tag leben“. Hoffe nicht, dass er besser wird. Kann also nicht enttäuscht werden. Keine Erwartung, auf die ich mich stütze, welche sodann unter mir zusammenbrechen könnte. Ist doch alles wunderbar! Kotz! Bekomme jetzt schon keine Luft, obwohl die Terrassentür zu meiner Rechten sperrangelweit offen ist und erkältungsfreundlich kühle Luft in den Raum zieht. Ich und stark… Bin ich denn mittlerweile nicht mehr als ein verbitterter Griesgram? Und ich musste daran denken, dass ich vielleicht doch nicht sterben will, nun aber mein Dachschaden für mich persönlich ein Weiterleben, auf lange Sicht gesehen, unmöglich macht? Der Herbst kommt, die Gedanken werden erneut klarer werden. Obwohl es doch irgendwie skurril erscheint, dass die Krankheit mich so sehr beschäftigt und somit keinen Raum für meine Urängste mehr lässt. KAUDERWELSCH! Und noch dazu jedes Mal der SELBE!!! Kortisontherapie –Eine Kreuzfahrt mit Programmheft. Ich lach mich tot!

Zweiter Anruf. Transportschein und Krankenkasse hoffentlich erledigt. Weiter schwitzen. Die sprichwörtliche Suppe läuft mir den Rücken runter. Wie soll man sich selbst so leiden können?


 

2. September, Dienstag 8:30

Der Gottmodus, ein Extrafeature der Kortisontherapie. Erwähnenswert. War er es doch, der mich nach der Chemotherapie immer zu Monsterläufen befähigte. Gepaart mit Unruhe entsteht eine grenzwertige Grauzone zwischen Vernunft und Wahnsinn. Schwerpunkt auf Wahnsinn; mich in diesem Zustand zu überfordern ist ohne Frage bescheuert. Und tue es dennoch. Die Gangbildstörung hatte sich gelegt, als hätte es sie nie gegeben. Und ich hatte mich sogar kurz von dem „Alles nur Einbildung –Virus“ infizieren lassen, sagte zu mir selbst: „Reiß dich zusammen!“, und: „Vielleicht bist du so schlampig gegangen, weil du nur dachtest, es ginge nicht mehr anders?“. Doch die Erfahrung und auch meine Vernunft sagen mir, dass diesem Zustand nicht zu trauen ist. Ein Hirngespinst, dieses sagenumwobene „Sich besser fühlen“ nach dem Kortison. Ein kurzer Höhenflug, ehe es wieder polternd in den Keller geht, ein kurzer Blick in den „Himmel“, ehe sich die Balken wieder vor deiner Nase knallend schließen. Ja ja, wir kennen das ja alles. Und wagen immer wieder aufs Neue zu hoffen. Echt oder nicht, scheiß egal. Ausnutzen lautet die Devise. Ziegelsteine und große Blumentöpfe schleppen, Blumenerde schippen, Schubkarren fahren. Lediglich der linke Arm erinnert mich daran, was oder wer ich bin. Und natürlich die Schwäche und der Schwindel, mit kurzen Pausen jedoch einigermaßen beherrschbar. Tatsächlich sieht es im Moment so aus, als könnte ich das linke Bein wieder mehr heben. Doch die Schwäche im Arm bleibt. Beim Haaremachen komme ich mir vor wie Popeye auf Spinatentzug, und dann so deplazierte Sprüche zu klopfen wie: „Ja, aber Sie sind doch eh Rechtshänder.“? Danke. Teils merke ich nicht mal mehr, wie massiv sich diese Hemiparese auf meinen Alltag auswirkt, unbewusst entstehen Bewältigungsstrategien und Kniffe, welche mir nur manchmal auffallen. Das linke Bein mit den Händen leicht beim Einsteigen ins Auto zu hieven, ist zu einer unbewussten Bewegung geworden. Genauso wie das Hochheben, zum Beispiel beim Socken oder Schuhe Anziehen, um die Beine zu überschlagen. Oder mit der linken Hand nichts mehr heben. Allmählich, je häufiger mir diese Ausweichmanöver bewusst werden, frage ich mich, ob ich mich so nicht Schritt für Schritt unterfordere. Was ist schon richtig, was falsch? Genauso verwirrend ist der Umgang mit dem Begriff Parese. Mal ist es eine, mal wieder nicht. Ich für mich habe beschlossen, dass es eine ist, denn eine andre Definition lässt sich nicht finden. Und um „nur“ Empfindungsstörung zu sein, ist die linke Körperseite einfach auch noch zu schwach, zu stark ermüdbar.
Lange Rede, kurzer Sinn. Im Gottmodus sehe ich es jedes Mal als meine Berufung, irgendetwas zu verändern, denn irgendetwas wird mich in diesem getriebenen Zustand immer stören und mir schmerzend in Auge stechen. Im Winter war es das Atelier, jetzt ist es der Garten. Da Fine und Martha mein Kräuterbeet vor der Terrasse als Katzenklo und Vorratskammer nutzten, und somit mehr Gebrauch als ich dafür hatten, begann ich es einfach aufzulösen. Diese fiesen Quecken hatten sich bereits die gute Erde erobert, und außer Schnittlauch wohnte auch kein andres Kraut mehr in dem Beet. Also weg damit, Platz schaffen, vielleicht einen Strauch dorthin oder Himbeeren? Die Ziegelsteinumrandung schleppte ich zum Teich, um diesen damit einzufassen. Sieht scheiße aus, der Boden ist zu uneben. Die Erde landete im neuen Hochbeet. Ich erklomm sogar das erste Plateau, rupfte eine armselige Föhre aus, stolperte über Ausläufer des Sanddorns, die ich ebenfalls gleich einkassierte, und verpflanzte alles in die übrig gebliebenen Töpfe, welche nun die Terrassenumrandung ergänzen. Und  ich wuselte und machte und tat und war längst nicht mehr in der Lage, aufzuhören, geschweige denn mich nur für 5 Minuten hinzusetzen. Teils schmerzten die Beine, die Muskulatur fies verkrampft, aber es lief doch so gut. Zufrieden bin ich mit meinem Schaffen nicht. Dann kam der Heißluftballon über den abendlichen Himmel geschwebt, ich musste mich zwangsläufig an `98 erinnern, und die Laune war dahin. Um 5 griff ich im Halbschlaf aufs Nachtkästchen, auf der Suche nach meiner Eisentablette. Suchte und fand sie nicht. Es klackerte, doch ich spürte nichts. Sie lag längst unter meiner Handfläche und ich schob sie hin und her, doch kein Reiz, kein Gefühl. Taub. Musste erst die Augen öffnen, um sie ausmachen zu können. Heute noch frei, und morgen zur Arbeit? Es zumindest versuchen? Ich befürchte, nicht aufnahmefähig zu sein, hab Angst davor, all zu schnell der Überforderung zum Opfer zu fallen. Und das Gefühl in der linken Hand ist nicht besonders bürofreundlich. Wieder dieselben Handgriffe, dieses monotone Rumgeblättere, welches all zu schnell in penetranten Missempfindungen endet.

Und nun muss ich mich nur noch fragen, ob mir Himmelblau überhaupt steht, oder ob es gar aufträgt?

 


 

3. September, Mittwoch 6.00

Nebel. Auch in meinem Kopf. Ich stehe auf, der Tag bricht an. Zeternde Meisen in den Jungerlen und dazwischen betäubte Stille. Der Gottmodus wird zum Etikettenschwindel. Ich rannte also los, in einem 4er Takt bewusst atmend, das Seitenstechen vom Tag zuvor blieb aus. Der Lauf begann mit Unsicherheiten, um dann bereits nach 3 wieder in diesen zu enden. Ein kurzer Stopp im ersten Supermarkt, dann 400m gehen mit dem Einkaufsbeutel in der Hand. Mich selbst nachäffen: „Das Gehen funktioniert wieder!“. Vielleicht die ersten 100 mit viel Kraftaufwand? Dann wurde das Bein schwach, darauf wie gelähmt um es am Ende leicht nachzuschleifen und wüst zu humpeln. 400m –Da ist doch gar nicht so viel Raum für ein derartig mannigfaltiges Spektakel? Die Muskulatur verkrampfte sich unangenehm, ich musste wieder über „Spastik –ja oder nein?“ nachdenken, und der restliche Lauf war somit ohnehin schon verloren. „Mensch bin ich froh, dass alles beim Alten geblieben ist!“, das ist doch das, was sie im Krankenhaus von mir hören wollen, oder? Damit ihre Einschätzung meiner Person ENDLICH ein Fundament bekommt! Ich lief, das linke Bein stellte sich quer, die linke Wade steinhart und stolperte mehrmals Filmreif. Die Straßen voll mit Schülern, die teils nicht willens sind auszuweichen. Ein Horrortrip, ich wurde schon paranoid, fühlte mich beobachtet. Am Ende musste ich in einer Seitengasse innehalten, wusste nicht mehr, ob ich danach noch überhaupt einen Schritt tun kann und hätte am liebsten geheult. „Ach was, da ist doch keine Parese!“. Zudem rannte ich dem Gartentrupp meiner Firma über den Weg und ich konnte mir das Getuschel schon ausmalen. Drum sitz ich nun hier, bereit für die Arbeit, obwohl ich nicht mal weiß, ob ich überhaupt aufnahmefähig bin, geschweige denn in der Lage, Auto zu fahren. Notfalls kopiere ich die Stundenlisten, deren Daten ich auch zu Hause auf der Internetplattform eintragen kann und fahre wieder, bevor ich nur noch doppelt sehe oder komplett zusammenkrache. Abends „durfte“ auch ich mich von Oliver Kahn verabschieden, das linke Bein zappelte und wenn es schon „restless legs“ gibt, warum dann nicht auch einen „restless arm“? Ein tolles Gefühl, als würde sich dieser verkrampfen und die Hand eine Kralle formen. Das Vokabel „Feinmotorik“ längst verlernt.

In der Frische des noch jungen Tages kotzend auf der Wiese stehen. Besser kann man den Tag doch gar nicht beginnen, oder?

Nachmittag

Es macht alles keinen Sinn. Ein gefühltes Nichts in mir. Ein kurzes Gespräch mit meiner Mutter vor unsrer Haustür. Irgendwie hat sie keine Ahnung, keinen Plan davon, welche Tragweite die Verschlechterungen jetzt für mein weiteres Leben haben. Warum denkt keiner so weit, nur ich versuche es? Irgendwie erscheint auch alles so harmlos, so unwichtig, und obwohl sie mich in der Kritik an meiner Ärztin bestätigt, fühlt es sich nicht gut an. Leere Seifenblase. Warten darauf, dass sie platzt?

Abend

Feststecken und mir tausend Fragen stellen. Hänge irgendwie immer noch im Nichts. Hätte die Klinge etwas daran geändert?

 

 

Es wird sich nichts mehr ändern, drum schließe ich ab.


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