VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2008

 

1. Juni 2008, Sonntagvormittag

Als ich loslief hatte ich das Gefühl, dass auch das Laufen sinnlos ist, so wie zu essen. Ich rannte die Straße runter und dachte über so viele Dinge nach. Ist es auch aus dem Grund, nie konstant lieben zu können, besser, kein Kind zu bekommen? Könnte mir niemals verzeihen ein Kind nicht immer gleich stark zu lieben, nur aufgrund meiner Stimmungsschwankungen. Bin doch mehr Borderliner als sich auf den ersten Blick erkennen lässt und tatsächlich nicht in der Lage Menschen um mich rum konstant zu mögen, geschweige denn gleich zu bewerten. Vielleicht sind all die Symptome und Auffälligkeiten kaschiert durch den Umstand, im Gasthaus groß geworden zu sein und Funktionieren sozusagen oberstes Prinzip war und schon fast wie eine falsche Religion unterschwellig indoktriniert wurde. Vielleicht ist das der Grund, warum alles eigentlich in mir, in meinem Kopf bleibt und nicht nach draußen darf. Und das Chaos im Kopf noch undurchsichtiger wirkt. Ich rannte über Straßen durch mächtige, grüne Kathedralen, die bedeckt waren mit weißen Akazienblüten wie nach einer prächtigen Prozession. Und als ich hinaustrat ins gleißende Licht, konnte ich für einen Augenblick das Leben fühlen und dann die Last, die es mit sich bringt. Schiebe ich den Rollstuhl vor mir her oder ist er mir immer dicht auf den Fersen? Ich sah meine Füße und erkannte mich nicht. Sah meinen Schatten, den ich beim Laufen vor mir hertrieb, und hasste mich. Scheinbar nicht im Hier und Jetzt, sondern irgendwo anders, wo es nicht unbedingt schöner ist. Gefangen in mir selbst.

Mittag

Ununterbrochen Sachen fallen lassen, was beim Wäscheaufhängen besonders gut kommt. Das Thermometer schreit, vor einer Stunde 45,1°C, eine neue Bestmarke. Ich will gar nicht wissen welche Werte es ausspucken würde, wäre es auf der Südseite des Hauses angebracht. Die Katzen kommen zur offenen Terrassentür herein um auf den kühlen Terracottafliesen förmlich zusammenzubrechen. Mit halbgeschlossenen Augen werde ich sodann angemauzt, als ob ich etwas für das Wetter könnte. 30°C im Schatten und ich hadere mit mir ob es überhaupt einen Sinn macht, etwas zu kochen, geschweige denn es zu essen. Profitabler hingegen erscheint der Plan die Mappe mit den Beipackzetteln zu durchforsten, auf der Suche nach einem Medikament, das in Wechselwirkung mit dem Heparin zu meinen Gunsten wirkt. Es wäre mir mittlerweile auch scheißegal, wenn es nicht förderlich wäre, es ohne medizinische Indikation zu schlucken. Es ist egal, ich bin egal. Doch mir dämmert: „Das hast du aber schon…“.

 

Jetzt weiß ich, warum es widersinnig erscheint für mich allein zu kochen und zu essen. Ich bin es einfach nicht wert, umsorgt zu werden, warum also sollte ich mich um mich selbst kümmern, mir gut tun? Ich umsorge Sebastian, er ist es wert und so macht es auch Sinn, aber nicht für mich. Ich laufe für gewöhnlich nur nebenher mit.

Abend

Nach dem Mittagessen mit meinem Hemd beginnen und abends, als meine Mutter vorbeikommt, fertig werden. Wir fuhren zu ihr nach Hause um dort noch ein wenig spazieren zu gehen, obwohl es letztendlich meinerseits weit davon entfernt war. Ich hatte ordentlich damit zu tun einen Fuß vor den andren setzen zu können, auch meine Hände versagten als ich meine Haare öffnete um einen neuen Haarknoten zu machen. Meine Mutter meinte entsetzt: „Hast du schon wieder so einen schlimmen Schub?“. Entweder halte ich mich wirklich so perfekt bedeckt, dass nichts nach außen dringt, oder mir wurde erneut nicht zugehört. „Das ist normal. Gut, seit einem Jahr ist das normal.“. Sie war nicht minder entsetzt. Kaschiere ich für gewöhnlich so gut oder habe ich mich mittlerweile vakuumdicht abgegrenzt? Zuvor sprudelte es nur so aus ihr heraus, doch nach diesem Wortwechsel schwieg sie. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass ihre Lebendigkeit versiegt. Wieder kommen die Tränen, wieder die Angst vor dem Verlust, vor dem Tod. Und es bleibt nur noch die Frage, ob ich heute noch etwas Großes vorhabe…

 

Es war alles umsonst. ALLES UMSONST!!!! Ich kann nicht mehr…


 

2. Juni, Montag 6:00

Der Turmfalke zieht über den von Wolken bedeckten Himmel. Eine Stunde oder mehr hing ich da über das rosa Frotteehandtuch gebeugt und blutete. Und sobald die ersten 15 Quellen zu versiegen begannen, kochendheißes Wasser über den Arm laufen lassen und neue 15 Stück in die Haut meißeln. Und so ging das eine Stunde lang. Ich sagte zu mir selbst: „So feige bist du doch gar nicht!“, doch die Klinge sank einfach nicht tiefer und es wurde mit jedem Schnitt mehr auch nicht besser, das Werkzeug nur stumpfer, klaffende Wunden blieben Wunschtraum. Als ich im Bett lag hielt ich es nicht lange aus und stand nochmals auf, holte die Büchse und verletzte mich nochmals. Dann kam das Unwetter. Das Monster war losgezogen um mich zu suchen, in rasender Wut wälzte es sich über den Himmel und brüllte mit ohrenbetäubender Macht, sodass bei jedem Donner die Fensterscheiben vibrierten. Mein Vater kroch gestern Abend förmlich an mich ran und meinte, ob ich denn keine Angst vor dem aufziehenden Gewitter hätte und ich solle doch wieder im 1. Stock einziehen. Was war das? Macht er sich Sorgen? Ist das wirklich er selbst? „Klar, wenn du mich die Treppe hoch und wieder runter trägst.“. Wie seltsam. Er sinkt immer mehr in sich zusammen, wird noch kleiner, noch schmächtiger, merkt sich nichts mehr, hört sehr schlecht. Er ist immer verunsicherter. Und ich dachte, vielleicht hat er eine Borderline Störung. Er hat das, was er offensichtlich am meisten liebt, IMMER mit Füßen getreten. Und irgendwie tut er es jetzt noch und ich habe scheinbar den „Mitleidsbonus“? Oder sieht er sich selbst in mir, da wir uns so ähnlich sind?

Ich konnte nicht schlafen, auch aus Angst, dass heute alles vergebens scheinen würde. Hat wenigstens sie sich gelohnt. Hübsche, lila Striche. Mehr nicht. Wie kann ich die Gerinnung besiegen? Beim Zähneputzen sprang mir förmlich die Packung Grippebrause in der Medikamentenkiste ins Auge. Klar, Paracetamol und Ascorbinsäure. Aspirin wäre wohl dennoch effektiver. Oder in Jennersdorf in der Apotheke eine Lüge aus dem Ärmel leiern, dass ich das Medikament für jemand anders besorgen sollte? Bei den Mengen an Geld, die ich allein wöchentlich für Arzneimittel ausgeben „muss“, fällt das auch nicht mehr ins Gewicht. Morgens Heparin und dann zwei Aspro hinterher. Klingt vielversprechend. ,,...da die gerinnungshemmende Wirkung bis etwa 7 Tage nach der letzten Einnahme anhält und damit Blutungen begünstigt!". Bin ich schlecht deswegen? Es tut mir leid. Aber ich kann mich nicht mehr spüren, kann

nicht weinen…

7:45

Als ob der Morgen nicht schon mit genügend vernichtenden Gedanken begonnen hätte. Schaffe ich es noch beim Ausparken aus dem Carport gegen die Holzpalisaden zu fahren. Ein hübscher grüner Lackfleck auf dem blauen Auto meiner Eltern. Toll! Bin geladen wie eine Waffe; wahrscheinlich nur, um zu kaschieren dass mir doch nur noch nach Heulen ist. Ich habe das Bedürfnis es jetzt gleich zu beichten, aber das geht nicht. Wovor habe ich Angst? Sinke zurück in den Status „kleines, ängstliches Kind“, das ohnehin alles absichtlich macht. Reiß dich zusammen!!! Mir ist schlecht und ich wünschte mir meine Klingen wären hier.

Abend

Sebastian rief an. War ich abweisend, kalt? Wie sollte ich mich auch benehmen nach all dem, was passiert war bzw. noch passieren wird? Bereits in der Arbeit angekommen blockierte ich jedes Lächeln, jede noch so freundliche Geste mit einer versteinerten Miene. Versteinert, um nicht in Tränen auszubrechen. Und die Leute, die es doch gewohnt waren, dass ich immer eine spontane und witzige Bemerkung auf den Lippen habe, waren überfordert, erschrocken, als seien sie soeben mit 100 gegen eine Wand geprallt. Mieke wollte irgendetwas wissen, ich verstand nicht und sah sie mit einem zerstörten Blick an, sodass sie fragen musste: „Geht es dir nicht gut?“. Ein ernstes „Nein!“ beendete das aufkeimende Gespräch. Zu Mittag füllte sich das Büro und auch die Tür zum Flur war weit offen und ließ auch noch den Pausenlärm der Klienten in den kleinen Raum fluten. Ich sah zu, dass ich fertig wurde und endlich abhauen konnte. Zu Hause angekommen, sah ich den Abholschein von der Post zwischen Tür und Rahmen klemmen und der Tagesplan war klar. Ein böses Unwetter zog auf als ich in Laufsachen ins Auto stieg und nach Jennersdorf fuhr. Mein Tee war da und auch die Dame am Schalter drückte sich die Nase am hübsch verpackten Karton platt, es duftete herrlich. Als ich die Filiale verließ schleuderte der Himmel förmlich golfballgroße Regentropfen vom Himmel, ich stieg ins Auto, fuhr los, doch die Scheiben beschlugen komplett, zudem war auch wegen dem Regen und Hagel nichts mehr zu sehen und ich musste 50m weiter wieder rechts ran fahren. Der Himmel hatte wohl was gegen meine Pläne. Verhindern, dass ich ans Ziel gelange? Und da stand ich dann, eine Ewigkeit, und wartete und überlegte. Irgendwann gab’s wieder klare Sicht und ich konnte endlich das tun, was ich längst tun hätte sollen. Als ich aus der Regenwand sozusagen in die Apotheke trat, schmunzelte sogar die Apothekerin, welche für gewöhnlich immer so sehr darauf bedacht ist, Fassung zu wahren und dabei immer sehr kühl und unsymphatisch wirkt. „Sie ziehen das wirklich konsequent durch…“. Gemeint war das Laufen, noch dazu bei diesem Wetter. Und ich dachte nur: „Konsequent bis wahnsinnig…“. „Aspirin sollte ich mitbringen.“, mehr Lüge war nicht von Nöten, fühle mich nur etwas schuldig. „Passen sie nur auf, dass der Blitz nicht einschlägt!“. „Na und? Dann gibt’s Brathuhn.“, ein falsches Lächeln, dass sofort starb als ich ihr den Rücken zukehrte. Als ich dann zurück in den strömenden Regen ging und die Packung auf den Rücksitz des Autos warf, musste ich beinahe diabolisch grinsen. Abschließen und losrennen. Es donnerte, es schüttete. Bei jedem massiven Blitz sah ich gen Himmel und fluchte: „Na los, erschlag mich schon!“. Nichts. „Zu feige, wie?“. Ich drehte meine Runden, schloss den Lauf wie eigentlich immer mit der Lähmung im linken Bein und einer massiven Gangbildstörung ab, setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause. Erst duschte ich noch, doch dann warf ich endlich die Tablette ein. Und jetzt habe ich die Befürchtung, dass ich mir zu viel davon versprechen könnte. Und dann soll ich am Telefon lebendig und fröhlich sein? Oder ihn belügen? Was denkt er sich? „Ohweh, ich mag gar nicht nach Hause fahren.“. Bin ich egal? Egozentrische Schlampe!!! Ich habe gesagt, er soll nicht anrufen, die Tage in der alten Heimat genießen und bloß nicht an mich denken. Bin ich egal, wenn es mir schlecht geht und nur von Belang, wenn ich funktioniere? Die Beobachtungen meines Umfeldes scheinen diese Theorie zu untermauern. Ratio hin oder her. Ich habe über ein Abendessen nachgedacht, doch Essen ist immer noch bedeutungslos. Scheiße, der Regen und das klatschnass aufliegende Laufhemd haben die Spuren der Schlacht verwischt. Einen schönen Nebeneffekt hat der Missbrauch: Die Kopfschmerzen sind weg. Und ich muss mir eingestehen, dass ich, wäre ich an Sebastians Stelle, wohl auch täglich anrufen würde.

Mir zum festlichen Anlass eine neue Klinge gönnen? Wie ein kleines Kind vor Aufregung zitternd die neue Packung öffnen? Auch wenn ich es vom Rest des Tages nicht sagen kann, aber diese Vorstellung klingt schön…

 

Ernüchternd, enttäuschend, frustrierend. Zumindest die neue Klinge hielt, was sie versprach War es viel Blut? Wie definiert man „viel“? In mich zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Hab ich zu lange gewartet? Es zu lange hinausgezögert? 1000 Gründe und keine Antwort. Ich würde die Betäubung voll auskosten, wenn sich die Wunden nicht schon wieder geschlossen hätten. Ich bin wirklich scheiße! Dann ruft meine Mutter an. Alles kaputt. Kann es überhaupt reichen oder nochmals?

Betäubtes Schweigen in mir und massive Schwäche. Und mein Ziel doch nicht erreicht…


 

3. Juni, Dienstag 5:30

Was für ein Bild muss ich abgeben? Grenzgang zwischen Psychose und Neurose –sieht das so aus? Immer noch betäubt oder einfach nur müde, die Arme zerkratzt, überall klebt Blut. Es riecht auch danach und nach dem Schmieröl der Klingen. Darin, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, bin ich Meister und der Gefühlscocktail gestern beim Telefonat mit meiner Liebe, ist fast unbeschreiblich. Eine Bandbreite von Eifersucht bis Ablehnung. Gut, dass Männer in solchen Dingen oft etwas einfacher gestrickt sind und vielleicht hat er’s nicht bemerkt. Dennoch sitze ich erneut hier mit meinem Werkzeug. Um mich zu bestrafen? Oder um einfach auszuprobieren, ob es denn jetzt eine Wechselwirkung gibt. Doch Martha liegt hinter mir auf dem Stuhl und drängt mich auf die Kante dessen, kringelt sich wie ein Regenwurm auf Landgang, nur um berührt zu werden. „Lasst mich doch allein, einfach allein!“. Doch sie runter werfen und so von mir zu stoßen, das vermag ich nicht. Sie drückt ihr Köpfchen hingebungsvoll gegen meinen breiten Hintern, der heute weniger wiegt. Ich konnte wirklich nicht essen, und tat es dann auch nicht der Gewohnheit wegen. Man kann es auch nicht mal Hungern schimpfen, da es keinen Hunger gab. Nur Leben braucht Nahrung, ich muss tot sein. Mit 14 Schnitten über den Pulsadern mein Glück versuchen, und Scheitern finden. Das Blut ist einfach nicht dünn zu bekommen. Gebe ich auf? Oder lasse mir noch ganz andre Dinge einfallen? Irgendeinen guten Trottel finden, der mich von Heparin auf Marcomar umstellt? Einen Unschuldigen in meine Scheiße mit reinreiten? 14 Schnitte für Nichts und mein Schädel beginnt zu dröhnen. Kopfschmerz bis Migräne, mein neues, altes Hobby. Martha samt Stuhl zur Seite schieben und einen andren daneben, auf dem ich wieder Platz nehmen darf. Vermutlich ist mein Kleid am Rücken voll mit „Marthahaari“. Ich habe die Tage, die Sebastian nun weg ist, feststellen müssen, dass ich ihn gar nicht mehr kenne. Vermutlich geht es ihm ähnlich, bei all dem Schweigen. Dann steht das Täubchen vor der Tür, sie begrüßt mich mit einem gurrenden „Brrt?“ und während ich sie reinlasse, macht sich Martha auch noch auf dem zweiten Stuhl breit. Ich greife zum letzten, sinnvollen Mittel um sie zu vergraulen: Die Ohrentropfen. Und schon bin ich wieder allein im Wohnzimmer. Ja, lasst mich allein. Ich möchte von niemandem gebraucht werden, auch nicht von den Katzen. Allein sein kann so viele Vorzüge haben. Im ganzen Haus liegt mein blutbesudelter Krempel verteilt und niemanden stört es. Letzte Tasse Tee und wieder über Essen nachdenken. Im Kalender steht zumindest schon, dass ich eine kleine Schüssel Müsli gegessen hätte. Nur ob ich es wirklich kann? Wie sagt Sebastian immer so schön? „Von einem Extrem ins andre!“. Obwohl es im Moment nicht darum geht, mich runterzuhungern. Die Wunden haben sich längst wieder geschlossen, es ist zum Haareraufen. Würde irgendjemand bemerken, wie meine Arme aussehen, er würde es vielleicht belächeln, für Entsetzen reicht das wahrlich nicht. Und niemand würde auch nur auf die Idee kommen, dass das gefährlich sein könnte. Und niemand würde auch nur erahnen, was für einen Aufwand ich betreibe, DASS es lebensbedrohlich wird. Den Eintrag im Kalender wieder streichen. Ich kann einfach nicht essen. Zwar habe ich Ibuprofen in der Tasche, aber ich nehme dennoch die Aspirin mit zur Arbeit. Klar, ich könnte auch nach einem Aspro fragen, doch würde so wieder nur Unschuldige in meinen Feldzug gegen mich selbst mit hineinziehen. Im Spiegel eine junge Frau, mit adretter, mädchenhafter Frisur und ich komme nicht drum rum mir vorzustellen, dass diese auf dem Asphalt klebt und die hübsche Frisur mit Blut getränkt ist…

Spätnachmittag

Bei der Hinfahrt zu Arbeit flogen mir drei Spatzen direkt vors Auto und ich dachte, ich hätte einen davon erwischt. „Wann kommt das Auto von vorn?“, fragte ich mich auf den letzten Kilometern. Wieder herrschte gute Stimmung und ich tat allen den Gefallen und funktionierte wieder. Der Sozialarbeiter war wieder da und fragte mich, wie es denn mit dem Laufen laufen würde. „Naja, nach 5 km ne Lähmung ist nicht so prickelnd.“. Er entgegnete: ,, Ist doch nicht so schlimm…“. Was bitteschön ist an dem Wort „Lähmung“ falsch zu verstehen? Hallo? Wieder schwafelte er vom „meditativen Laufen“ und dass er froh wäre, nur drei Kilometer zu schaffen. Er hat aber keine Essstörung und Sportsucht im Nacken, ganz zu schweigen vom Rollstuhl, der immer hinter mir her ist. Nur leider fiel mir das alles wieder viel zu spät ein, und ich war wirklich angepisst. Es war nicht Mitleid, dass ich haben wollte, aber eine gewisse Ernsthaftigkeit hätte ich doch erwartet. Das ist kein Thema, welches man einfach mal aus Spaß an der Freud bagatellisieren kann und Lähmungen mit fehlender Ausdauer in direkten Vergleich zu ziehen, ist wahrlich nur noch an den Haaren herbeigezogen. Naja, was reg ich mich auf. Es hat wieder Mal bestätigt wie wenig ich wert bin und dass man mich nicht ernst nehmen muss. Im Laufe des Vormittages wurde aus dem Kopfschmerz starke Migräne und ich warf erneut Aspirin ein. „Man kann’s ja nochmals versuchen…“. Wieder Unwetter, wieder  Donner und Blitz und ich spürte das Wetter mehr als schmerzhaft in meinem zerberstenden Schädel. Die Tablette half nicht. Das Mittagessen schien wieder überflüssig, doch ich aß auf, weil es doch die erste Salaternte aus meinem Garten war. Beim Lauf vorhin machte ich nach 1,6km eine Kehrtwendung und rannte zurück nach Hause um nun wieder mit Migräne hier zu hocken. Ich hatte bei der Heimfahrt tatsächlich an der Stelle von heute Morgen etwas liegen sehen und hielt beim Laufen Ausschau danach. Und ich durfte mit Erleichterung feststellen, dass es nur eine träge Weinbergschnecke war, die ich wieder ins Grüne beförderte. Also kein beschmutztes Karma. Kinder und Spatzen gehören nicht auf die Straße!

Immer noch die Frage nach dem Bild, das ich abgebe. Im Spiegel ein verhältnismäßig blasses Gesicht und tiefschwarze Ringe unter den Augen. „Hübsch!“. Ich mag es, wenn mein Körper nach Außen spiegelt, wie es in mir drinnen aussieht. Denn niemand fragt und wenn ja, will er es ohnehin nicht wissen. Und nach längerem Überlegen beginnt der Aspekt der „Nahrungsverweigerung“ doch Züge des klassischen Hungerns zu zeigen. Zurück in die Angst, zuzunehmen bei jedem noch so kleinen Bissen. Ich werde mich wieder verletzen, wer weiß wie oft heute noch. Irgendwann und irgendwie muss ich doch auch mal etwas richtig machen.

Abend

Den Beipackzettel wälzen und dann noch eine Aspirin schlucken.

 

Wieder ein Unwetter, wieder Versagen. Schlägt sich die Spannung in der Luft auf meinen Kopf nieder? Die Schmerzen hören einfach nicht auf, mein Körper antwortet mit Aussetzern, es zieht mir sozusagen den Boden unter den Füßen weg. Selbst schuld!!! Ich kann nicht aufgeben, muss es wieder und wieder probieren. Wo sind der Hass und der Zorn um die Klinge zu führen? Stattdessen stumpfsinnig vor mich hinwarten. Warten auf Sebastians Anruf, warten auf das Eintreffen meines Bruders, der meine Brille vorbeibringen sollte. In Erwägung ziehen nicht ans Telefon zu gehen? Doch die Gefahr, genau mittendrin vom Läuten der Türglocke gestört zu werden, hemmt mich immens in meinem kranken Treiben. Mir ist mittlerweile schlecht, die Tabletten haben keine Wirkung noch eine Wechselwirkung. Mein Blut scheint nur noch dicker und zähflüssiger zu werden. Verfluchte SCHEISSE!!!! Müssen sich die Umstände permanent gegen mich stellen? Ich hab diese beschissene Warterei SO SATT!!!

Endlich! Mein Vater mit meiner Brille. Endlich frei… Und wieder scheitern?

 

Dezent klaffende Schnitte. Wird das Blut dicker, wenn es immer weniger wird? Was hilft es, dass sie tiefer sind, wenn sie doch gleich wieder zukleben. „Nein, du siehst in mich nicht rein!“, scheint mein Körper zu sagen wenn er mir eine Tür nach der andren vor der Nase zuschlägt. Und wieder allein mit der Frage, warum ich so bin wie ich bin. Den rechten Arm zerlegt. Zittern und hungern. Noch so viel Zeit bis ich schlafen kann. So unendlich viel Zeit…

 

Er ruft nicht an. Bin ich verletzt? Oder froh darüber, dass er meinen Rat ernst genommen hat und sich so die Zeit nicht ruiniert? Bin ich egal? Oder ist es besser so? Ich weiß nichts mehr.


 

4. Juni. Mittwoch 6:00

In meinem Traum rief Sebastian ständig an. Ich kann aber nicht sagen, ob ich mich gefreut habe oder nicht. Bildwechsel und wir waren unterwegs und ich spürte nur seine Gegenwart und alles schien in Ordnung, jede noch so undurchsichtige Situation meisterbar. Und dann pinkelte Fine auf das Kissen und ich hätte sie fast umgebracht. Ich schleuderte sich durch die Gegend, doch sie kam immer wieder angekrochen, wurde immer kleiner und schmächtiger, und ich immer brutaler. Ich wachte auf und hatte Angst. Ich weiß nicht so recht ob vor dem Teil in mir, der so explodieren kann oder ob ich mich in der Figur der Katze gesehen habe. Kurz darüber nachdenken und da ist ein Kloß im Hals. Bin ich das? Getreten, verprügelt, gehasst und abgelehnt? Die Tränen kommen. Ja, muss wohl so sein…

Ich konnte dennoch gut schlafen, die Migräne, die Tabletten, das Hungern und wohl auch der Blutverlust hatten mich schwach und müde gemacht. Wieder konnte ich keinen Hunger verspüren und ließ das Abendessen, welches allein schon aus Zwang nicht geplant war, ausfallen. 2 Kilo in 2 Tagen, Körperfettanteil um 2% runter. Natürlich ist mir auch bewusst, dass all die genannten Faktoren mit Grund sind, warum ich gestern zu schwach zum Laufen war und dass es den Sport stark beeinträchtigt. Ich bin mir nur noch nicht sicher, wem ich mehr Gewicht zurechne. Vor allem jetzt im Moment. Es fühlt sich an, als sei ich schon seit einer Ewigkeit allein und am Vereinsamen. Als hätte ich mich auf meine Art mit der Situation arrangiert, auch wenn dies bedeutet, dass ich mich wieder umso mehr zerstören muss und keinen Funken Selbstachtung mein Eigen nennen darf. Denn alles ist egal, Essen, Laufen –nichts spielt mehr eine Rolle, denn für wen sollte ich all das tun? Für mich? Pah! Da ist nicht mehr viel von meiner „Persönlichkeit“ übrig geblieben. Sonst bin ich immer so auf Ordnung und Sauberkeit bedacht, schon fast pedantisch, doch jetzt? Persönlichkeit setzt Leben voraus, und dieses ist ja nicht mehr da. Und dann wären da die Vorwürfe, die ich mir mache. Jetzt schon. Werde ich beichten? Interessiert es überhaupt? Aus der Unfähigkeit heraus, zu meinem Schmerz zu stehen, wird sich wieder alles anstauen und in einer einzigen Eruption zu Tage kommen. Er wird überfordert sein, ich werde mich schuldig fühlen. Schuldig des Mordes an seiner guten Laune und den schönen Erinnerungen an die Tage in der alten Heimat. Worin liegt das eigentliche Problem? Ihm zugestehen, dass es ihm gut ging, aber auch mir, dass es mir schlecht geht? Wird er wieder glauben, dass ich ihm die Schuld für meine Misere zuschiebe? Ich bin schlecht!!!

Nebel und meine Krähen oben in unsrem Wäldchen. Wie Herbst. Noch einsamer. Die hübsch klaffenden Schnitte sind zu armseligen, blassen Strichen heruntergekommen. VERSAGER!! Wie lange braucht ein Körper um Blutverluste auszugleichen? Und hortet er den Rest, in dem er ihn dicker werden lässt? Unser Rehbock steht plötzlich vor der Terrasse in der sommerlichen Blumenwiese. Wunderschön und ich zu tot, als dass ich es würdigen könnte. In meinem Kopf existiert nur noch die Klinge. Immer und immer wieder gegen eine dicke Betonwand rennen. Bin verflucht, zum Scheitern verdammt. Auf ein Unglück, ein Missgeschick, einen Unfall hoffen. Ich weiß, dass ich nicht unverwundbar bin.  Der Rehbock steht nun mitten in der Wiese und mampft wie ein Weltmeister. Ihm eine Weile zusehen, doch es gibt kein Zurück mehr. Vielleicht jetzt? Vielleicht eine Wirkung?

Jeden einzelnen Schnitt genießen, der schneidende Schmerz tut gut, wenn ich sonst schon nichts haben darf. Mich für einen Moment spüren. Und dann ist der Kopf leer. Keine Selbstbeschimpfung, keine Trauer, einfach betäubtes Nichts.

Nachmittag

Ein Gespräch, von dem ich nicht weiß ob es nun gut oder schlecht ist. „Deine Stimmungsschwankungen sind so extrem…“, und: „Das geht so nicht.“. Ist es gut, endlich auszusprechen warum ich so bin? Ist es schlecht, weil ich wieder nicht ICH sein darf, da man meine Persönlichkeit nicht erträgt? Ich tue niemandem weh, wenn ich depressiv bin. Ich keife niemanden an. Ein riesiges Wirrwarr wird in meinem Schädel losgetreten. Mir ist schlecht und kann nun erst recht nicht essen. Ich bin scheiße! Hast du gehört? SCHEISSE!!!!!! Will man belogen werden? Braucht man die Heuchelei? Ich weiß nichts mehr. Mich mehr zusammenreißen? Noch mehr verleugnen, betrügen, mich selbst verraten mit diesem albernen Possenspiel? Oder allen den Gefallen tun, und gehen? Ich weiß nicht, ich kann nicht denken. Bin ich wirklich so schlecht?

Abend

Das eine sei Privat und das andre Arbeit. Wie soll ich meine Depressionen abstellen? Ich bin immer noch durcheinander. Warum eigentlich? Ich wusste schon vorher, wie scheiße ich bin. Eigentlich erhoffte ich mir aus dem Gespräch, dass Dinge klarer werden. Doch genau das Gegenteil ist eingetreten. Mir ist immer noch schlecht, man kann sagen, es geht mir nicht gut. Nächste Runde im lustigen Aufschlitzspiel. Und irgendwie bin ich wütend auf mich selbst, da ich in meinem Rechtfertigungswahn mich erneut für meine Traurigkeit entschuldigt habe. Das muss man sich erst Mal auf der Zunge zergehen lassen. Weiter hungern und verletzen und morgen mein beschissenes Grinsen aufsetzen.

 

Was tun? Morgen nochmals auf das Thema zu sprechen kommen und klar und deutlich sagen, dass ich es nicht beeinflussen kann und wenn man es nicht ertragen kann oder will, es für alle besser ist wenn ich gehe. Wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass ich dann wieder zu heulen beginne… Ich hätte die Kritik ja noch verstanden, wenn ich ständig keifen würde, zu laut wäre, zu schlampig oder was auch immer. Aber mich für mein „Leid“ tadeln…


 

5. Mai, Donnerstag 6:00

Kurz überlegte der Rehbock, ob er denn auf die Terrasse treten könnte. Er stand da und schielte zu mir ins Wohnzimmer. Als er dann noch begann meine Topfbäume zur Umrandung der Terrasse anzuknabbern, zuckte ich für einen Moment zusammen. Die Glocken läuten und er entfernt sich wieder ein Stück, um gleich wieder zu kommen und flehmend die Nase in den Wind zu stecken. Es ist Martha, die sein Interesse weckt. Sie sitzt vor der Terrassentür und er stapft voller Neugier wieder direkt bis vor den Tisch. Martha lugt nun unter diesem hindurch und auch er senkt seinen Kopf um sie zu mustern. Die beiden geben ein absolut skurriles Bild ab. Er kuckt und tut sich an den Töpfen, bzw. deren Inhalt gütlich. Er will immer wieder weck, doch die Neugier fesselt ihn. Tja, schön dass die Kamera nun nicht da ist, ein Bild für Götter. Und als er dann zum wiederholten Male die kleinen Weiden zerbeißt, reicht es auch mir und mit einem Klopfer gegen die Scheibe verzieht er sich Richtung Waldrand, gerade mal 20m entfernt, und sieht gespannt zu, wie ich die Katze ins Haus lasse.

Meine Mutter rief gestern Abend noch an und gab mir einige Kampfansagen mit auf den Weg. Ich überlege immer noch meine genaue Wortwahl, die ich gleich heute treffen möchte. Erstens wussten sie von vornherein, auf was sie sich einlassen würden. All die Störungen waren mitunter ja auch ein Aufnahmekriterium. Sie hätten mich ja nicht nehmen müssen. Zweitens ist es ihr Problem, wenn sie damit nicht umgehen können. Ich tue ja niemandem was, mache alles was man von mir verlangt und bin freundlich zu den Kunden. Doch mehr Schauspiel ertrage ich nicht und wäre zu diesem Zeitpunkt der Therapie mehr als kontraproduktiv. Anscheinend bin ich mir dann doch etwas wert, denn die Arbeit und die 500€ sind mir diesen Rückschritt NICHT wert. Ich bin nicht da, um wie die Klienten erzogen und gemaßregelt zu werden. Eigentlich war das, was sie gestern zu mir sagte, sehr verletzend. Und noch verletzender war, dass ich mich auch noch dafür entschuldigt habe. Heute ist da keine Trauer mehr. Gestern versank ich in Tränen und wollte kampflos aufgeben. Und wie immer war auch der Gedanke vorhanden, die Menschheit von mir unerträglichem Wesen zu befreien. Doch nun fühle ich eine gewisse Portion Zorn und auch Kampfgeist. „Nicht mit mir!“. Also was sage ich? „Um auf das Gespräch von gestern nochmals zurück zu kommen… Depressionen kann man nicht per Klickschalter abstellen. Wenn es ohnehin egal ist, wie viele Stunden ich da bin, dann komme ich eben nicht mehr 5 Mal die Woche 4 Stunden, sondern weniger und mittwochs nach der Therapie gar nicht. Und arbeite meine Zeit dann nach Ablaufen der 6 Monate nach. Denn diese Beschäftigung ist mir sehr, sehr wichtig. Und wenn ich merke, es geht mir schlecht, dann sag ich bescheid und fahr nach Hause, damit ihr mich nicht ertragen „müsst“. Ich werde mich nicht verstellen und wenn du meinst, das geht so nicht, dann muss ich wohl gehen.“. Ist das gut so? Könnte man sich angegriffen fühlen? Vielleicht will ich das auch, denn ich hab mich auch nicht besser gefühlt. Und vielleicht gebe ich dann noch zu bedenken, dass man mich eben unter Voraussicht meiner körperlichen wie psychischen Störungen nicht annehmen hätte müssen. Und das gute daran ist: Ich habe im Moment nicht das Gefühl, dass ich dann kippen und in Tränen ausbrechen könnte. Es beginnt zu regnen und dem Brummen nach zu schließen, bekommen unsre Nachbarn heute ihr Haus geliefert.
Fingernagelcheck: Klebt noch Blut an meinen Händen? 6 Runden gab’s gestern, eine von Tag zu Tag steigende Tendenz seit Sebastian weg ist. Obwohl es am Ende gar keinen Sinn mehr hatte. Kein Blut, kein Schmerz. Die Blutreste von den Armen waschen und dann auf ins Gefecht. Ich würde ja lachen, wenn ich dann wirklich in zwei bis drei Stunden wieder hier wäre…

Abend

Das Gespräch verlief gut, ganz ohne Vorwürfe und wir einigten uns darauf, dass ich einfach nicht kommen würde, wenn es mir schlecht geht, bzw. dann nach Hause fahre. Ich bräuchte nicht mal anrufen, wenn ich um dreiviertel 8 nicht da bin, dann komm ich nicht. Und am Schluss machte sie sogar den Vorschlag, ob man nach ablaufen meiner 6 Monate nicht versuchen könnte, mich geringfügig anzustellen. Das kam schon beinahe einem Kompliment gleich. Es gab zwar ein Mittagessen, doch zum Laufen fehlte erneut die Kraft, bzw. machte ich wieder nach 1 1/2km eine Kehrtwendung. Nicht weil es in Strömen zu regnen begonnen hatte. Meine Beine drohten unterwegs zu versagen. Und dann würde ich da stehen, pitschnass bis auf die Knochen und käme nicht mehr vom Fleck. Also wieder nach Hause. Das Hungern hat mich mürbe gemacht. Bin aggressiv, mich kotzt der Regen an, all der Dreck, der deswegen ins Haus getragen wird, die Einsamkeit und mein Körper. Was kommt jetzt? Schub Nummer 26? Sind die zwei Monate zum letzten schon um? Wird das nun zum Standardprogramm? Dass mein linkes Bein aussetzt, ist seit November bekannt. Doch nun ist es das Rechte, und das sehr massiv. Schub oder wirklich nur der Hunger? Ich schaufelte mir eine kleine Schüssel Müsli rein, sonst wäre ich wohl zusammengekracht. Und eigentlich wollte ich mir einen riesigen Topf Pudding kochen, ganz nach Fressattackenmanier, und dann wieder alles aus mir rauswürgen. Nach den ersten Bissen Müsli stieg wohl der Blutzuckerspiegel und ich wurde beinahe schlagartig ruhiger. Und nun? Das Gefühl im Bein ist ganz und gar nicht berauschend.
Heute Morgen ein Gabler, jetzt ein Dreierbock direkt vor der Terrasse. Und Martha kommt erneut, setzt sich in einen der Blumentöpfe und beobachtet ihn. Das Paradies, und ich schon wieder so dermaßen haltlos.

Essen? Vergiss es!!! Stattdessen Capuccino und ein neues Blatt Papier.


 

6. Juni, Freitag 6:00

Ich hab’s geschafft, irgendwie. Doch mir graut schon vor dem morgigen Tag, vor dem endlos scheinenden Warten, bis das Auto endlich zu hören ist, wenn es den Hohlweg hoch rumpelt. Wieder Regen, die ganze Nacht hindurch. Die Nacktschneckenpopulation explodiert und sie fressen meinen Garten auf. Überall kriechen sie; auf den Klinkerwegen, auf der Hausmauer, sogar auf den Fensterscheiben kleben sie. Beinahe unheimlich, wie ein organisierter Schneckenangriff. Ich bin erschlagen und der Anblick meiner Arme macht mich nicht sonderlich glücklich. Gestern Abend musste ich noch eine kleine Schüssel Knuspermüsli futtern und fühlte mich danach einfach nur noch hundeelend. Wie ein überdimensionaler Versager. Scheiß Zwang, scheiß Essen. Und ich habe Angst vor dem Lauf, den ich heute geplant habe. Nichts Großes, um mich nicht nach wenigen Minuten wieder im selben Dilemma wieder zu finden. Durchs „Dorf“ rennen und beim Arzt meine Rezepte holen. Vielleicht klappt es ja auch mit mehr Nahrung intus wieder besser. Die Turmfalken sind im Dauerstress, vermutlich auch weil sich die Krähen nun wieder oben im Wäldchen breit gemacht haben. Sogar nachts zischen sie durch die Lüfte, genau so wie der Kuckuck allem Anschein nach keine Sperrstunde zu kennen scheint. Man könnte meinen, der Wahnsinn sei hier im Graben ausgebrochen. Wenn aus Falken Eulen werden und der Kuckuck wie ein Ganove nächtliche Schandtaten plant. Von meinem Verhalten ganz zu schweigen. Aber wenn alle es tun, ist es beinahe schon wieder normal.

Abend

Haltlos, seelenlos. Und zuvor doch noch so lebendig. Klatsch! Gegen die Wand. Die Nachricht auf dem AB nochmals abspielen, nur um seine Stimme zu hören. Ich war so voller Vorfreude ihn wieder zu haben, doch nun scheint alles tot. Diese schreckliche Langeweile, die wieder keine ist. Eine kleine Ewigkeit auf der Treppe vorm Haus hocken und abwägen, ob ich es tue oder nicht. Die Arme drehen und wenden, um irgendwann den ersten zu Schnitt zu wagen. War dies der Untergang des Tages? Oder war er zuvor schon am Sterben? Die Langeweile wälzte sich allmählich über mich, wie zähflüssiger Teer. Bedeckte alles, erstickte alles. Und nun weiß ich nicht mehr weiter. Heute Mittag hätte ich noch drauf wetten können, dass das ein Schub wird, doch dank ausreichender Nahrungszufuhr war der Lauf erstaunlich gut und auch lähmungsfrei, was ich nie gedacht hätte. Aber all das scheint nun keinen Wert mehr zu haben. Wieder einer dieser Momente, in denen mich nicht mal Aufschlitzen retten kann. Egal, welchen Plan ich auch fasse um dieser Misere zu entfliehen, alles ist ohne Belang und ohnehin zwecklos. Ich bin außer Stande überhaupt einen davon auszuprobieren. Sehne mich nach etwas Massivem, womit ich mich abstellen kann. Ob für kurze Zeit oder endgültig, scheint egal. Wieder war das Blut zu dick und wieder blutete es am Ende viel zu wenig. Was mach ich nur?...


 

7. Juni, Samstagmorgen

Ich ging ins Bett; die intelligenteste Entscheidung seit langem. Ich berieselte mich noch mit ein paar Sendungen MTV-Comics und als ich dann den Fernseher ausknipste, begann es wieder zu regnen. Im Halbschlaf meinte ich ständig das Klingeln vom Telefon zu hören, machte mir Sorgen, dass er bei diesem Wetter fährt. Ich kam total durcheinander. Tatsächlich müsste er spätestens um 18:00 oder 19:00 samt Timm und Rika da sein. Ich hätte für den Besuch längst alles  vorbereitet, aber die Treppe hoch zum Dachboden, wo Bettzeug aufbewahrt wird, scheint eine unüberwindbare Barriere. Wie ist der Plan? Erstmal Teetrinken, dann ins Dorf fahren um zu laufen und danach einzukaufen, zu Mittag den Wagen mit besten Wünschen zurück zu meinen Eltern bringen, meinen mir versprochenen Kirschstrudel abholen. Und dann? In Selbsthass untergehen, weil ich diesen dann esse? Oder hungern in weiser Voraussicht, dass die Herrschaften abends nach Ankunft vielleicht Hunger haben und es noch was Großes gibt? Und dazwischen? Im Kreis laufen? Oder sollte ich mir doch wieder Stoff besorgen?

Als ich gestern auf der Treppe saß und mich bluten ließ, saßen meine Krähen zu meiner Linken oben im Wäldchen und beobachteten mich. Es scheint, als würden sie in den großen Eichen und Buchen brüten, was ich als wunderbares Geschenk empfinde. So sponserte ich wieder ein Ei, nachdem es kaum noch blutete und ich auch keinen Sinn mehr darin sah, weiter zu machen. Und siehe da: Heute ist das Ei weg. Fine hatte vorgestern Nacht eine Ratte erbeutet. Das war allein schon den Schreien zu entnehmen, als sie mit ihrer Beute durch den Garten rannte, direkt am Schlafzimmerfenster vorbei. Abends schleppte sie dann die Reste an: Einen Fuß, ein Knäuel Fell und einen Zahn. Eindeutig Ratte. Hat Fine unsre Carportratte Berta gekillt?

Wieder habe ich erwartet, dass die Schnitte vielleicht wenigstens ein bisschen blutunterlaufen seien. Aber nein, ich lerne es einfach nicht. Wieso auch, es war früher anders. Wolken und Sonne fechten ihren Kampf um den Morgen aus, was mich noch unruhiger macht. „Entscheidet euch endlich!!!“. Martha hockt nun oben vorm Wald und starrt gebannt in diesen hinein. „Wald- und Wiesenfernsehen“! Und ich warte. So wie immer…

20:30 Uhr

Warten. Warten. Warten und mir Sorgen machen. Mit Klavierspielen ablenken, und mich doch nur verspielen weil ich in Gedanken durchgehe, was ich alles schlucke, wenn der Katastrophenfall eintritt. Unruhe…

 

Endlich erlöst…


 

8. Juni, Sonntag 6 Uhr

Es schien eine Ewigkeit, bis das Auto zu hören war. Ich kramte die Mappe mit den Beipackzetteln hervor um die Überdosierungsbeschreibungen zu lesen. Ich wollte wissen, was ich nehmen muss, wenn ein Anruf kommen sollte. Am Ende war ich schon davon überzeugt, dass nun nur noch die Polizei anrufen würde.  Die Erklärung, es könnte irgendwo Stau sein, vermochte mir meine Ängste nicht zu nehmen. Mit einem Bein stand ich bereits im Grab. Und dann war er da, endlich wieder da, und ich konnte ihn gar nicht mehr loslassen. Eindeutig: Als Kind viel zu oft dramatische Geschichten gehört und auf zu vielen Beerdigungen gestanden, die mich eigentlich nichts angingen.

Allmählich merke ich, dass ich noch gar nicht wach sein sollte. Krähen, Turmfalken, Singdrossel, Mönchsgrasmücke, Laubfrösche –was für ein Konzert. Mir brummt der Schädel, als sei ich von einem Tage dauernden Rausch erwacht, wieder haltlos und gezwungen, mich neu zu sortieren.


 

9. Juni, Montag 6 Uhr

Im Wohnzimmer hat die Bombe eingeschlagen und bevor ich mich erschöpft hinsetzen darf, versuche ich so weit als möglich alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich ertrage diesen Zustand nicht unbedingt, gebe mir aber alle Mühe mich selbst im Griff zu haben. Alter Pedant! Und das Wetter tut das Übrige, um das Gefühl von „Schmutzigem Biotop“ zu unterstreichen. Meine Krähen kreisen ums Haus, wahrscheinlich wird das Wetter heute wieder Wäscheunfreundlich. Eigentlich bin ich auch so erschöpft, dass ich nicht denken kann.


 

10. Juni, Dienstag 5:45 Uhr

Der Lauf war scheiße und danach überschwemmte die Waschmaschine das Bad. Im Büro war das eingetreten, wovon ich immerzu predige, man mir aber irgendwie nie glaubt: Wenn ich Tätigkeiten verrichte, welche ich für gewöhnlich nicht in meinem Repertoire habe, reagiert mein Dachschaden auf seine Weise. Oder monotone, sich wiederholende Bewegungen, und seien sie noch so unscheinbar, werden mir zum Verhängnis. Ich musste die Lose für die Tombola fürs Firmenfest nachzählen und es war schier unmöglich die winzigen Zettelchen mit meinen tauben und grobmotorischen Händen zu bändigen. Zudem nahm es irgendwie kein Ende, bis auf das, dass meine linke Hand wie gelähmt war. Auch der Arm wurde schwer und wollte sich nur noch der Erdanziehung hingeben. Ich dachte, das geht vorbei. Aber es hielt sich den ganzen Resttag und dann, als die Waschmaschine Titanic probte, war die Überforderung komplett. Eigentlich wollte ich erst heute nach Abfahrt des Besuchs eine Hausgrundreinigung einlegen. So war ich zum größten Teil gestern schon dazu gezwungen und ich fühle unerträglichen Frust, weil ich weiß, dass es heute wieder so aussehen wird. Leichter Schwächeschmerz im linken Arm, und das nur weil ich ihn auf den Tisch gelegt habe. Die Peinlichkeit fand gestern Abend ihren Meister, als wir zu dritt zum neuen Haus marschierten und dann von oben aus der andren Richtung ein Auto kam, meine Mutter samt Nachbarschaftsgeschwader entstieg und sich auch noch davor parkte. Alle fuchtelten wild rum, gestikulierten, kommentieren, beschwerten und wunderten sich und ich wäre stante pede umgekehrt und wieder nach Hause geschlurft. Morgens war da noch kein Haus, als ich loslief standen die Mauern und als ich humpelnd wiederkehrte war der Dachstuhl drauf. Und am liebsten wäre mir gewesen, wenn unsre neuen Nachbarn im Garten gewesen wären um ihnen mitzuteilen, dass ich mir der Peinlichkeit und Absurdität dieses Menschenauflaufs bewusst bin. Ich hatte ja im Vorfeld angekündigt, dass ich mir dieses Spektakel ansehen werde. Und ich bleibe dabei: Massivbauweise vermittelt mehr Sicherheit. Der Gedanke, schöne, rotgebrannte Ziegel um mich rum zu haben, führt gleich zu Wohlbehagen. Das Ding, an dessen Anblick wir uns nun erst gewöhnen müssen, hat eher was von einem Pappkartonhäuschen. Wobei die Betonung auf Häuschen liegt, es ist wie versprochen doch nicht groß geworden. Wenigstens ein klitzekleiner Trost. Dennoch; musste das sein? Hat der Graben noch ein Haus gebraucht? Es ist wie eine Wunde, in diesen wunderschönen Landstrich gerissen. Wie ein Sprung im Kleinod des Dorfes. Irgendwie tut es weh und irgendwie fehlt mir die Energie noch darüber nachzudenken. Wie viel Leben verträgt der Graben, ehe er nicht länger das ist, was er mal war? Eine kleine rumplige Straße durch eine stille, wunderschöne Zauberwelt. Zum Glück sehen wir von uns aus nichts und niemanden, zu sehr ist unser Haus eingebettet zwischen Bäumen und Sträuchern. Hätte man es uns direkt vor die Nase geschissen, würde ich wohl mehr Kraft darin investieren diesen Vorgang zu kritisieren. Und ob dieses Ding nun in die Landschaft passt, bleibt fraglich. Aber zum Glück ist es auch nicht zu exotisch. Was das betrifft bin ich wohl konservativ bis „national“ gesinnt. Es gibt Gartennazis, ich hingegen bin ein Hausnazi. Diese ganzen Neubauten, diese Schachtelsysteme, dieser billige Villenstil –ich kann diese ganze Scheiße schon nicht mehr sehen. Warum stehen nicht einfach nur Bauernhäuser in der Gegend rum? Das wäre doch viel schöner. Wieder hat Fine eine Maus und schleuderte sie am Krähenaltar durch die Gegend. Pantoffeln werfend die Katze aus dem Konzept bringen und ihr die hübsche Waldmaus abluchsen, die zum Glück lebt und unversehrt scheint.


 

11. Juni, Mittwoch 6:30

Natürlich ist mein Gewicht hoch und irgendwie spüre ich nun, da ich wieder allein bin, den Anreiz, auszuticken. War die Pause lang genug? Würde es endlich bluten? Ich bin so erschöpft, das Haus wieder auf Vordermann zu bringen gab mir den Rest. Und für was? Kaum sind die frisch gewaschenen Decken wieder auf der Couch, wird drauf gekleckert. Ist das normal? Der normale Lauf der Dinge? Dieses beschissene Dauerdejavue reißt wieder nicht ab. „Kenn ich schon! Kenn ich schon! KENN ICH SCHON!“. Wie langweilig und verunsichernd zugleich. Zudem wieder das unheimliche Gefühl, es sei doch alles in bester Ordnung und ich bräuchte keine Therapie. Störung? Wer hat hier ne Störung? Und im selben Gedankengang überlege ich, wie ich mich wieder ein bisschen runterhungern könnte. Plan für heute? Therapie, dann nach Hause das Mittagessen vorbereiten, wieder ins Dorf um dort meine Runden zu drehen, Medikamente zu holen, Sebastian um 12 abzuholen und den Nachmittag hoffentlich dösend auf der Couch zubringen. Ich kann nicht mehr und tu es dennoch. Diese leichte Lähmung in der linken Hand ist immer noch präsent, sehr amüsant. Wie damals, als ich diese „paroxysmale Symptomatik“ in Form von Lähmungsanfällen hatte. Nur mit dem Unterschied, dass die Feinmotorik überhaupt nicht wieder zu kehren scheint. Jeder Tag auf seine Art und Weise ein Abenteuer. Ich passe!


 

12. Juni, Donnerstag 5:45

Ich war in der Therapie und auch danach etwas entnervt, vielleicht sollte ich eine Pause machen. Ich fühlte mich gestern einfach nicht wohl, mag auch an der leisen Kritik liegen. Ich vertrage keine Kritik, da ich meine gesamte Kindheit kritisiert wurde, teils für die essentiellsten Dinge wie zum Beispiel meine Persönlichkeit. Abends dann mit Sebastian auf der Couch vor mich hingammeln bei amüsantem Schlammfussball. Ich habe noch nicht erwähnt, dass ich NICHT für Österreich bin. Ich kannte bis kurz vor der EM nicht Mal einen einzigen Spieler und nun verfolgen sie einen auf Schritt und Tritt. All die Plakate in Jennersdorf, die ich mir tagtäglich antun darf. Vor allem beim Laufen kommt mir der Gedanke, was das für ein Haufen von Lutschern ist. Ein Team unter 18jähriger Gymnasiasten sieht nicht anders aus. Und dann das Raiffeisenbankplakat, überall im Dorf. Wie hindrapierte Schnullerbacken in der „Bob, der Baumeister: Jo! Wir schaffen dat!“ –Pose. Jaja. Na seid froh, dass die Schweizer gestern schon rausgeflogen sind. Und dann all diese Fahnen. Als ich die erste Karosserie unsre Straße hochfahren sah, vermutete ich noch hohen Staatsbesuch. Nun ist das Land verseucht mit wehenden Österreichfahnen an dicken, dünnen, großen und kleinen Autos. Erst gestern stach mir eine Kiste ganz besonders ins Auge und ich mutmaßte, es mit einer Multiplen Persönlichkeit zu tun zu haben: Links die österreichische und rechts die deutsche Flagge. Unheimlich. Wie geht das denn zusammen? Die Österreicher hassen die Deutschen und den Deutschen wird nachgesagt, die Österreicher zu belächeln. Wer hatte damals das Land besetzt? Doch wessen Landsmann war der Führer? Ist doch alles nur noch albern, aber reicht für abendfüllende Stammtischdebatten. „Wenns sche mocht?!“. Also ich bin für Deutschland. Ich glaube, ich brauche auch so ne dämliche Fahne. Wurde doch anscheinend extra für die EM ein Gesetz erlassen, was das Montieren dieser Dinger auf dem Auto erlaubt. Um im Stammtischniveau zu verweilen: Was DAS wieder gekostet haben muss!

Also das Gammeln war schön, zudem wurde ich ab und zu mit einer Erdnuss gefüttert. Nicht mehr allein zu sein fühlt sich unglaublich gut an. Zudem hatte ich das leidige „Schondeckenproblem“ gelöst. Denn kaum saß man einen Moment auf der Couch, verrutschte diese und es nahm schlampige Züge an. Kurzes Überlegen, dann die Tagesdecken zerschneiden, durch die Nähmaschine laufen lassen und fertig ist das nächste Kunstwerk, das mensch auch wirklich braucht. Und die genähten „Hussen“ überstanden den Fußballhärtetest mit einer glatten Eins. Kein Verrutschen, keine Falten mehr. Mein Körper versagt zwar kontinuierlich, aber dennoch wird die Beziehung zu meiner neuen, funktionierenden Nähmaschine immer enger und freundschaftlicher. Und da wäre ja noch der Stoff von meiner Dealerin… Ganz gewagt hatte ich mich diesmal für Farbe entschieden. Ein Fliederfarbenes Hemd und die Hose in Brombeer. Da vom Zweitem zu wenig da ist, wird es entweder eine trendy „Unterarschhose“ oder mir fällt noch was andres ein. Aber im Türken und Pfuschen bin ich doch Meister.

Hel dreht im Tiefflug eine Inspektionsrunde über die Wiese. Das Ei schon vernichtet? Die Arme liegen auf dem Tisch und ich frage mich, ob der Zustand dieser das Hemd mit den dreiviertel langen Ärmeln gestattet. Im Moment scheint es, als würde nun alles gut werden. Und dann? Wenn ich mich drauf einlasse knallt es?


 

13. Juni, Freitag 5:45

Erschöpfung. Morgens aufstehen und wieder müde. Vielleicht mute ich mir mit den 20 Stunden die Woche doch zu viel zu. Der Lauf gestern war auch alles andre als lustig. Die Schwäche in den Beinen fühlte sich so an, als würde ich gegen eine Sturmwand anrennen oder durch kniehohes Wasser. Ich rannte nach Jennersdorf, schaffte dennoch 7km, zog mich im Kirchenklo um und dann ging’s zur „Vernissage“. Die „Beschäftigungstherapie- Klienten“ stellten also ihre Kunstwerke aus dem Malworkshop aus. Wir verweilten aber nur kurz, Gott Fußball und die Uhr, die mich auf die Notwendigkeit einer weiteren Copaxoneinjektion hinwies, drängten zum Aufbruch. Hätte mich jemand gefragt, ob ich denn ein Bild kaufen will, hätte meine Antwort wohl wie folgt ausgesehen: „Unglücklicherweise male ich selbst…“. Nunja, zum Fußballspiel gibt’s nicht viel zu sagen, außer dass ich noch vor lauter Aufregung einen „Fußball indizierten Schub“ bekomme. Nichts half: Weder Fingerüberkreuzen oder Daumenhalten noch die Kombination aus beiden.


 

16. Juni, Montag 6:45

Was ist da für ein Chaos? Es könnte mir gut gehen, wäre da nicht schon wieder der Tod, der vor meinen Augen alles und jeden auffrisst. Es ist recht frisch, ich rieche Herbst und das macht mir Angst. Samstags gab es noch einen schönen Lauf, danach den körperlichen Totalausfall, aber ich wusste noch, was ich meiner Mutter zur ihrem 60sten schenken könnte. So verbrachte ich den bewegungslosen Zustand am Computer und kämpfte mich durch meine alten, selbst geschnittenen Videos. Dabei musste ich feststellen, wie lebendig mein Leben damals war und was im Vergleich dazu übrig geblieben ist. Nichts? Das Pferd, die unendlichen Wanderungen in den Wäldern und in der Tiefebene. Und dann? Dann kam die Krankheit. Ich muss tatsächlich sehr tot sein. Und am Ende musste ich auch noch feststellen, dass das für ein Geschenk nicht reichen würde. Gestern schaffte ich es dann nicht mal mehr in meine Laufsachen, obwohl ich mehrfach die Entscheidung fällte, nun loszurennen. Die Beine steif, unendlich schwach und ich todmüde. Stattdessen Unruhe, die ich scheinbar ruhig auszusitzen versuchte. Und ich merkte, dass wenn mir nicht bald eine Geschenkalternative einfallen würde, ich für den Rest der noch bleibenden Zeit durch dieses Dilemma ausgebremst wäre, in allem was ich tue oder tun möchte. Und dann als der Tag zu Ende war, das Gefühl, NICHTS vollbracht zu haben. Wieder stand die Frage nach dem Arbeitspensum im Raum. So werde ich nicht malen können. So lohnt es sich nicht eine Leinwand auch nur auszupacken. Die Arbeitsstunden reduzieren, vormittags laufen und den Nachmittag für Regeneration nutzen? Es zumindest mal ausprobieren? Ich bin so unendlich erschöpft, schlafe abends um 8 auf dem Sofa bereits ein. In der Wanne stellte ich fest, was für ein massiver Unterschied in der Hebebewegung zwischen rechtem und linkem Bein herrscht. Angsteinflößend? Bei den Armen sieht es nicht anders aus. Ist es die Hitze, die nun schon seit Tagen nicht mehr vorhanden ist? Ist es eine Verschlechterung oder gar ein Schub, auf den die neuen Beschwerden der rechten Körperhälfte hindeuten würden? Ich fühle ganz tief in mir Widerwillen. In mir sträubt sich alles gegen die Arbeit, die Therapie, die Findung eines Geschenkes, die Tatsache, dass ich nun schon wach bin und eigentlich gegen mein Leben an sich. Worauf wird dieses hinauslaufen? Jemand wird sterben. Viele Menschen werden vor mir sterben. Ich werde versinken in dieser Bewegungslosigkeit. Die Aussichten scheinen trostlos bis abschreckend. Mir entkam ein  bitterböses Lachen, als ich abends die Glotze anwarf. „Mein Garten“ und die Besitzerin mit MS. Ich zitiere in etwa den Wortlaut der Gartentante: „Wir gestalten den Garten so um, dass er behindertengerecht ist, denn Isi wird in den nächsten Jahren im Rollstuhl sitzen.“. Zum Prusten, vor allem dann, als sie noch einen fingierten Arzttermin zeigten, in dem die Neurologin dieser Aussage die „RTL-taugliche“ Dramatik raubte: „Nur etwa 20% brauchen im Laufe ihrer Krankheit einen Rollstuhl.“, und sie erläuterte die unterschiedlichen Verlaufsformen: „Und zu welcher Gruppe sie letztendlich gehören, wird sich erst im Laufe der Jahre zeigen!“. Also ein MS-Jungspunt? Melodramatisch aufbereitet. Ich liebe RTL! Natürlich ist es sinnvoll behindertengerecht zu gestalten und zu bauen. Ich möchte sie ja nicht persönlich angreifen, aber man sollte doch etwas dosierter mit Aussagen dieser Art umgehen. Oder wie man hier zu Lande sagt: „Man sollte es nicht verschreien!“. Warum bin ich deswegen so dermaßen angepisst? Weil DAS schon so dramatisch ist und mir aber nachgesagt wird, es würde mir doch total gut gehen, weil man mich ständig laufen sieht? Letzte Bastion Laufen. Ich darf nach nun etwa 28 Schüben sagen, ich gehöre zur Gruppe der „Manifestierer“, zu den Freunden des „Schäden Behaltens“. Was ist allein in den letzten drei Jahren alles verloren gegangen? Kein Inlineskaten, kein Radfahren und nun auch kein Spazieren mehr. Von den gewöhnlichen Alltagsdingen ganz zu schweigen. Wieder und wieder drängt sich mir die Frage auf, was passiert, wenn ich nicht mehr laufen kann. Auseinandergehen wie ein fettes Mastschwein? Zurück in die Essstörung? Laufen ist Leben. Kann man noch toter leben? Dachschaden ist das eine, aber noch dazu einen psychischen, ein ganz andres Kaliber. Was will ich? Das man aufhört meine Problematik zu verharmlosen und vielleicht ein wenig Anerkennung für die erbrachte Leistung? Dass dieses beschissene Herabwürdigen meiner Selbstüberwindung und Kraftanstrengung aufhört? Mich allmählich in diesem verbitterten und selbstgerechten System einnisten und wohl fühlen. Nicht länger mit machen, wenn man sich über mich „lustig“ macht und zum ersten Mal Paroli bieten. Die Leute vor den Kopf stoßen. „Bis hier hin und nicht weiter! Scheiße, wa?“. Meine Leistungen auch nicht länger selbst schmälern, denn es ist eine Leistung unter den gegebenen Bedingungen zu laufen.
Dennoch, der Widerwille, zur Arbeit zu fahren und die Therapie weiter zu machen, bleibt. Der Klassiker vom „Nichts durchziehen Könnens“.


 

17. Juni, Dienstagmorgen

Ob ich mit der neuen Änderung klar komme? Montag, Mittwoch und Freitag arbeiten, und die Tage dazwischen regenerieren. Dieser massive Erschöpfungszustand muss doch irgendwie eindämmbar sein. Da ich die fehlenden Stunden nacharbeiten kann, und dieses allgemein nun mit mir „möglich“ zu sein scheint, ist es kein Problem. „Aber wundere dich nicht wenn du mich laufen siehst. Ständig bekomme ich über Zweite mitgeteilt, dass Dritte deswegen davon überzeugt sind, dass ich gar nicht krank bin und es mir doch gar nicht schlecht gehen kann.“. „Keine Sorge, ich denke mir nichts dabei…“, und ihre Miene verfinsterte sich kurz so wie ihr Tonfall: „..aber ich habe das auch schon zu hören bekommen.“. Interessant. Ignorantes, dummes und schwätzendes Pack! Ich wünsche euch allen einen Tag in meinem Leben und wir werden schon sehen, ob ihr überhaupt die Kraft und Überwindung aufbringen werdet, auch nur EINEN Finger zu krümmen! Nichtsdestotrotz fühlte ich mich das Büroklima betreffend, noch sicherer und noch mehr verstanden. Dank sonntäglichem Ruhetag war es mir möglich 10km zu laufen. Natürlich die letzten wieder in Raten mit mehr oder minder großen Pausen dazwischen. Wieder hatte ich das Handy verloren und musste erneut den halben Weg heimwärts rennen. Erst war ich verärgert, doch dann erkannte ich die positiven Aspekte des Missgeschicks: Ich musste plötzlich in die Büsche hüpfen und hätte ich nicht noch mal zurück gemusst, wäre mir wohl mitten in der Wohnstraße das nächste Unglück widerfahren. So hatte alles seinen Sinn, nahm seinen Gang und bei all den auf Sebastians Arbeitsschluss wartenden Runden um den Kirchenplatz, äugte ich misstrauisch in die Autos und Sitzgärten vor den Cafes und Gaststätten, um mich zu fragen, wer denn nun das Bedürfnis haben könnte, sich über mich das Maul zu zerreißen. Noch absurder finde ich, dass man von meiner MS weiß. Einmal Gasthausinventar, immer Allgemeingut, oder wie? Beim Abendessen dann in den Nachrichten der Bericht von der jungen Frau, die mit einem Messer in der Hand und nem Strick um den Hals auf dem Verandageländer im 15. Stock stand und drohte zu springen. „Dann begann sie auch noch sich mit dem Messer zu verletzen…“. Ich zuckte innerlich zusammen. Ist das ein Trigger? Mir war auch bewusst, dass Sebastian die Bilder ganz anders erlebte als ich es tat. Fine hatte gekillt, den einen Teil übrig gelassen, den andren auf die Terrasse gekotzt. Ich wollte den Mist entfernen, trat aus dem Haus und stürzte. Ein weiteres Missgeschick oder hat mein Körper versagt? Ich kann nicht mal sagen, warum ich umgefallen bin. Eine hübsche Schramme am Ellbogen –noch ein Trigger? Zumindest war es schon seltsam, dass ich den Ärmel immer und immer wieder hochschieben musste um die Wunde zu mustern. So wie sich ein notgeiler Sack seine Pornos reinzieht, konnte ich dem Reiz der versehrten Haut nicht widerstehen. Im Traum war es dann endlich soweit und ich schlitzte mir die verheilten Arme auf. Ich kippe. Der Tod giert, ein hämisches Grinsen auf den vertrockneten Lippen, zum Fenster herein und klopft mit seinen knochigen Fingern gegen die Scheibe. Als ich dann in all den Pausen im Auto saß, strich ich mit meinen Händen über die Unterarme. Doch die Finger sind taub, ich konnte nichts fühlen. Ich berührte mit den Lippen die vernarbte Haut und wurde mir zum ersten Mal dem Ausmaß der Verletzungen bewusst. Nicht erschrocken, eher gebannt jede Kerbe wahrnehmen. „Was hast du getan?“. Stolz drauf? Ja.

 


18. Juni, Mittwoch 6:00

Zecken sammeln wie andre Kleingeld. Jeden Biss notieren und auf die roten Kreise warten. Wieder grauer Himmel und Regen und ich so dermaßen erschlagen, dass ich alles hinschmeißen möchte. In meinem Traum verfiel mein Vater in alte Verhaltensmuster, ich schrie ihn an, doch anstatt wie immer zu reagieren, hörte er zu und meine Worte kamen in seinem Innersten an. „Wunschtraum“? Oder einfach zu spät? Auch die Arbeitszeiten regelten sich zu meinen Gunsten. Aber was bringt es schon? Die Welt dividiert sich auseinander; und das nicht nur vor meinen Augen. Eine Woche lang Frieden und dann wieder „Dauerdejavue“. Hangle mich am Tag entlang und finde doch kaum Halt. Immer wieder versinken in Seufzen und leeren Blicken, die Sebastian mit Aufmunterungssprüchen zu therapieren versucht. Heilungserfolg gleich Null. Mein Körper baut ab. Kann man denn nun von einer hitzebedingten Verschlechterung sprechen, wenn seit einer Ewigkeit keine Hitze mehr stattgefunden hat? Der linke Arm hat sich vom Lose Zählen nie wieder erholt. Die Schwäche, die sich wie Lähmungen gebärdet, tritt mal mehr und mal weniger beim täglichen Lauf in Erscheinung. Dafür ist die Starre nach der Bewegung umso zuverlässiger. Und immer wieder rechts. Verdächtig. Ich könnte im Moment nicht mal über eine weitere Therapie nachdenken, zu sehr bin noch damit beschäftigt die nicht enden wollenden Einheiten im Frühjahr zu verdrängen. Und alles, was meine linke Hand in Angriff nimmt, könnte genau so schnell auf dem  Boden landen (…siehe Tee auf Tisch…). Nichts bereitet Freude, alles sinnlos. Oder ist es nur die Müdigkeit?...


 

19. Juni, Donnerstag 6:20

Die Arbeitszeiten änderten sich tatsächlich zu meinem Vorteil. Ab nun nur noch von 8:00 bis 10:00, so kann ich die Morgenenergie noch nutzen und vor Sebastians Mittagspause laufen. Ich habe es versucht und musste feststellen, dass es erstens zu viel war und zweitens ich mich so übernommen habe, dass es Folgen hatte. Und noch bevor ich zur Arbeit fuhr, sank die Stimmung Richtung Nullpunkt, ich war deprimiert und zornig zu gleich. „Willkommen zu Hause!“. War es Selbstbestrafung? Oder einfach nur um meine Wut zu bündeln und an mir selbst auszulassen? Egal, die Klinge war ohnehin stumpf. Den restlichen Zorn konnte ich abends loswerden, als ich beim Wäscheabnehmen unsren Lieblingsjäger auf unser Grundstück latschen sah, wo er sich breit machte. Das würde er wohl schon seit Tagen machen, hatte mir ein Vögelchen gezwitschert und war entsetzt, dass isch es noch nicht mitbekommen hätte. Die absolute Frechheit besteht ja darin, dass er nicht nur auf unsrem Grund, den ich eigentlich als zum Garten gehörig einstufe, stundenlang hockt, sondern dass er auch noch die Frechheit besaß von einem unsrer Bäume Äste abzuscheiden und sich damit einen Sichtschutz zu bauen. Eigentlich müsste man ihn fotografieren, denn sein „Nest“ ist direkt neben einer der unzähligen „PRIVATGRUND! Betreten verboten!“-Tafeln. Realsatire, wie? Allein das Wissen über seine bloße Gegenwart, zerstört das Gefühl von Sicherheit und Privatsphäre im Haus. Hockt er doch so gesehen nur ein paar Meter vom Schlafzimmerfenster entfernt in der Hecke. BLÖDES ARSCHLOCH! Er will Krieg? DEN kann er haben! Das Maß ist voll, wenn es um Grenzüberschreitungen geht und dass sich unterhalten nichts bringt, wurde mehrfach belegt. Für Logik ist er zu dumm! Genau so wie seine gesamte Jägersippe. Und an dieser Stelle möchte ich noch seine Frau, diese Trulla, zitieren: „Ihr habt da nicht zu gehen, das ist unser Grund!“. Gemeint ist ein etwa 50cm breiter Streifen Rasen vor ihrem hässlichen Jägerzaun, auf dessen Innenseite der neurotische Jagdhund wie bekloppt kläffend hin und her rennt. Besagter Streifen gehört aber sicherlich NICHT ihnen, da ein Streifen zwischen Straße und Grundstück immer der Gemeinde gehört, somit Allgemeingut ist und von jedem betreten werden darf. Zudem hat sie behauptet, mein Hund sei über ihren Zaun und hätte den bekloppten Köter angegriffen. Jaja, aber sonst noch alles frisch da oben, oder? Und nun erschließt sich auch dem letzten Zweifler, WARUM es denn nun irgendwie absurd erscheint, was er sich alles herausnimmt. „Ach, wir sind doch nur die Grundstücksbesitzer, mehr nicht…“, sagte ich gestern Abend laut auf der Terrasse. Die spontane Idee meiner Mutter ist Gold wert: Wie wäre es mit ein paar faulen Eiern? Um die hübsche „Jägerwohnung“ zu dekorieren?

Abends gab es dann wieder ein Rehkonzert, was unglaublich nervig war, eine wändeerschleichende Erdkröte, ein Glühwürmchen und ein von den Katzen zerlegtes Küken. Uns blutete das Herz, aber was tun? Den kleinen Piepmatz zurück in die Wiese, den Katzen überlassen oder erschlagen? „Der Tod wird es sich holen…“, und ich setzte das zerbombte Federknäuel in den Sanitätskäfig. Und wer hätte das gedacht? Trotz schwerster Verletzungen sitzt er heute immer noch da und sieht mich mit seinen riesigen Glubschaugen an. Hm, und was nun? In Vogelaufzucht bin ich nicht sonderlich bis eigentlich gar nicht bewandt. Dass er noch lebt, erstaunt mich in Anbetracht der Verwundungen sehr. Hm… Vor der Arbeit noch ein Insekt fangen?

Nachmittag

Piepsen kann er, rumflattern kann er und auf einem Beinchen auf der Stange balancieren. Aber den Schnabel aufreißen und fressen? Eine stundenlange Prozedur. Stirbt er noch oder überlebt er doch? Und dann? Ein Leben in Freiheit scheint so unmöglich. Und mein Karma wurde beschmutzt, als ich eine fröhlich des Wegs krabbelnde Ameise killte, die das kleine Rotkehlchen dann doch nicht fraß. AHHH, ich bin ein Mörder!!!


 

20. Juni, Freitag 5:45

Nachdem ich den kleinen spätnachmittags endlich dazu bringen konnte, etwas zu fressen, begann sein Sterben. Am Schluss hielt ich ihn in der Hand als er sich krümmte und die Augen  verdrehte. Immer wieder war das Leben stärker und er versuchte sich aufzuraffen, doch am Ende ein tiefer Seufzer, als würde er sein kleines Leben aushauchen und um Punkt 7 Uhr hatte er es endlich geschafft. Und ich erinnerte mich an das kleine Amselküken, das in meinen Händen starb als ich noch ganz klein war. Da war niemand, der mir den Tod erklärte, niemand der mich auffing. Mit voller Wucht erschlagen von diesem Erlebnis und für mein weiteres Leben geprägt. Ich scheine wirklich den Tod zu bringen…

 

Dann kam das Fußballspiel und meine Vermutung, noch einen Fußballschub zu bekommen, wurde immer mehr zur Realität. Was für eine Erleichterung als der Schlusspfiff endlich fiel. Eigentlich wollte ich noch Zähne putzen und dann tot ins Bett fallen, aber Martha hatte sich überfressen und alles auf das Sofa gekotzt. So viel zu dem Plan, die Katzen tagsüber nicht mehr ins Haus zu lassen, damit der Anreiz abends zu kommen, größer ist und sie die Nacht jagdfrei im Flur verbringen. Hatte ich doch prophezeit, dass diese dusslige Kuh sich überfressen und spucken würde. Und als ich meine niegelnagelneuen Hussen in der Wanne ausschüttelte, lag in all den erbrochenen Brekkis ein Kükenbein. Spätestens jetzt war auch mir nach Kotzen. Der ganze Tag einfach zu viel. Erst der Mief im Klo bei Vamos, von dem man nicht sagen konnte: Scheiße oder Kotze? Dann ein 8km Lauf bei sengender Hitze und das anschließende Hungern für die Abendpizza. Nicht zu vergessen der beschissene Erschöpfungszustand und die Migräne. Fraglich auch, warum ich immer noch nicht im Krankenhaus angerufen habe. Die linke Hand samt dazugehörigem Arm ist kaum noch zu gebrauchen. Auch fällt es mir unwahrscheinlich schwer, das linke Bein anzuheben. Warum bin ich wieder in dieser Verunsicherung gefangen und zu befangen um wenigstens telefonisch abzuklären, ob es sich um einen Schub handeln könnte oder nicht? Weil ich noch laufen kann?

Ich achtete gestern ganz bewusst auf das Straßenbild, das sich mir in Jennersdorf bot und wie schon vermutet, waren kaum noch „Österreichfahnen“ an den Autos montiert. Ich musste schmunzeln, da ich diesen Cordobamist schon nicht mehr hören könnte. Österreich ist so unglaublich klein im Selbstwertgefühl und anstelle sich selbst endlich als eigenständige Nation zu sehen, wird immer gen Deutschland geschielt und vom „arroganten, großen Bruder“ ist die Rede. Wer hier wohl arrogant war! Aber die Strafe folgte und auf der Fresse liegend hört diese Hetze hoffentlich mal auf. Das ist nur albern, kindisch und peinlich und teils hätte ich mich für mein Land geschämt, wenn ich mich diesem nicht ohnehin schon längst so fremd fühlen würde. Ich habe keinen Nationalstolz, bin nur mit Leib und Seele mit diesem kleinen Landschaftsstrich verbunden. Nicht mehr und nicht weniger. Endlosdiskussionen mit meiner Mutter, die ich wahrlich leid bin. In Deutschland lautet das Motto „BILD dir deine Meinung!“, hier erledigt das die Krone-Zeitung. Aber letztlich kommt derselbe Mist raus.


21. Juni, Samstag 9:20

Jetzt, da ich angekommen bin, muss ich mich fragen, was ich mir erneut antue.

Gestern bei dem Telefonat mit einem der Neurologen, stand ziemlich rasch fest, dass Kortison folgen würde. Erstmals über drei Tage und dann 8 Tage oral. Und ich stellte fest, dass ich trotz dem erst jüngst vorausgegangenen Marathon wieder alles verdrängt und vergessen habe.

 

(EM-Beweise auf dem Weg ins Krankenhaus)

 

Eine junge Ärztin und die Frage, ob ich denn bandagiert gewesen wäre. „Borderline…“, um den Psychiater zu zitieren. „Das auch noch…“, und lässt sich den Wind nicht aus den Segeln nehmen und trifft. Werden meine Venen am Ende noch erwachsen? Legen all die jugendlichen Kapriolen ab? Ist mir nach Scherzen zumute? Der Lauf gestern stand unter einem schlechten Stern. Erst wollte die Inkontinenz zuschlagen, ich musste die Route komplett ändern. Ein Ausflug in die Büsche machte es aber nicht besser und ich raste förmlich gen Jennersdorf, mit der ständigen Angst im Nacken, nun in die nächste Katastrophe zu rennen. Und irgendwie tat ich das auch. Ich lief die Bundestrasse durchs Dorf und stürzte. Platsch! Wieder auf die Knie und wieder den bereits mit einer Schramme verzierten Ellbogen aufgeschlagen. Unzählige Autos fuhren langsam vorbei, keiner blieb stehen. Und ich wusste nicht, ob ich nun im Frust ertrinken sollte, weil ich meine Füße nicht mehr vom Boden hochbekomme, oder weil es unglaublich peinlich war. Sebastians erster Kommentar im Büro war irgendwie hämisch: „Hat sich da jemand wehgetan?“. Was sollte das? Weil auch noch die Putzfrau im Büro rum rannte? Ich war so verletzt, auch wenn er sich danach mehrfach entschuldigte. Ich glaube, er wusste selbst nicht, warum sein erster Kommentar so ausfiel und mir war nur noch nach Heulen und Aufschlitzen. „Kannst du dir auch nur im Ansatz vorstellen wie es ist, wenn man die einfachsten Dinge nicht mehr machen kann?“.

Nun gut, ich bin wieder hier. Und ich freue mich darauf, dass mich das Kortison wieder abstürzen lassen könnte.

Nachmittag

 

 

(MS in allen Lebenslagen bei über 30C im Schatten... und dann noch diese Migräne...uhhh)

 


22. Juni 2008, Sonntag 5:45

Bums! 5 Uhr und wach. Zurück im alten Fiasko. Erste Anzeichen von Herzrasen und ein vertrockneter Gaumen. Der Besuch gestern war schön, dennoch machte er mich noch aufgekratzter und öffnete die Pforten für die kortisontypische Unruhe. Meine Güte, Tag zwei und ich mag schon nicht mehr. Das Bedürfnis, mich aus dem mir selbst auferlegten Gang nach Kanossa raus zu schneiden, war da, doch die Gegenfrage, ob ich damit irgendjemandem etwas beweisen will, ließ meine Pläne im Keim ersticken. Reiß dich gefälligst zusammen!!! Ich bin zwar da, doch ich spüre mich nicht. Die morgendliche Heparininjektion wird zum Ankerpunkt. Ich spüre nicht und ich schmecke nicht und ich habe mir vorgenommen diesmal nicht dieselben Fehler zu begehen wie bei und nach jeder vorausgegangenen Therapie: Kein Obstsalat, keine Reiswaffeln, keine Mango und auch keine anderweitigen Nahrungsmittelexperimente. Ich hatte Lust drauf, gab Geld aus und konnte es am Ende doch nicht essen. Dejavue! Das hatte ich doch alles schon gesagt und geplant und am Schluss versagt…? Jedoch der Drang herauszufinden, ob sich die Schnitte nun in ihrer vollen blutunterlaufenen Pracht präsentieren würden, ist legitim. Genau so wie das Interesse darin, wie fleißig ich an meiner Anämie gemeißelt habe. Von Monatsblutung kann nicht die Rede sein. Auch die Wunden vom Sturz bluteten kaum. Jetzt, da erneut Flüssigkeit direkt in die Blutbahn gepumpt wird, müsste es doch mehr hergeben, oder? Allein die Frage, wann ich denn wieder zur Arbeit soll, löst in mir einen inneren Konflikt samt Spannungen aus, die ausreichen würden um es zu probieren. „Aber nicht, dass Sie dann am Venflon rummanipulieren…?!“, sagte die junge Ärztin gestern mit einem eindringlichen Blick, als ich klargestellt hatte, dass ich mit dem Zugang immer nach Hause gehen darf. Pah! Wenn du wüsstest! Wann hatte ich es versucht? Im Februar oder beim vorletzten Schub im November? Überflüssig, nicht mal den Gedanken wert. Beneidenswert all jene, bei denen es funktioniert, die es aber nicht zu nutzen wissen bzw. diesen Nutzen nicht gebrauchen „müssen“. Und es ist doch noch so unendlich viel Zeit, bis ich fahren kann. Und dann? Wieder von kurz- auf langärmlig umsatteln? Oder mit Verband kaschieren, mich erklären oder den Verband Bände sprechen lassen?

7:30

Die Zeit beginnt mich aufzufressen. Was tu, was lass ich?

9:00

Viele Wege führen nach Rom, noch mehr nach Oberwart. Ein guter Tag für Routenvergleiche, bei kaum Verkehr auf den Straßen. Es gilt festzuhalten: Strecke A 50min und 45,6km. Da mehrere Behindertenparkplätze im rar gewordenen Gratisbereich frei sind, bin ich so frei und besetze einen, stolz meinen blauen Parkausweis aufs Armaturenbrett klatschend. Und um wieder ganz weit vorm LKH in einer der Nischen zu parken, fehlt mir die Kraft in den Beinen. Dabei möchte ich heute doch etwas laufen. Um 9 Uhr hängt die Flasche und nach einer Spülung kommt die Sache in Fahrt. Ich weiß nur nicht, was mich mehr nervt: Dass ich nun mit einer Hand tippen muss, weil beim Hochheben der linken Hand das Prozedere ins Stocken gerät, oder weil wieder eine arme, kleine und schwerhörige Omma im Aufenthaltsraum geparkt wurde und die scheiß Glotze wie schon gestern auf volle Dröhnung aufgedonnert wurde und ich Mühe habe, mich unter meinen Kopfhörern zu verkriechen. Und all das im Rahmen von sich erneut ankündigender Migräne. Cool. Freundliche Justierungen an Walter auf Maximum, HansPeter auf den Schoß und ich bin wieder zweihändig. Mit Hängen und Würgen. Das Tolle an der ganzen Situation ist wohl, dass das Fernsehgerät mit einer Seitenbox genau Richtung linkes Ohr schallt. Die Infusion und ich werden heute auch nicht warm. Nur sitzen und Musik hören? Geschmack ade...  Vielleicht ist es ganz gut, dass es, wenn es denn läuft, zu schnell in mich rein kracht. Umso rascher bin ich weg und hab nicht länger ein schlechtes Gefühl, den Behindertenparkplatz zu nutzen.
Die Entnervung lässt sich kaum noch kaschieren. Oh wie freue ich mich auf morgen und mein stilles Plätzchen drüben in der Ambulanz.
 Und nun auch noch in voller Klangpracht das quakende Gejaule eines zweitklassigen Tenors. Wahrlich, zum Kotzen!

Endlich, nach 50min Flucht.

Mittag

Der nette Choco- Frappee zur Belohnung nach dem Scheiß mundete nicht so sehr wie gestern noch, was eher an mir, als an McDonalds lag. Die andre Strecke kam zeit- und streckentechnisch auf dasselbe Ergebnis. Doch wo hingegen mir bei der Hinfahrt nur Jeeps entgegen kamen, hatte ich es bei der Heimfahrt nur noch mit Dränglern und Überholern zu tun. „Ja, Entschuldigung, dass ich es wage in der 100er nur 100 zu fahren und somit den Verkehr aufzuhalten!“. Sonntagsfahrer, Sonntagsraser und meine Augen versagten am Schluss gravierend.

Abend

 

 

Hirnrissig? Oder in meinem Fall hirnzerreißend? In Anbetracht der laufenden Therapie, dem Schub und über 30°C im Schatten, sicherlich nicht nachvollziehbar. Aber mich ruhig stellen und dann auch noch unter dem Einfluss von Kortison, ein Ding der Unmöglichkeit. Da müsste mir schon jemand eine über die Rübe ziehen. Die Suche nach der inneren Ruhe scheint mehr Gewicht zu haben als alles andre. Und es tat gut, und doch war ich allein von den Fotos entsetzt, da die massive Störung im Gangbild selbst für den Laien sichtbar sein müsste. Und die Augen versagen nun nach den 4km komplett und das linke Bein lässt sich kaum noch hochheben. Und noch viel entsetzter war und bin ich, dass ich mich erneut wie ein fettes, hässliches Schlachtross durch die Landschaft gekämpft hatte. Doch als LinkinPark in den Refrain überging, schüttete mich mein Körper mit Endorphinen zu, auch ohne Intervalltraining. Das Geschrei und der Gedanke an Rennen waren ausreichend, um mich in einen Rauschzustand zu befördern. Und das war es wert. Oder nicht? Ich fühlte mich gar nicht so schlecht, so widerlich. Doch die Realität sieht wohl anders aus. Hässliches Ungetüm!!!!


23. Juni, Montag 5:30

Der Abend hätte noch zu meinen Gunsten ausfallen können. Ich entschied mich für ein wenig Musik, und suchte nach Ausgleich beim Klavierspielen. Stattdessen Tränen und Frust, die Stimmung begann von gereizt ins Weinerliche zu kippen. Zudem war es auch kein schöner Anblick mit anzusehen, wie die Hände auf den Tasten hängen blieben, teils unkoordinierbar waren und versagten, so wie es gewöhnlich meine Beine tun. Abends war ich ohnehin nur noch in der Lage mich mit portionierten Tapsern fortzubewegen. Und ich musste an die ständigen Ermahnungen in der Firma denken, wenn einer der Klienten über den Flur schlurft: „Heb die Füße beim Gehen!“. Schon mehrmals musste ich mich fragen, ob es jemand wagen würde, mir auch diesen Spruch anzuhängen. Würden sie? Ich bin hypersensibel und vertrage es nicht länger, wenn man mich und meine Situation nicht ernst nimmt und dieser nicht ausreichend Respekt zollt. Ist das Verbitterung oder sind es doch die ersten Funken Selbstverstand, um auch mir Rechte einzugestehen und um deren Erhalt zu kämpfen? Und wäre ich allein gewesen, und hätte ich nicht das ärmellose Hemdchen getragen und hätte nicht meine Mutter angerufen… Das Thema „Keine Geschenkidee für Mama und Bruder“ macht mich WAHNSINNIG! Noch über eine Woche Zeit und mein Hirn steht wie eine blockierte Maschine. „Ach, das ist doch alles überhaupt nicht wichtig, Hauptsache dir geht’s wieder gut, ja?“. Ich wieder den Tränen nah, weil ich unzulänglich bin. Versagerin! Ich bin einfach nicht der Typ Mensch, der irgendeinen Scheiß kauft und diesen dann verschenkt, nur um seine Pflicht erledigt zu haben. Dann schenke ich eher gar nichts. Herzlose Präsente sind mir einfach zuwider. Und hätte sie nicht erneut gesagt, dass das doch alles nicht so wild sei, wäre ich am Ende wohl wirklich noch von kurz- auf langärmlig ungestiegen. Und warum bin ich so früh aufgestanden? Nur, damit der Tee vor Fahrtantritt meinen Körper zum größten Teil wieder verlassen hat oder um bewusst zu riskieren, dass mich die Zeit erneut auffrisst und am Ende verwundet wieder ausspuckt? In mir brodelt der Jähzorn, ich bin wieder beinahe unkontrollierbar gereizt. Das wird die nächsten Tage nicht besser sein, sollte ich nicht eine Woche frei nehmen? Und dann sieht man mich wieder beim Laufen, die Tratschmaschinerie kommt in die Gänge und dann? Mensch, waren das noch Zeiten als die Welt und alles, was sie auszumachen schien, so einfach und so kindlich naiv erklärbar war. Ich habe keine Lust mehr mich zu erklären, warum das eine geht und viele andre Dinge eben nicht mehr. Es ist NICHT meine Pflicht es zu tun, eigentlich geht es niemanden etwas an. Ein Fingerschnipsen und all die Klugscheißer für einen Augenblick in meine Situation verfrachtet –wäre dies das Allheilmittel? Zudem war mir gar nicht bewusst, dass ich eine „Very Important Person“ bin und sich so viele Menschen über mich und mein Tun Gedanken machen, nur um sich dann das Maul zu zerreißen. Absurd. Ducke mich, ziehe den Kopf ein, sehe auf den Straßen niemandem in die Augen, mache mich klein und rar. Dennoch wird man sich meiner gewahr und mein unscheinbares Auftreten scheint auszureichen, die Gemüter zu erhitzen. Habe ich jemanden umgebracht? Trage ich beim Laufen meinen Behindertenparkausweis und den Bescheid der Pflegegeldstelle protzig und irgendwie provokativ um den Hals? Was ist es? Ach, fickt euch doch alle ins Hirn!

Wut und dann wieder in mich zusammensinken wie ein kleines, getretenes Kind. Es ist noch Zeit.

 

Was macht es mit mir? Den Mund versiegeln, die Worte töten? Nach draußen sehen, wie die Sonnenstrahlen vorne auf der Wiese Grashalm um Grashalm erleuchten und alles erscheint sinnlos.

9:35

Ich hänge. Erst brachte ich noch Sebastian in die Firma und dann noch in die Apotheke, um meinen Impfstoff zu bestellen. Dabei traf ich einen der Klienten und ein kurzes Gespräch kam auf. Zu meinem Statement, auf dem Weg ins Krankenhaus zu sein, ein leicht selbstgefälliges: „Ich hab dich aber mehrmals laufen gesehen…“. „Ja, du Scherzkeks, ich bin aber schwer krank. Ich hab auch schon zu hören bekommen, dass man sich über mich das Maul zerreißt.“. „ICH NICHT! Ich weiß, dass es so ist, aber ich mach da nicht mit, mich geht das nichts an.“. Ich dankte ihm dafür und war danach letztendlich nur noch mehr geladen. Klar, was erwarte ich von den Klienten? Die meisten entweder etwas rückständig oder vom Leben hart gebeutelt. Dennoch, ich habe keine Lust mehr immer für alles und jeden Verständnis zu haben und nach Gründen für deren Verhalten zu suchen. Es reicht. Im Auto war mir wieder nur nach Heulen. Soll ich in ein Talkshowniveau verfallen und das Argument, dass alle doch nur neidisch seien, vor mir herschieben wie ein Schild? Soll ich sagen, das Gelaber ist mir egal? Ich kann es nicht. Wie kann man sich nur anmaßen über etwas zu urteilen, wovon man letztendlich doch überhaupt keine Ahnung hat? Ich beginne die Mentalität der Leute hier immer mehr zu verabscheuen. All die Gehässigkeit ist mir derart zuwider. Und dann am Ort des Geschehen angekommen, ist keiner der beiden Behindertenparkplätze mehr frei. Scheiße! Wieder irgendwo hinten entlang der Straße parken. Klar gab es näher am LKH noch freie Plätze, aber die waren wohl eher für all die arroganten Säcke mit ihren tollen Servolenkungen geschaffen, und nichts für meine antike Gurke und meinen von der Hitze schon ausreichend gebeutelten Körper. Also stehe ich wieder hunderte von Meter entfernt. Eine Qual, zumal das Kortison die Dauerschäden nur noch massiver in den Vordergrund treten lässt und Gehen kaum noch möglich ist. „Ja, klar, aber laufen geht, wie? Hahaha!!!!“. Fickt EUCH!!!

Nachmittag

 

 


24. Juni, Dienstagvormittag

Während und nach einer Stoßtherapie ist nichts mehr, wie es vorher war. Neusortieren ist angesagt. Fraglich nur, wie sich das auf die Arbeit auswirken wird. Ich hatte mich gestern zwar für die gesamte Woche krankgemeldet, aber dennoch werde ich morgen mal für meine zwei Stunden dort aufkreuzen und anschließend zur Therapie. Wenn ich es nicht ertragen kann, geh ich einfach wieder. Außerdem fühle ich irgendwie eine große Portion Kampfeslust und bin gespannt, was schon wieder über mich gelabter wird. Und irgendwie hab ich Lust, mich anzulegen. Verdränge ich doch meine typischen Aggressionen und auch die Gereiztheit in meine Träume, in denen ich dann aber wirklich gründlich mit allem und jedem abrechne. Das Laufen während der Therapie ist der Garant dafür, wenigstens etwas zu schlafen und die Unruhe in Schach zu halten. Im Spiegel wieder dieses Puppengesicht. Mir meine erste Portion Magenkiller einwerfen und verärgert darüber sein, dass sich in meinem Beipackzettelordner zwar zwei Stück von 1000mg Urbason- Stechampullen finden, aber nichts zu den Filmtabletten. Die 8 Tage scheinen gekonnt kalkuliert: Exakt eine Blisterverpackung 40mg Urbason. Ob es etwas bewirkt? Permanent mache ich meine kleinen Standardtests und darf heute feststellen, dass die Schwäche in der Hüfte zumindest jetzt nach dem Aufstehen nachgelassen hat, der linke Arm fühlt sich zwar immer noch schwer an, auch beim Tippen fallen Aussetzer auf, aber es scheint auch etwas reduzierter. Hat mich das holde Kortisonglück wieder? Der Tag scheint fürs Erste verplant: Teetrinken, nach Jennersdorf laufen, damit es etwas zu tratschen gibt, das Mittagessen immens einschränken und dann auf dem Sofa absaufen und versuchen, abends nichts mehr zu essen. Wer weiß, vielleicht auch etwas Putzen, um der Unruhe gerecht zu werden. Trotz kaum Nahrungszufuhr und  täglichem Einwerfen von Entwässerungstabletten, ist das Gewicht viel zu hoch. Das macht mich kirre und könnte noch in ganz andre Richtungen ausufern. So wie das Gewicht, meint es auch das Wetter nicht sonderlich gut mit mir und so keucht das Thermometer ostseitig jetzt um 9:40 Uhr bereits „46,7°C“. Bestes Kortisonwetter.


25. Juni, Mittwoch 2:00

Vielleicht wäre es ohne diese Hitze möglich gewesen, im Bett zu bleiben, aber so ist es schier unerträglich. Aufstehen und noch Stunden vor mir. Scheiß Kortison. Notfalls bleibt die Klinge…

 

 

Zusehen, wie das Leben an uns vorüberrast. Atemlos zurückbleiben, ohne Halt und ohne Plan. Bin ich glücklich? Nein…

 

 

5:00

Was sind das für Monster in meinem Kopf? Woher kommen sie und vor allem was haben sie mit mir vor? Alles Hirngespinste und ich Opfer der Botenstoffe und Hormone? Nein. Nicht genug! Was bin ich denn? Warum löst sich die Realität erneut auf? Begraben unter einem Trümmerhaufen zurückbleiben. „Alles wird gut!“. Wie lange noch? Wie oft noch? Wenn es mal kein Fehler ist in diesem Zustand zur Arbeit zu fahren. Aber was sollte ich sonst mit all der Zeit anfangen? Nichts ist richtig, alles scheint falsch. Mir ist speiübel. Zusammenbrechen! Aber nein, ich stehe. Unter der Dusche den Kortisonmief abschrubben, fertig anziehen und warten auf das nächste Kippen.

6:00

„Sag Tschüss zum kurzärmligen Laufhemd!“.

 

Die neue Klinge scheint wertlos, die spärlichen Rinnsale scheinen wertlos und der Schmerz zu sehr gedämpft, um von Bedeutung zu sein. Was bin ich nur für ein Schwächling! Die Welt kommt in Bewegung und ich gerate zwischen die Kontinentalplatten. Warum noch am Leben? Warum dieser Scheiß, immer und immer und immer wieder…? Um danach wieder zu vergessen und auf ein Neues in die Falle tappen? Ich wünschte, ich wäre allein und es würde endlich wieder bluten. Versager!!!  Nimm sie weg, all die Zweifel! Allein sein, um niemanden verletzen zu können. Ich kann mich nicht fühlen. Die Sonne kommt, der Tag kommt und ich ertrage es nicht. Was soll mich noch abstellen, wenn es die Verletzung schon nicht mehr vermag? Nur noch konfuses Zeug ausspucken wie Kotze. Und doch immer wieder dasselbe.

Nachmittag

Abgesehen davon, dass das Kortison nicht unbedingt für Wohlbefinden sorgte, war ich unwahrscheinlich entnervt. Wieder dasselbe Thema in der Sitzung. Und es fühlte sich nicht sonderlich besser an als bei der letzten vor zwei Wochen. Liegt es daran, weil ich mich angegriffen fühle? Und ich doch erst dazu angehalten wurde, beim Arbeiten die Maske abzulegen, damit gehörig auf die Fresse geflogen bin und nun solle ich mich erneut analysieren, was ich unterschwellig zu fordern scheine? Wieder am selben Punkt? Aufmerksamkeitsgeile Schlampe, wie? Aber das tu ich doch gar nicht, ich möchte nicht mehr als klare Strukturen, klare Ansagen und vielleicht einen normalen Umgang, ohne Abwägen, ohne Abschätzen. Was mir wichtiger sei: Die Energie darin zu stecken herauszufinden, was ich denn zwischenmenschlich falsch mache? Oder mich um meine eigenen Probleme kümmern? In Anbetracht der Verschlechterung und längerfristig betrachtet, ist es wichtiger, dass die Energie in „meinen“ Kampf  fließt. Und irgendwie fühle ich mich wieder nicht verstanden, meine Grundverfassung wieder nicht ernst genommen. Lächerlich!!! Würde ich nicht permanent über meine Grenzen gehen und so leben, wie es andre in meiner Situation tun, wäre ich heute nicht länger da, wo ich mich noch festzukrallen suche. Das ist Fakt. Ach, was weiß ich. Unter Kortison vermag ich ohnehin nicht klar zu denken, die Therapie sowie die zwei Stunden Arbeiten überflüssig. Wahrscheinlich bin ich wirklich so schlecht oder ist dies das Indiz dafür, doch mehr von einem Borderliner zu haben? Keine Kritikfähigkeit und das Bedürfnis, alles hinzuschmeißen. Es fällt mir schwer in dieser Verfassung klar zu denken, aber irgendwie habe ich auch keine Lust mehr ständig und immer die Schuld bei mir selbst zu suchen. Keine Lust und keine Kraft mehr… Vielleicht fühle ich mich in meinem Chaos auch wohl, wer weiß. Vielleicht macht es Spaß zu hungern, zu kotzen und mich aufzuschlitzen. Ich kann nicht mehr. Aber darf ich mir das eingestehen? Oder gibt’s dafür den großen „Selbstmitleidsstempel“ auf die Stirn? Ich spüre einen gewissen Bruch in der Beziehung zur Therapeutin. Das Kortison oder einfach nur ich selbst schuld? Ein Klassiker, etwas ein Jahr lang durchzuziehen und dann zu kapitulieren. Zudem sehe ich im Moment nicht, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Es ist einfach alles so egal, ich habe das Gefühl zu viel preisgegeben zu haben, fühle mich dadurch nur noch mehr geschwächt.
Bin viel zu durcheinander, um klare Gedanken zu fassen. Wiederholen, wiederholen, wiederholen. Kotzt du dich selbst nicht langsam wieder gehörig an? Nur der Anblick meines Armes spricht eine deutliche Sprache: Endlich blutunterlaufene Wunden. „Mit besten Grüßen, dein Urbason.“.

Abend

Um Haaresbreite am Hitzekoller vorbei? Wenn ich schon so scheiße bin, kann ich’s mir auch gleich noch beweisen. Jeder Schritt glich dem Eintauchen in kniehohes, heißes Wasser. Schritttempo bei konstant über 170bpm. Erst krümmte sich mein Magen, dann wurde mir schlecht, schwarz vor den Augen und die Thrombose in den Armen begann zu stechen. Dennoch rannte ich weiter, irgendwie, und hätte ich dann noch mehrmals anhalten müssen, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit zusammengekracht. Warum bist du es nicht? Du stehst ja immer noch! Das Herz raste, schon allein des Kortisons wegen, es stach und jedes Pochen ließ mich erahnen, dass dem Lauf sogleich ein jähes Ende gesetzt werden könnte. Jetzt tot umfallen, wäre auch nicht so schlimm. Wen kümmert’s? Und dann, als wir den Supermarkt verließen: „Wenn die Leute dich jetzt so humpeln sehen, denken sie, du wärst hingefallen.“, und ein dezenter Fingerzeig auf die zerschlagenen Knie. „Dann stelle dir erst Mal vor, man würde die Löcher im Hirn sehen. Jetzt können sie sich noch ihre Geschichten zusammenreimen, da würden sie dann aber schreiend wegrennen.“. Aber es wäre zumindest klar, warum die Dinge so sind wie sie sind.
Die Augen nun irgendwo verloren in tiefen, dunklen Höhlen. Tod auf Raten.


26. Juni, Donnerstagvormittag

Immer noch außer Stande, die Sitzung gestern differenzierter zu betrachten. Stattdessen mit mir selbst hadern, ob ich um 11 laufen gehe oder nicht. Zumindest halb stecke ich in meinen Laufsachen. Ich durfte endlich schlafen um nun völlig erschlagen mit starken Halsschmerzen hier zu hocken. Halsschmerzen –noch so ein Phänomen, welches ich vergessen hatte. Das Wetter ist eine Qual, ich spüre jede einzelne Beinvene. Dennoch scheint mich all dies nicht vom Laufen abzuhalten. Ständig auf der Suche nach dem nächsten Grenzgang, nach dem Zusammenbruch, dem endgültigen Verlust der Kontrolle. Ich muss ein Herz wie ein Stier haben. Und dann plötzlich die nächste Dejavueattacke: Eine Situation aus einem Traum, die in diesem schon endlos und unerträglich erschien. Mir ist schlecht. Werde ich wahnsinnig oder bin es längst? Dieselben Bilder, dieselben Abläufe, dieselbe Geräuschkulisse. Alles dreht sich und ich verharre still. Wie nach der Überdosis Antidepressiva. Mich umsehen und Fragmente aus meinem Traum wieder erkennen. Irgendwie macht es keinen Sinn mein altes Leben fortzuführen. So wie immer. Es macht alles keinen Sinn. Nicht hier zu sein, nicht darüber nachzudenken oder auch nur einen Atemzug zu tun. Schmetterlinge, so weit das Auge reicht, und ich so tot. Der Kreislauf ist allein schon mit Sitzen überfordert. „Lass es sein…“. Nein, ich will und kann nicht. Die Lüge vom freien Geist, was für ein Gewäsch! Und diese „Ja, aber“-Ansätze kann ich auch wahrlich nicht mehr hören. Als hätte ich nicht alles längst durchdacht, gedreht, gewendet, immer und immer wieder. Zwänge sind stärker als der Wille. Wohin mit mir? Den gesamten Tag auf dem Sofa liegen und auslaufen? Nächstes Dejavue. Ich möchte auch behaupten können, dass ein Tag schlecht beginnt wenn das Auto nicht anspringt oder man den Bus verpasst. Was für Lächerlichkeiten. Was für Banalitäten. Austeilen, mehr kann ich im Moment nicht. Sie fragte mich gestern, ob das Kortison wesensverändernd wirken würde oder bereits vorhandene Wesenszüge unter der zusammenkrachenden Kontrolle ausbrechen lässt. Ich weiß es nicht! Und es ist mir im Moment auch völlig egal, es reicht schon aus, dass sich das „Gesamtkunstwerk“ total beschissen anfühlt.

Nachmittag
Wieder mit konstanter Beharrlichkeit in mein Unglück rennen. Wenn die Zeit nicht immer knapp bemessen wäre, würde ich weiter rennen. Bis ich endlich umfalle. Schwarz vor Augen, das Herz beginnt auszusetzen, kann nicht atmen. Ein gutes Gefühl, mich kaputt zu machen. Verreck doch!! Zitternd findet das Leben zurück in meinen Leib. Passiv daniederliegen, Widerwillen spüren, kann und will niemanden hören und sehen, vermag nicht daran zu denken, wieder in das alte, neue Leben mit der Arbeit zurückzufinden. Einfach nur wie verprügelt und gelähmt vorhanden sein und während ich auf den ersten Blick Ruhe auszustrahlen scheine in all der Bewegungslosigkeit, brodelt es in mir und der Gedanke, mir die Klinge in den Arm zu rammen, pulsiert wie ein rasant wachsendes Krebsgeschwür. Die Möglichkeit, mich jetzt umbringen zu können, zaubert ein Lächeln auf mein versteinertes Gesicht. Es wäre nicht schlimm. Dennoch verharre ich aktionslos.

 


27. Juni, Freitagnachmittag

Die Aggression lässt sich nicht länger bändigen. Austicken, die Klingenkante förmlich in den Arm schlagen, doch kein Schmerz. Ich kann mich nicht fühlen. Nichts außer Hass und Jähzorn. Keine guten Voraussetzungen fürs Malen. Bin nur noch ungehalten und auf der Suche nach etwas Massivem…

 

Wie immer mit dem Gefühl abschließen, nicht fertig zu sein. Doch ich kann nicht mehr. Könnte etwas essen, damit es mir besser geht. Noch nicht! Ist heute der Gipfel der Unerträglichkeit erreicht? Wird es morgen endlich besser? Oder kommt nach der letzten Kortisoneinnahme am Montag ein weiterer Entzug? Es ist so unglaublich heftig, mir fällt nichts Besseres ein als mir vielleicht eine Überdosis Mirtazapin einzuwerfen. Um mich zu bremsen, mich zu betäuben, mich einfach auszuschalten. Teils fluchend, teils in Tränen aufgelöst. Ich finde mich nicht mehr.

Abend
„Ich fahr direkt nach der Arbeit um 12 nach Slowenien zu Helga. Bleib ohnehin nicht lange…“. WO BLEIBST DU????? Amok laufen, zittern, kein Anruf. Verdammt, WO BIST DU????

Das habe ich nun wieder gebraucht. Aus Verzweiflung die Handbeuge zerschneiden. Kein Schmerz, alles taub. Und als er endlich da ist, mich endlich erlöst, heulend zusammenkrachen. Und wenn die Polizei vor der Tür gestanden hätte? Mir ein Messer in den Bauch rammen?
Überlebt, wieder, obwohl ich nicht mehr kann. Endlich etwas essen…?


29. Juni, Sonntagvormittag

Das Attribut „Unerträglich“ lässt sich tatsächlich noch steigern. Seit gestern verschlechtern sich die Symptome deutlich, der Arm wird gefühlt immer länger und schwerer und die linke Hand somit unbrauchbar. Und diese massive Gangbildstörung? Lässt das Kortison alte Narben Revue passieren? Auch das rechte Bein schien gestern spastisch. Und ich renne dennoch, getrieben von dem kranken Zwang, dieses Jahr 2000km zu schaffen. Ich tue mir wahrlich keinen Gefallen damit. Doch genauso wenig würde ich mir gut tun, wenn ich es über die Zeit der Therapie bleiben ließe. Wieder, ambivalente Scheiße. Und wenn ich dachte, ich sei bereits gereizt gewesen,  werde ich heute eines besseren belehrt. In meinem Traum hab ich die Therapie bereits beendet und auch die Arbeitsstelle gekündigt. Festgefressen in einem massiven Spannungszustand: Was tu, was lass ich? Wie ich es von Anfang an befürchtet hatte, habe ich es übertrieben. Wie soll es nun weitergehen? Wenn mir nicht von Anfang an klar gemacht wurde, wie unsicher meine Position eigentlich ist, würde es mir nun nicht so unglaublich schwer fallen. Ich fühle mich einfach zu schwach für den ganzen Scheiß, und weiß doch, je länger es dauert bis ich mich wieder der Situation stelle, desto mehr Bedenken kommen mir. Dennoch, in dieser Verfassung kann ich nicht arbeiten. Morgen wieder anrufen und noch eine Woche frei nehmen? Ich bin so unendlich schwach, kann nicht mal daran denken wieder jeden Tag im Büro zu sitzen. „Ja, aber ich hab sie doch laufen gesehen…“. Blabla… Laufen als Autoaggression. Wie treffend. Ja, Laufen im Schneckentempo mit sich immer wieder über den Weg rennenden Beinen. Gehen nur unter größter Anstrengung möglich, und das auch nicht sonderlich formschön. Geschleife, Gehumple… Bin verunsichert, wütend, zornig, traurig, verzweifelt, ungehalten. Bin einfach nur hier, nichts macht einen Sinn, auch nicht mein Vorhandensein und ich sehne mich nach Betäubung.

Mittag

Wäsche aufhängen. „Ich helfe dir!“. „Nein danke, ich bin froh wenn ich irgendetwas zu tun bekomme.“. Irgendetwas konstruktives, bevor ich mich erneut in meiner Destruktivität verliere. Bin sehr schwach, brauche eine Ewigkeit. Hunderte Male Bücken weil hunderte Male ein Teil aus der Hand fällt. Und nun wieder am Beginn und auch am Ende angekommen. Ich ertrage meinen eigenen Geruch nicht. Widerwärtig. Ich hadere mit mir selbst. Dennoch ist da kein „Warum ich?“. Nur Selbsthass und Verbitterung und irgendwie genau so viel Kampfgeist. Und über allem hängt die Schwäche wie ein undurchsichtiger Nebel. Und betäubt zumindest etwas. Wäre es ohne sie noch unerträglicher? Hadere mit mir und mit all jenen, die meinen in einer Position zu sein um über mich ein Urteil zu fällen. Das Gangbild verschlechtert sich rapide mit jedem Male Aufstehen. Was ist das nun? Werden die Beine spastisch? Und ich frage mich nur noch, was ich verbrochen habe um mich selbst so zu hassen. MÖRDER!!! Es scheint keine Gründe mehr zu geben, alles verblasst, verwischt und ausgelöscht. Einfach nur von Grund auf schlecht. Warum bin ich hier? Warum lebe ich?

Abend

Die Augen versagen mittlerweile so wie der Rest von meiner elenden Hülle. Am Klavier sitzen und die Hände scheinen sich auf den Tasten nicht länger orientieren zu können. Taub und ungelenk. Was soll dieser Tag schon noch bringen? Herzrasen und noch mehr Unruhe. Würde die Klinge etwas ändern? Wer hätte das gedacht, es geht wirklich noch schlimmer. Und dann morgen? Das Gefühl, meine bloße Gegenwart ist eine Belastung? Wieder eine Arbeitszeitänderung bekannt geben und mich langsam aber sicher zum Vollidioten abstempeln lassen? Mein Zustand vie zu instabil, als dass es möglich wäre starren Linien zu folgen. Ich kann nicht mehr. „Bleib doch zu Hause!“. Wieder: Was tu, was lasse ich? Die Umwelt wirkt so feindlich und fremd, wo ist der Halt? Zitternd zusammenkrachen.

Blutend über dem Klo hängen. Tiefes Rot auf unschuldigem Weiß. Keine Antworten. Halt?


30. Juni, Montag 4:00
Auf der Treppe stehen und zusehen, wie sich die Dämmerung in die Nacht frisst, getrieben vom Gesang der Vögel, erst zaghaft, dann mit der Inbrunst eines gewaltigen Chors. Stehe da und starre in die Anfänge des Lichts und warte auf eine positive Emotion, doch es geschieht nichts. Der Turmfalke dreht laut scheltend einige Runden über der Wiese zu meinen Füßen. Da ist kein „Es ist so schön“, nur Schmerz und vielleicht Wehmut, mir der Vergänglichkeit all dessen bewusst. Und ich ertrage das Leben nicht, wie es kommt mit seiner Farbenpracht und Vielfalt. Wieder, es ist Sommer und ich erahne bereits den Herbst und das Sterben. Und stelle bereits jetzt nach dieser kurzen, quälenden Nacht meine Existenz erneut in Frage. Unterm langen Ärmel ein Kleinod. Den Verband immer wieder abziehen, damit die Schnitte aufreißen und bluten. Wird mich der Tag auffressen? Was wird die Untersuchung morgen bringen? Noch mehr Kortison, noch mehr Fragen? Oder vielleicht auch endlich mal Antworten? Meine Mutter war abends sehr seltsam am Telefon. Kein subjektiver Eindruck, auch Sebastian runzelte die Stirn. Doch ihm war es letztlich nach einem Kopfschütteln egal, mir blieb ein unangenehmer Nachgeschmack des Gesprächs im Halse hängen. Werden meine Eltern nun komisch? Und ich sah den Tod und den Verfall. Ein mieses Gefühl und letztlich ein Grund mehr. Wieder vors Haus treten um zumindest etwas kühle Luft zu atmen. Die Welt nimmt Form an. Das Paradies ist tot
Mich in einem permanenten Spannungszustand bewegen. Früher war klar: Ich konnte nicht, also ließ ich es sein. Aber mich nun permanent zusammenreißen zu müssen –dazu fehlt mir einfach die Kraft. Soll ich Mieke fragen, ob sie sich in meiner Gegenwart unwohl fühlt? Um erneut mit schon fast brutaler Direktheit überrannt zu werden? So viele Gespräche, doch das zwischenmenschliche Gefühl wird nicht besser und ich fühle mich immer noch abschätzig beäugt und irgendwie permanent bewertet. Und je länger ich erneut darüber nachdenke, desto lauter wird der Wunsch zu flüchten, wegzurennen. Rein in eine Überdosis, weg von all dem Unverständnis. Wieder ist alles so egal. Was hält mich?
STIRB ENDLICH!!!

6:00

Der Wunsch zu sterben ist so laut, ich kann nichts andres mehr hören. Im Bad vor dem Spiegel stehen und in mein totes Gesicht starren. Lauter, lauter, ohrenbetäubend. Da ist die Medikamentenkiste. Keine Regung. Würde es nun helfen, zu weinen? Ich kann nicht! Doch was bleibt? Eine Stunde ins Klo bluten. Viel Blut, was mir erst bewusst wird, als ich aus der Trance erwache und mich ein massiver Schwindel packt. Die Schreie nach Erlösung erlischen, leiser und leiser. Der Arm ist so taub, jeder Schnitt, jedes noch so kleine Aufblitzen von Schmerz wie ein Aufatmen. Ein Kuhhandel. Und nun Stille, Betäubung. Der Blutverlust? Der Körper sinkt in sich zusammen. Haltlos, wehrlos, kalt und irgendwie tot. Reicht es?

So viele Gedanken, und ich vermag keinen einzigen zu Ende zu bringen. Angst, in der Psychiatrie wieder aufzuwachen? Will nicht, dass man mir hilft. Ist das alles, was dich abschreckt? An alle andren denken? Mir vorwerfen, ich sei auf der Suche nach Mitleid? Was für eine überdimensionale SCHEISSE! Verständnis? Wieso? Alles in mir sträubt sich dagegen andre in mir rumwühlen zu lassen, zuzulassen, dass man mich verändern will. Mein Feldzug? Gebt es auf. Sinnlos und irgendwie nur noch eine Frage der Zeit.

Nachmittag

 

(Wieder vor einem möglichen Wendepunkt?)

 

Mein Körper schreit nach Schlaf, doch ich kann ihm diesen nicht gewähren. Bei der Arbeit wurde vor der Tür über mich diskutiert als ich vorüber zog. „Die geht doch immer so!“. Und einer der Klienten, welchen ich montags doch noch auf der Straße getroffen hatte, ergriff Partei für mich: „Ihr habt doch keine Ahnung, wie schwer es ist mit so einer Krankheit!“. Irgendwie süß, irgendwie war ich geschmeichelt. Ich sprach auf ein Neues meine Unsicherheit an und fühlte mich danach besser. „Von mir aus kannst du bis 2009 deine Zeiten nacharbeiten!“. Nun endlich etwas gefestigt?
Die Kluft zwischen der gehenden und der laufenden Version von mir wird immer tiefer. Ich rannte durch Jennersdorf, langsam, denn es fehlte die Kraft und auch die Sicherheit. Ständig blieb das linke Bein im Bewegungsablauf einfach hinten hängen und zog nicht nach. Dennoch über 7km im strömenden Regen. Kein Vergleich zum Gangbild. Als ich dann einen Zwischenstopp bei meinem Hausarzt machte und mich in die Schlange der auf ein Rezept Wartenden einreihte, wurde ich von der Seite angesprochen. „Geht es dir nicht gut?“. Ich sei so blass. Blutverlust führt nicht zwangsläufig zu mehr Lebendigkeit im Teint. Ich und blass… Sieht man endlich mal wie scheiße es mir geht? So manch einer glotzte wieder verdutzt, wenn ich stoppte und ein paar Schritte ging. Hatte der Orthopäde damals nicht das Phänomen, welches mich als Simulanten abstempelt, so erklärt, dass Laufen und Gehen von zwei verschiedenen Stellen aus kontrolliert werden?

Mittlerweile bekomme ich die Füße überhaupt nicht mehr vom Boden hoch und es erscheint wieder absurd, noch vorhanden zu sein. Und nun kommt auch noch die Sonne wieder raus und es wird schlagartig noch unerträglicher. Beschissene Unruhe! Darauf hoffen, morgen bei der Fahrt ins Krankenhaus einem Unfall zum Opfer zu fallen? Weiterleben, Sterben, alles egal. Herzrasen, mir ist schlecht und ich hasse mich.


1. Juli 2008, Dienstag 5:15

„Kannst du überhaupt fahren?“. Wenn nicht, hab ich eben Pech. Oder Glück. Klar werde ich ankommen und wie immer auch wieder nach Hause kommen. Ertrage mich selbst nicht, in allem was mich ausmacht. Und dann dieses verdammte Wetter. Die Haut vom Leib reißen? Die letzte Dosis Kortison einwerfen. „NIE WIEDER Ausschleichen!!!“. Es mir auf die Stirn meißeln um es nicht wieder zu vergessen? Wieder eine unruhige Nacht, der Körper fühlt sich nach Zusammenbrechen an. Warum tust du es nicht endlich?!!!! Hässliche Puppenvisage, die wunderschönen Schnitte beim Regen gestern ausgeschwemmt und der Rest defekt bis nicht mehr vorhanden. Mir Gedanken darüber machen, ob ich etwas essen werde oder nicht. Ob ich „darf“. Wie stehen die Chancen auf einen der beiden Behindertenparkplätze direkt vorm Betonklotz? Nur bei dem Gedanken, wieder hunderte von Meter gehen zu müssen, beginnen meine Beine unangenehm zu kribbeln.

8:00

Wo steht sie?

 

(...vom Auto aus ist nicht mal das Krankenhaus zu sehen...)

 

Nicht auf dem Behindertenparkplatz. Eine Schinderei, aber ich hab's wohl nicht anders verdient. Der Körper zittert vor übermächtiger Anstrengung. In der Ambulanz eine unfreundliche Schnepfe. Die Sekretärin? Und während man hier so hockt und in sich zusammenfällt, zieht eine Horde Nordic-Walker durch die Neuro- Ambulanz. Hab ich Visionen?

 

 

War als Erste da, hab mich als Erste zum Rapport bei Schwester Elisabeth gemeldet, doch ob das Einfluss auf die Wartezeit hat, wage ich zu bezweifeln. Den ersten Teil der Strecke brachte ich damit zu, mich im Geiste mit Tempo 100 ungebremst von der Straße abkommen zu lassen. Die restliche Fahrt verbrachte ich mit Dränglern und einem geisteskranken Überholer, dessen Leben ich mit meinem Sicherheitsabstand zum LKW vor mir sicherte. Und nun wieder

Unruhe, Zittern und das Bedürfnis, mich selbst vor lauter Griesgram und Jähzorn zu beißen.

11:00

Also doch ein neuer Schub, wie? Ich solle zwei Wochen abwarten, wenn es sich nicht bessern würde, könne man nochmals Kortison verabreichen. Als ob ich so scharf drauf wäre. Wieder zu Hause, erneut am Zittern. Und am Hadern, ob ich jetzt in diesem absoluten Katastrophenzustand laufen gehe oder es mir aufspare für das nächste Loch, das sich heute bestimmt noch vor mir auftun wird. Denn eigentlich sagt alles in mir „NEIN! KANN NICHT!“. „Das Laufen ist im Gegensatz zum Gehen ein automatisierter Bewegungsablauf.“, sagte meine Neurologin und dass es schon insoweit zusammenhängen würde, da wenn man überhaupt nicht gehen kann, auch nicht laufen könnte. Klingt logisch. Ist das nun eine gute Erklärung, die ich all den Schwätzern entgegenschmettern kann? Ergo übt man beim Gehen mehr Kontrolle aus als beim Laufen, und diese ist eben gestört? Meine Augen versagen total. Aufs Sofa und schlafen? Vergiss es!

Nachmittag

Ertrage mich nicht, ertrage mich den gesamten Nachmittag auf dem Sofa nicht, ertrage weder die Hitze, noch die massive Schwäche, die meine Laufpläne absurd erscheinen lässt. Mich aus meiner Unerträglichkeit schneiden. Doch es blutet schon wieder nicht. Noch tiefer in dieses beschissene Gefühl gestürzt. Herzrasen, leichte Kopfschmerzen, massiver Schwindel. Batsch –wieder aufs Sofa geprügelt. Schönes Leben. Bewegungslosigkeit und Essen? Unvereinbar?

Abend

Geht’s dir noch nicht schlecht genug? Dir kann geholfen werden!!! Kotzend im Klo hängen. Warum sterbe ich nicht einfach?


2. Juli, Mittwochvormittag

Ich sollte noch im Bett liegen, vielleicht den ganzen Tag im Bett bleiben. Warum stehe ich schon wieder? Getrieben von Zwängen? Zwänge so weit das Auge reicht. Zwanghaft mich selbst um 9 aus dem Bett treten, damit sich vor dem Lauf noch alles weitere ausgeht. Zwanghaft den Bauch einziehen bevor ich auf die Waage trete (als ob das etwas am Gewicht ändern könnte). Und nun mich dazu zwingen 2 Liter Tee in mich reinzuschütten um dem Stoffwechsel ebenfalls einen Tritt zu verpassen um nicht wieder in die nächste Katastrophe zu rennen. Alles durchdacht, durchplant, durchstrukturiert. Und dann nachmittags? Ich kippe immer wieder.

„Na, Kortison? Erzähl mal was du die letzten Tage gemacht hast.“. Nichts? Wieder kein einschlagender Erfolg, keine signifikante Besserung. Vom Gegenteil müsste die Rede sein. Und von psychischen Tiefschlägen. Wir unterhielten uns gestern über diese Frau, die per Euthanasie starb, ohne krank zu sein. Jeder hat das Recht sein Leben zu beenden. Und Sebastian dachte laut darüber nach, wann hingegen er kein Verständnis dafür hätte. „Und was ist mit mir?“. Der Gedanke, ein Pflegefall werden zu können, schraubt meine Wertigkeit noch weiter runter. Und ich bin mir mittlerweile sicher, nicht eines natürlichen Todes zu sterben. Und da wären noch die Zwänge. Wäre da nicht der Zwang, ständig an alle andren zu denken. Was wäre, wenn wirklich niemand mehr da wäre, auf den es Rücksicht zu nehmen gilt? Niemand außer mir und meinem Leben, das ich nicht leben will? Warum leben? Meiner Fähigkeiten, meiner selbst willen? Lebe ich nur noch für andre? Der Gedanke, dass mit dem Sterben die Stille und das Nichts kommen, tröstet. Ich bin das Kämpfen um jeden einzelnen Tag leid. Und dennoch tu ich es, wahrscheinlich auch zwanghaft. Drum sitze ich wieder hier in meinen Laufsachen, bereit für die nächste Schlacht. Die Beine kribbeln unangenehm.

Abend

Sebastian spricht immer wieder davon wie es dann ist, wenn wir beide im Greisenalter angekommen sind. Ich glaube nicht mehr daran, dass ich alt werde. Ich glaube überhaupt an nichts mehr. Diese eine Stunde laufen, diese 57 Minuten, ein Befreiungsschlag. Frei sein, vom Fleck kommen. Und dann? Wieder zusammenbrechen, auf dem Sofa liegen, bewegungslos und doch noch so viel Leben in mir, um dieses nicht zu ertragen. Gäbe es eine Waffe im Haus, eine klitzekleine Fingerbewegung, mehr nicht. Ich kann nicht mehr, alles ist unerträglich, ICH bin unerträglich. Will nicht alt werden, will nicht mehr an Weiterleben denken. Mich ins Koma befördern und darauf warten, dass es dann besser ist, wenn ich wieder aufwache? Bin nicht stark genug, nicht stark genug für die Geburtstagsfeier meiner Mutter morgen und auch nicht für die große Party am Freitag. Bei dem Gedanken zuhören zu müssen, wird mir schlecht. Je mehr meine Mutter vorhin beim Telefonat redete, desto mehr drehte sich mir der Magen um. Ich kann nicht, kann nicht mehr… Es tut mir leid, so unendlich leid. Ich ertrage niemanden und sehe doch alle sterben. Morgen essen, übermorgen essen. Wieder im Anschluss kotzend im Klo hängen? Meine letzten Reste Würde runterspülen, hinab in den Gully zu all den andren Fragmenten meines jämmerlichen Daseins. Zu all den Puzzleteilen, deren Verlust nicht ausreichte um das Bild unkenntlich zu machen. Warum bin ich noch hier? Nach dem „Warum fühle ich mich so schlecht?“ frage ich nicht.

Unter den schwarzen Pants kommen die Narben auf den Oberschenkeln zum Vorschein. Kurz vorm Kippen ins Bad flüchten und ins Klo bluten. Es hilft alles nichts mehr...


 

3. Juli, Donnerstagmorgen

Keine Änderung. Hungern. Und keine Besserung der neurologischen Ausfälle. Die Schnitte von gestern harmlos. Wieder so ein schöner Sommermorgen und ich hasse ihn. Alles in mir sperrt sich gegen diesen Tag. Doch ich muss irgendwie noch ein Geschenk besorgen. Bin ich einfach nur zu schwach? Oder depressiv? Ich KANN nicht. DU BIST SCHLECHT!!! Wahrscheinlich.

Mich den Zecken zum Fraß vorwerfen und einen Blumenstrauß binden. War der Kauf neuer Laufschuhe gestern unsinnig? Wer weiß. Möchte heulend zusammenbrechen, aber das würde nichts ändern. Alle Hoffnung in den Lauf setzen und wieder für eine Stunde Flügel bekommen.


 

4. Juli, Freitagvormittag

Die Feier war schön und tat umso mehr weh. Im Traum fand ich mich in diesem Schmerz wieder, mit einer Intensität, wie er mich als Kind immer wieder zu überrennen suchte. Als sei soeben jemand gestorben. Der Lauf heute Morgen war verseucht mit Schmerzen. So wie bereits gestern. Massive Magenkrämpfe. Das Kortison oder das Hungern? Und die Arme zu schwach, als dass ich mir die Finger in die schmerzende Stelle graben könnte.

 

Den zerschnittenen Arm, die immer älter werdenden Hände auf der weißen Teetasse betrachten. Warum bin ich noch hier? Warum überhaupt vorhanden? Ich kann mich nicht leiden.


 

6. Juli, Sonntagnachmittag

Wieder zurück in den alten Lähmungen beim Laufen. „Aber es ist doch alles gar nicht so schlimm…“ und „Man kann nichts feststellen.“. SO EIN SCHWACHSINN. Gestern irgendwo auf der Strecke bewegungsunfähig stehen geblieben. Heute mich bis zu unsrer Einfahrt zurückquälen und dann nicht mehr in der Lage das linke Bein für noch so mickrige Schritte zu heben. Besserung? Ja, vielleicht eine klitzekleine Besserung der Symptome, die aber erst mit dem Kortison aufgetreten sind. Alles andre bleibt gleich. Kann das linke Bein aus der Hüfte heraus nur ein Stück heben und der linke Arm ist immer noch taub und die Hand plump. Mein Leben kotzt mich an und ich kämpfe trotzdem. Warum? Für wen oder was?


 

7. Juli, Montag 6:30

Was für ein wunderschöner Resttag, mit guter Laune und Ruhe auf dem Sofa. Doch zu welchem Preis? Zum Frühstück drei Scheiben Brot. Dann lange nichts bis hin zum Blutzuckercrash. Irgendwann gab es Eis und ich sah mich gezwungen eine für mich logische Konsequenz daraus zu ziehen: Kotzen. Schön, manche Dinge verlernt man wirklich nie. Einmal essgestört, immer essgestört. Und weil die Maschinerie krachend in die Gänge kam und ich danach wieder etwas musste, hing ich nach dem gesunden Abendessen erneut kurz über dem Klo um das „zuviel“ zu beseitigen. Sozusagen die paar Happen, die meinen geheuchelten Seelenfrieden ins Ungleichgewicht brachten. Ich weiß nicht, bin ich abgesehen davon gut gelaunt? Verletze mich nicht. Zumindest nicht offensichtlich. Doch warum kann ich dann niemanden sehen, will niemanden sprechen? Warum fühle ich mich zu schwach für die Arbeit nachher? Und warum denke ich unentwegt daran, wie es wäre wenn nun die absolute Katastrophe eintritt, jemand stirbt und nichts mehr so ist wie es vorher war? Um mich selbst zu bestrafen? Bin völlig durcheinander, von einer konstanten Gemütslage kann nicht die Rede sein.

Der Tag wird so ablaufen wie alle andren auch und allein diese Tatsache kotzt mich an. Arbeiten, immer wieder funktionieren, laufen bzw. kämpfen, mit dem Essen und mir selbst hadern und mit viel Glück den gelähmten Zustand auf dem Sofa nicht lange ertragen und durchdrehen. Schöne Aussichten.

Nachmittag

Ich HASSE mich!


 

8. Juli, Dienstag 6:30

Die Tage fressen sich ins Jahr, die Mitte überschritten und ich müsste jeden Tagen mindestens 5,5km laufen um mein 2000km –Ziel zu erreichen. Gestern war massiv zu spüren, dass bei Kilometer 4 ein Umbruch stattfindet, sozusagen die Freischaltung für die Lähmung, die dann ab Kilometer 5 aktiv wird. Genau so war es auch vor über einem Jahr mit dem Gehen. Genau so frisst sich die MS langsam in jeden Bereich meines Lebens vor. Gaukelt einem Kompromisse vor, um sich am Ende doch alles geholt zu haben. Und dann zu behaupten, da sei nichts feststellbar und alles halb so wild, erachte ich als vermessen. Zudem man mir nicht mal vorwerfen kann, ich hätte all die andren Dinge und Fähigkeiten kampflos hergegeben. Die Laufsachen sind gepackt, direkt nach der Arbeit werde ich wieder kämpfen. Ob sengende Hitze oder nicht, ist egal.

So wie jetzt, macht auch die Arbeit Sinn: Allein im Büro, eine Liste mit Aufgaben zum Abarbeiten und hie und da die Gesellschaft von Heidi, der Gartenbereichsleiterin. Ich mag Mieke sehr gern, und dennoch fühle ich mich klein und unwohl in ihrer Gegenwart. Warum? Fühle ich mich beobachtet? Hat sich der Satz „Und wenn es nicht funktioniert, ist die Zeit eben nach 6 Monaten um und du brauchst gar nicht erst nacharbeiten.“ so massiv eingebrannt? Das tat weh, die Fronten schienen klar und auch irgendwie verhärtet. Hätte sie sich besser ausgedrückt, wenn Deutsch ihre Muttersprache wäre? Und eigentlich habe ich keine Lust mehr darüber nachzudenken, habe wahrlich andre Probleme als diese Kinderkacke. Und wahrscheinlich ist es wirklich nur „mein“ Problem und sie merkt von alle dem nichts.
Mein Gewicht ist wieder viel zu hoch und ich denke nur, dass das die Strafe fürs Hungern ist. Kann gut gehen, muss es aber nicht. Der Tag wird wieder lang, der Nachmittag wird lang. Aber für was oder wen sollte ich mich in Zaum halten?

Nachmittag

Die Langeweile, der Nachmittag, das Gefühl keinen Sinn zu haben -alles frisst mich auf. Ich muss etwas tun, doch ich kann nicht. Die Gewissheit, nichts kann mich retten, überwiegt und doch versuche ich es, Schmerz mein bester Freund. Das Blut ist so unendlich dick, teils wundere ich mich dass es noch durch meinen Körper zirkuliert. Da sind Termine und ich ertrage es nicht. Es regnet, leichtes Fieber, bin erschlagen und schaffe es doch nicht, auf dem Sofa liegen zu bleiben. So überflüssig. Ich hasse mich, sehe völlig beschissen aus. Fettes, hässliches Ungetüm!!! Aspirin schlucken, mit dem Wissen, es vielleicht nochmals zu versuchen. Es hilft doch ohnehin alles nichts!

 

Auf der Suche nach der Aspirinpackung über den nächsten Pissfleck stolpern. Auf meinem Rucksack, auf den Tabletten. Ich kann nicht mehr und brülle lauthals durch den Flur. Die Katzen kennen das nicht, kennen mich so nicht, erschrecken und flüchten. Besser so. Die Frustrationsschwelle ist extrem niedrig, immer noch, und ich habe mich selbst nicht unter Kontrolle. Jetzt könnte ich mir die Klinge gleich ein zweites Mal ins Fleisch rammen!!!

Abend

Danke RTL und NEIN, ich bin kein Emo. Was für eine gequirlte Kacke. Nun gut, Futter fürs HappyHippo-Volk. Wie sagte die kleine Emotante im Bericht? „Wir sind starke Persönlichkeiten!“. Ich nenne es saublöd sich zu verletzen, nur weil es zur Mode gehört. Und wenn richtig, dann krank. Früher schimpfte sich das noch „Borderliner“, heute Emo, oder wie darf ich das verstehen? Und RTL zaubert, um die Panikmache zu komplimentieren, einen Emosuizid aus dem Ärmel, der sich wie viele andre junge Menschen auch ohne diesen Trend getötet hätte.

Sebastian ist da, das Abendessen holte mich aus meinem erneuten Blutzuckertief. Bin ich nun in der Lage mich zu „beherrschen“? Die Abendsonne vertreibt die Wolken und beim Klavierspielen wird erst das ganze Ausmaß der Empfindungsstörungen in den Händen sichtbar. Dem Abend eine Mondscheinsonate schenken und danach wieder haltlos und aufs nächste Austicken warten. Bin so überflüssig, so unnütz.

 

 


Zurück zur Hauptseite