31. Oktober 2008, Freitag
7:30
Wie kann man mit einem Schlag ein Glashaus kaputt machen?
Und wie sieht dieses aus, wenn gleich mehrere Steine drauf
einprasseln? Vorgestern war der Postkasten leer, gestern voll gestopft
mit Briefen. Jetzt erst kam die letzte Rechnung für die letzten
Therapiesitzungen. Seltsamerweise hatte ich am Tag zuvor aus heiterem
Himmel darüber nachgedacht, ob nicht noch etwas zu zahlen sei. Bei
meiner Hirnleistung konnte ich es nicht mehr wissen. Doch der absolute
Oberkracher kam erst: Eine Vorladung in die BH zur Nachuntersuchung
das Pflegegeld betreffend. Schluck. Im ersten Moment wäre ich am
liebsten weggerannt, im zweiten hätte ich mich aufgeschlitzt. Tat
keines von beidem, blieb sitzen, unglaublich angespannt, unruhig und
entnervt. Und warf mir selbst vor, ob ich überhaupt ein Recht dazu
habe? Da war die Angst, dass sie mich laufen gesehen hat. Es ist und
bleibt ein Dilemma: Einerseits denke ich kein Recht zu haben, dieses
Geld zu beziehen, andrerseits brauche ich es aber, da mit 360€
Kinderbeihilfe ein Leben kaum leistbar ist. Und? Gönne ich mir denn
etwas? Es geht einzig und allein um Sparen. Sparen, um die
Wohnbauförderung abzubezahlen. Mittlerweile lasse ich schon Tabletten
weg, nur weil es mir auf die Dauer zu teuer wurde. Wenn wir nicht
alles geschenkt bekommen würden, hätten wir nichts. Und dann dieser
Umstand, Sebastian verleugnen zu müssen. Es kotzt mich an, es widert
mich derart an, dass mir schlecht wird. Was ist da noch? Durch diesen
inneren Kampf, diese Anspannung erneut einen Schub loszutreten?
Eigentlich müsste ich das Geld einsetzen, bräuchte Hilfe. Aber ich
spare es lieber und quäle mich, gehe an und weit über meine Grenzen.
Bin ich so schlecht? Und schon geht’s mir schlecht. Krampflöser
einwerfen.
Vormittag
Nicht wissend, wie mein Körper auf die „ungewohnte“ Strecke
reagieren würde, entschied ich mich für die kürzere Variante. Doch die
Parese hielt sich im Hintergrund, es war wunderschön die Kraft in den
Oberschenkeln zu spüren. Über die Hügel, durch die atemberaubende,
herbstliche Landschaft, mein Schatten lief neben mir her und es sah so
unendlich kraftvoll aus.
Und es war deprimierend, als die Kraft schlagartig nach 5km mit dem
ersten kurzen Stückchen bergab endete. Als ich am höchsten Punkt
angelangt war und mir das Lafnitztal zu Füßen lag, sah ich irgendwo da
unten in der Weite der Ebene einen Punkt rumlaufen, sah mich selbst,
meine Kindheit, meine Jugend. Und ich wusste, meine Vergangenheit ist
tot. Stand da, sah all die Pracht, spürte die unendliche Schwäche und
den Zerfall und Tränen stiegen mir in die Augen. „Wie lange noch…?“.
Ich rannte weiter, mit der einsetzenden Lähmung kämpfend. Als ich
erneut anhielt, konnte ich unten im Graben das Haus meiner Eltern
sehen und spürte den Tod. Noch mehr Tränen. Doch ein Bekannter trat
aus seinem Schuppen direkt neben mir hervor und ich rannte weiter. Die
letzten Meter humpeln. Den Hohlweg zum Haus erklimmen indem meine
Hände das linke Bein Schritt für Schritt hochziehen.
Wahrlich, mir ist nach Heulen. Darf ich denn? Was ist recht und was
nicht? Jetzt sind sie da, all die Tränen über den schleichenden
Verlust. Darf trauern um das, was mir das Liebste ist. Die Wand,
hinter der all der Schmerz verborgen lag, eingebrochen. Sehe mich
gezwungen mich erneut mit dem Desaster auseinanderzusetzen, obwohl ich
doch viel lieber einfach so in den Tag hinein leben würde um jeden
Funken Kraft zu genießen, ehe es zu spät ist. Mit verheulten Augen im
einfallenden Herbstlicht zusammensinken wie ein kleines Kind, das
Angst hat, verlassen zu werden. Da ist alles –der Tod, der eigene
Verfall und noch mehr Tod. Ich darf nicht glücklich sein…
Wenn es doch so weh tut, warum sterbe ich dann nicht?
1. November 2008,
Samstag 7:45
Capuccinoschlürfend auf den Laufstart warten. Es regnet,
die Zweifel an meinem Vorhaben waren aber nur von geringer Intensität.
Und bereits nach kurzem Kalkulieren war klar, dass nun zu laufen die
beste Option sei. Es ist nicht kalt, so spielt das nasse Wetter keine
Rolle. Entscheidender ist das Gefühl in meinen Beinen. Nicht unbedingt
prickelnd. Wir waren gestern noch in Fürstenfeld und gingen durch die
Stadt, auf der Jagd nach einer Brille für Sebastian. Bereits nach dem
Ausstieg aus dem Auto humpelte ich massiv, und es wurde nicht
unbedingt besser. Wir amüsierten uns darüber, wie ungeniert die Leute
glotzten, weniger amüsant war dann der Umstand, dass nach einer Weile
die Beine verkrampften und zu schmerzen begannen. Der Optiker
versuchte Sebastian mit Sprüchen wie: „Damit sind Sie up to date!!“,
und: „Das ist TOTAL in Mode!“, zu ködern. Eigentlich der falsche Köder
für den falschen Fisch. Letztendlich entschied er sich dann, mein
Portmonee blutete schon in schmerzhafter Erwartung und er fühlte sich
schlecht dabei, mich anpumpen zu müssen. Doch mein Geld ist auch sein
Geld. Abends besuchten wir dann noch Margit, unsre Nachbarin. Das alte
Bauernhaus ist ein TRAUM. Wieder erblassten wir vor Neid, als wir nur
die erste Stufe betraten. Ihre Freundin, die Sprechstundenhilfe meines
Hausarztes, traf auch noch ein und wir unterhielten uns erst ganz
angeregt. Doch ich merkte, dass ich das irgendwie nicht mehr kann.
Bzw. nur kurz. Dann war ich überfordert und verfiel diesem Schauspiel.
Reagierte nur noch so, wie man es von mir erwartete. Zudem fühlte ich
mich scheiße, da sich immer irgendwie alles um meinen Dachschaden
drehte und auch wenn nicht ich die treibende Kraft war, es war mir
unangenehm. Irgendwie kam die Schuld und beutelte mich. Auch deswegen,
weil mein Interesse an meinem Gegenüber irgendwann schwand und ich
einfach nicht mehr richtig zuhören konnte. Wie ich schon erwähnte: Ich
bin und bleibe wohl ein gesellschaftlicher Krüppel. Kein gutes Gefühl.
Zumindest dann nicht, wenn man gezwungen ist zwischenmenschlich zu
agieren.
Es regnet stärker –nehme ich die lange oder die kurze Strecke? Um halb
12 muss ich fix und fertig sein für das Essen bei meiner Mutter…
3. November, Montag 6:00
Bei Kilometer 5 von einem gemächlich dahin trottenden
Läufer überholt zu werden, tut weh. Und dass er es dann noch in diesem
Tempo schafft, mich abzuhängen, schmerzt noch mehr. Zudem hatte er,
laut seiner Aussage, schon 15km auf den Latschen. Wie deprimierend.
Zum Glück dauerte das Schauspiel nicht unerträglich lange, da er nach
dem Überholmanöver gleich sein Haus erreicht hatte und länger hätte
ich seinem fast hypnotischen Stil nicht zusehen können. Liegt es
wirklich daran, dass ich nicht unbedingt ein Riese bin? Oder bin ich
so langsam? Ich komme mir selbst gar nicht so langsam vor. Meine neue
Hose ist auch eine Enttäuschung, sie ist viel zu weit, aber unter den
gegebenen Umständen, ist es ein Wunder dass diese Überhaupt Form und
Sitz ihr Eigen nennt. Dieses Rumgepfusche wegen zuwenig Stoff ist
unwahrscheinlich nervig. Lass ich sie an oder werfe sie gleich wieder
rüber ins Atelier auf den zu bearbeitenden Haufen? Vielleicht ist die
Passform nach der Kanne Tee eher gegeben. Und eigentlich mag ich
nicht. Mag nicht wach sein, mein Schädel dröhnt erneut. Sind mir doch
tatsächlich gestern die Tabletten ausgegangen und nachdem ich bereits
mittags schmerzhafte Krämpfe hatte, war die Befürchtung, abends
deswegen nicht schlafen zu können, mehr als berechtigt. Ich versuchte
nicht daran zu denken, was mir wahrlich nicht gelang, doch mein
Dachschaden war gnädig und ersparte sich und mir die Müh. Schlummerte
doch noch eine ganz andre Sorge tief in mir und machte Unruhe: Die
Vorladung. Morgen ist es soweit und ich erwäge wirklich, dem Rat
Margits und Mariannes vom Freitag zu folgen und mir für den Fall der
Fälle eine Bescheinigung vom Hausarzt zu besorgen, dass das Laufen
wichtig ist und einen unverzichtbaren therapeutischen Effekt habe.
Wieso nicht? Es ist ja auch eine Tatsache, dass ich ohne das Laufen
GARNICHTS mehr könnte. Andre haben einen Physio, ich meine Asics und
einen unbrechbaren Willen. Nur für den Fall, dass sie mich wieder
erkannt hat. Den Lauf morgen kann ich mir wohl knicken, obwohl nur
noch 100km bis zu meinem Ziel fehlen und diese ohne weiteres in 10
Tagen machbar sind. Genau so gut kann ich mich auch hinsetzen und die
Fassadenrollländen hochlassen und die gesamte Untersuchung hindurch
heulen. Die Angst, morgens aufzuwachen und wieder irgendein neues
Symptom mein Eigen nennen zu dürfen, ist seit der Erkältung ohnehin
wieder fast unerträglich. Und nun noch zusätzlich dieser Stress durch
diesen Termin morgen. Die Vergangenheit und meine Erfahrung, die ich
machen „durfte“, sagen mir, dass dies ein äußerst kritischer Moment
ist. Situationen wie diese endeten zu 90% im Krankenhaus. Versuche
ruhig zu bleiben. Haha, dass ich nicht lache. Ständig rotiert es durch
meinen Schädel, was ich sagen darf und was nicht. Wie bescheuert.
Lügen, um die Existenz zu sichern. Beschämend…
4. November, Dienstag
6:00
Der Tag war durchwachsen. Als ich im Büro ankam, machten
sich schlagartig die Entzugserscheinungen bemerkbar. Ich zitterte am
ganzen Leib, bei jedem einzelnen Schritt zitterten meine Beine,
zitterte mein ganzer Körper. Nun gut, das tut er nun schon seit etwa 2
Wochen, aber in diesem Moment in einer Ausprägung sondergleichen.
Konzentrieren war zwecklos. Nachdem ich mein Käsebrötchen vertilgt
hatte, legten sich zumindest die Zeichen des Blutzuckertiefs und als
ich ging, sprach ich kurz die Vorladung an. Mieke versuchte mich zu
beruhigen und dass die Amtsärztin doch ohnehin ganz lieb sei. Als ich
fuhr, war es höchste Zeit, meine Augen nur noch grenzwertig zum
Autofahren geeignet. Die neue Servolenkung ist ein Traum und
erleichterte zumindest das Durchkurven all der Kreisverkehre und das
Einparken. Nach dem Dehnen führte mich mein erster Weg in die
Apotheke, wo auch meine Lieblingsapothekerin auf mich wartete.
„Notfall!“, und ich drückte ihr mein Rezept für das Lioresal in die
Hand: „Hab schon totale Entzugserscheinungen!“. Sie verschwand nach
hinten, kam wieder, sah wehmütig auf mein Rezept und teilte mir wieder
mit, dass sie es total erstaunlich fände, am selben Tag Geburtstag zu
haben. Ich gratulierte und sie meinte den Runden gefeiert zu haben.
„Ach den 30er?“. Sie war geschmeichelt, denn es war der 40er. „Also
bedeutet das, dass die Oktobergeborenen länger frisch bleiben?“, und
ich zückte die EC-Karte. Sie winkte ab und meinte, ich müsse nicht
zahlen. Im ersten Moment war ich perplex, war mein Kompliment so gut
angekommen, zumal ich wirklich dachte sie sei erst 30? „Gebührenbefreit!“,
sagte sie lächelnd. „Nein! Nein? Hab ich’s endlich geschafft? Ich
würde nun einen Kniefall machen, wären meine Beine nicht so steif!“.
Kaum draußen, warf ich schon meine Tablette ein und lief noch ziemlich
steif los. Mein Tag hatte eine gute Wendung bekommen. Ein
wunderschöner Tag, ZU schön für einen November. 20°C und mehr im
Sonnenschein. Zudem habe ich DEN Grundfehler schlechthin begangen und
freitags beim Besuch auf die Frage, ob man sich mit dem Laufen nicht
die Knie ruinieren würde, meine Geschichte erzählt und dass all die
kleinen Kniffe reichen und ich schmerzfrei sei. Pustekuchen! Da war
er, der Knieschmerz. Sonntags links, gestern rechts, und heute
schmerzt es richtig, auch im Ruhezustand, und das Gelenk ist heiß.
Voltaren muss es richten. Nach dem Mittagessen, als alles erledigt
war, wurde mir klar, wie lähmend diese Unruhe in mir sein kann. Hinzu
kam noch die genau so lähmende Müdigkeit. Erst versuchte ich es mit
Gehirnjogging, anschließend mit der Glotze. Es schien keinen Ausweg
mehr zu geben und der Nachmittag drohte mich aufzufressen. Das
Programm war ohnehin nicht zu ertragen und letztendlich verschwand ich
mit meiner Klinge im Garten. Martha verfolgte mich und als ich mich
auf den Hocker setzte und alles bereit gelegt hatte, pflanzte sie sich
auf meinen Schoß. Ich saß da und überlegte. Zu viel. Ich räumte den
Krempel wieder weg, erst in Reichweite, dann wieder zurück an seinen
Platz. Stattdessen ließ die Müdigkeit nach und ich begann im Garten
aufzuräumen. Während ich das Werkzeug für den Winter nach hinten in
die Autoscheune schaffte, dachte ich immer noch darüber nach, ob dies
nun ein Triumph sei oder ein Zeichen von Schwäche. Meine Mutter hatte
währenddessen eine Nachricht auf dem AB hinterlassen. Sie hatte die
erste Vorladung gefunden und da diese vor exakt einem Jahr stattfand,
ist davon auszugehen, dass es eine ganz normale jährliche
Nachuntersuchung ist. Das ahnte ich bereits, ich hatte meine eigenen
Akten gewälzt und sah selbst, dass es sich zeitlich ausgehen könnte.
Der Tag wurde doch noch schön und obwohl ich eine massive
Gangbildstörung hatte, ließ ich mich nicht aufhalten. Vermutlich
schmerzt mein Knie deswegen, nicht aufgrund der Läufe.
Abends dann bekam der Tag wieder eine Schlagseite als mir Sebastian mitteilte wie hoch sein Disporahmen sei und dass dieser nun voll ausgeschöpft ist. Erst standen mir die Haare zu Berge, dann wurde mir schlecht und ich sah mich bereits erneut mit der Klinge konfrontiert. Doch ich blieb sitzen, war einfach nur schockiert und auch etwas wütend. Verharmlosend: „Das kann jedem mal passieren…“. „Nein…“, und ich schüttelte vehement den Kopf: „Mir nicht!“. Mein Schädel ratterte, ich suchte nach Auswegen, nach Strategien. Wenn zwei Waagen aufeinanderprallen… Dann gibt es kein eigenständiges Gleichgewicht mehr. Man braucht den andern als Gegengewicht. Ich hatte auch viel über das, was ich bei der Untersuchung sagen werde „müssen“, nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ohnehin schon permanent lüge. Mit jedem Lächeln, jedem netten Wort, dass nicht meines ist. Lüge, in dem Verhalten, welches ich an den Tag lege, damit man es mit mir aushalten kann. In all den Späßen, wenn mir doch nach Heulen ist. Also was machen da ein paar schwarze Flecken mehr auf dem Karma schon für einen Unterschied?
5. November, Mittwoch
8.00
Ich fühle mich schlecht. Ich BIN schlecht, vermutlich steht
in großen, schwarzen Buchstaben auf meinem Buckel zu lesen: SCHULDIG!!
Erst war ich noch zu meinem Hausarzt und bat ihn, ein Attest
aufzusetzen, welches die Wichtigkeit des Laufens und dessen physio-
und psychotherapeutischen Wert bestätigt. Er schrieb, las es nochmals
durch, dann ein: „Ah, geh!!! Ein Rechtschreibfehler…“, und verfasste
das ganze auf ein Neues. Dann betrat ich, 10 Minuten zu früh, das Büro
der Amtsärztin und der erste Satz war: „Wie geht es mit dem Laufen?“.
Mit einem Schlag müssen meine Ohren hochrot angelaufen sein, zumindest
fühlte es sich so an. Ich erwähnte die Schwierigkeiten, de ich
mittlerweile habe und währenddessen dämmerte mir, dass das Laufen doch
bereit letztes Jahr ein Thema war und sie davon wusste. Ich hätte mir
auf die Stirn hauen können, weil ich so vergesslich bin und mir sehr
viel Stress erspart hätte. Und dann kam der mehrseitige Bogen mit
Fragen, auf die ich antworten musste. Lüge! Lüge! Und nochmals
LÜGE!!!! Sie sagte dann immer schon: „Aber ihre Mutter macht das,
nicht?“. Wusste sie nun bescheid? Korrigierte mich in die notwendige
Richtung? Letztes Jahr hatte meine Mutter all diese Fragen beantwortet
und ich saß mehr teilnahmslos daneben. Nichts davon entspricht den
Tatsachen, einiges wäre wohl nötig, aber ich beiße mich da selbst ohne
Rücksicht auf Verluste durch. Ist es fair? Meine Mutter sagt, sie
kennt unendlich viele, die es NICHT verdient hätten. Aber das gibt mir
kein besseres Gefühl. Wäre es einfacher, wenn ich ein Recht auf
Frührente hätte? Und so wand ich mich durch das Gespräch und all die
unangenehmen Fragen, mein Schädel wurde immer heißer und heißer und
dann am Schluss fragte ich sie: „Finden sie es nicht ambivalent, dass
ich laufen kann und alles andre nicht mehr?“. Für einen Moment stockte
der Atem und es war totenstill im Raum. „Nein, ich sehe ja die
neurologischen Ausfälle.“. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass
sie schon beim ersten Gespräch wusste, dass ich laufe. Und dann wollte
sie mir noch etwas zeigen, da „die Schulmedizin auch nicht die Antwort
auf alles sei“. Und ich musste noch 10 Minuten warten, und wäre doch
am liebsten im Erdboden versunken. Dann zeigte sie mir ihr
Wunderkästchen, welches mit Elektroimpulsen Mordsergebnisse erzielen
würde. Und redete und redete und ich wünschte nur noch, sie würde
aufhören und diese Quälerei beenden. Diesen Gedanken hatte ich nicht
zum ersten und letzten Mal an diesem Tag. Wackelnd verließ ich die BH,
ich konnte ohnehin kaum noch gehen. Psyche oder nicht? Erst dachte
ich, dem sei so. Doch dieses Phänomen trat schon vor Eintreffen der
Vorladung auf. Wieder ein Schub? Abends dann bei unsrer Apfeldealerin,
flehte ich innerlich erneut: „Bitte! Bitte, hör auf zu reden und lass
mich gehen!“. Sie erzählte erneut von einer Naturheiltante aus dem
Dorf nebenan, die spüren würde, was man hat und berichtete von
unglaublichen Erfolgen. Und dass ich da unbedingt hingehen müsste. Und
sie hörte nicht auf, auf mich einzureden und ich konnte längst nicht
mehr, stand schon aufs Auto gestützt, zitternd, halb am
Zusammenbrechen und wollte nur noch weg. Und dann? Dann fühlte ich
mich schlecht deswegen, weil man es ja nur gut mit mir meint. WARUM
müssen alle möglichen Menschen MEIN Leben verbessern und ändern? Warum
wollen sie mir die Besserung regelrecht aufzwingen? Warum kann man
mich nicht einfach in Ruhe lassen? „Ja hast du denn keine Hoffnung?“.
Nein, denn es ist wie es ist und für mich ist mein Kampf der einzig
wahre. Worte können so belastend sein…
Und nun? Was hab ich von dem ganzen Scheiß? Meine linke Körperhälfte
ist noch tauber als zuvor und das Zittern in den Beinen konnte sich
auch nicht unbedingt legen. Die subcutane Injektion am Morgen sinkt
ohne einen Reiz in die Haut. Was tu, was lass ich? Abwarten, ob es
sich bessert oder von einem Schub ausgehen?
6. November, Donnerstag
6.00
Und schon fressen sich die Tage in den noch jungen Monat,
es gibt kein Halten mehr. Die Strafe für meine „Schlechtigkeit“ folgte
auf den Fuß. Ich rannte los und bereits nach 2km musste ich das erste
Mal das Mobiltelefon zücken. Sebastian konnte nicht weg und ich
versuchte, wieder zurück zu laufen. 500m, mehr nicht. Eine Flucht in
den Wald schien zwecklos, so nackt wie dieser nun ist. Zudem waren da
noch Bauern beim Holzarbeiten und andre „Sportler“ auf der Straße. Ich
zückte zum zweiten Mal das Telefon und versuchte es bei meiner Mutter,
die erst nicht ranging, da sie meine Nummer nicht kannte. Zum Glück
siegte die Neugier und sie holte mich ab. Fuhr mit zu ihr nach Hause,
ging dort auf die Toilette, rannte 1km im Kreis, nutzte das Klo ein
zweites Mal und verabschiedete mich dann und lief nach Hause. Doch
auch da nicht lange, ehe ich erneut auf’s Klo musste. Ich sah mich
gezwungen, über den großen gedroschenen Kukuruzacker nach Hause zu
gehen, an diesem Punkt versagten meine Beine zum Glück noch nicht.
Keine Katastrophe, doch auch kaum Strecke. Es gab Mittagessen, ich
verblieb in meinen Sportsachen um nach der Mahlzeit ein zweites Mal
loszurennen, um die Strecke zu strecken. Und hatte ich es nicht
prophezeit? Dass ich mich schon erneut wieder die Wiese runterholpern
sah? Dabei hatte ich die neue Strecke so gewählte, dass ein Austreten
für gewöhnlich ohne weiteres möglich ist. Aber nein. Mir war bis dato
nicht bewusst, wie unglaublich viele Hochsitze dieses kleine Stückchen
Weg besitzt und ich war nicht in der Lage zu erkennen, ob da einer
drauf saß oder nicht. Die Umwelt wurde erneut zum Feind und dann war
es zu spät. Ich schlich die steile Wiese hoch, getrieben von Scham
und der Angst, gesehen zu werden. Meine Beine zeigten sich gnädig, und
beschränkten sich auf massives Kribbeln, als ich oben angekommen war.
Ich rannte weiter, um so schnell als möglich nach Hause zu kommen.
Absurderweise immer noch die Strecke im Kopf. 200m vor unsrer Einfahrt
passierte es das zweite Mal, und ich gab auf, nahm nicht die Straße
sondern die Abkürzung über die Wiese, mittlerweile humpelnd, direkt
zum Haus. Und irgendwie war mir alles egal, bis auf die Strecke, die
ich nicht voll machen konnte. Ich schrubbte mich ab, die Sachen in die
Wäsche und trat hinaus vor die Tür, um die fehlenden 200m ums Haus zu
laufen. Mein Wert war doch ohnehin schon dermaßen gesunken, dass ich
wenigstens diese eine Sache richtig machen und zu Ende bringen musste.
Doch es ging noch tiefer. Als es allmählich Zeit wurde und Sebastian
bald kommen würde um mit mir nach Fürstenfeld zu fahren, seine neue
Brille zu holen, nahm das letzte Desaster des Tages seinen Lauf. Ich
versuchte meine Haare zu machen, doch es misslang. Immer und immer
wieder. Ich konnte die Arme nicht mehr hochhalten, der linke Arm
verkrampfte sogar schmerzhaft, doch ich bekam es einfach nicht hin.
Und je häufiger ich es versuchte, desto mehr hasste ich das Gesicht im
Spiegel, desto widerlicher und hässlicher wurde es. Ich gab auf, trat
hinaus in den prächtigen Abend, der mehr Frühling als Herbst war und
lauschte dem wehmütigen Gesang des Rotkehlchens in den kahlen
Jungerlen. Und ich wollte den Sonnenuntergang sehen, doch ich konnte
nicht denn auch meine Augen versagten, ließen mich im Stich. Jetzt war
ich depressiv. Und heute? Heute bleibt die Angst, in der Stadt in eine
weitere Katastrophe zu rennen und das gestern sozusagen nur die
Generalprobe für den absoluten Megagau war. Mein Schädel dröhnt und
ich trinke lieber nicht zu viel Tee. Ob das etwas daran ändert? Ich
denke über mich nach, sehe das Bild in mir, das ich von mir selbst
habe und ich hasse mich. Der Verletzungsgedanke war mir schon gestern
wieder vertraut nah. Wie wird es wohl heute sein? Ist es nicht egal,
bin nicht ich egal?
7. November, Freitag
7:45
Ums Kirchenklo rotieren, im wahrsten Sinne des Wortes. Die
Insassen des Altersheimes konnten wieder uneingeschränkt Wetten auf
mich abschließen, was ein amüsanter Gedanke ist zumal mir diese
Toilettengänge ohnehin immer irgendwie peinlich sind. Der Nachmittag
drohte mich sodann aufzufressen, es regnete und ich wusste nichts mit
mir anzufangen. Zwischen den Zeilen gelesen bedeutet dies im Klartext:
Ich war hundsmüde und erschöpft, zu sehr, um irgendetwas in Angriff zu
nehmen. Und dieses auf dem Sofa Rumgammeln hatte etwas von kostbarer
Lebenszeit in dieser Lebensqualität Wegwerfen. Und spätestens beim
Abendessenkochen drängte sich mir erneut die Frage auf, ob ich nun
einen Schub habe oder nicht? Was soll’s? Wenn es einer ist, kommt doch
nun ein wunderschönes Wochenende, um noch darüber nachzudenken und
Handlungszeit beim Fenster raus zu werfen, falls ich überhaupt etwas
dagegen unternehmen will und darf. Erstmal ruft die Strecke und die
Befürchtung, in die nächste Katastrophe zu rennen, ist berechtigt…
Vormittag
Irgendwo unterwegs auf irgendeiner einsamen Landstraße im
Nebel und Regen bist du ganz allein, wenn die Lähmung einsetzt. Da ist
niemand, der dir helfen kann, niemand, der dich tröstet oder dir Mut
zuspricht. Allein, ganz allein. Was hilft dann noch? Welche
Hausmittelchen hast du dann noch in petto? Fiese Musik auf volle
Lautstärke aufdonnern, damit dir jemand anders ins Ohr brüllt und du
das verzweifelte Wimmern tief in dir drin nicht mehr hören musst? Hilft es?
Wie weit? In nicht ganz 5 –Minutenabständen immer und immer wieder
anhalten. Das Regenwasser läuft über mein Gesicht, doch es spielt
keine Rolle. Ich vermag die Spur nicht zu halten, drifte immer wieder
Richtung Straßenmitte ab. Am Ende werde ich 10km in meinen Kalender
schreiben und nur diese Zahl scheint von Bedeutung. Doch da ist
Angst. Gestern ein massives Flashback im Büro, und nun nach dem Lauf
ein weiteres. Es tut weh, mir wird schlecht, der Atem stockt, das Herz
setzt aus. Für einen Moment bin ich wieder in meinem Traum, bin tot.
Und danach ist nichts mehr wie es vorher war.
10. November, Montag
6:15
Mich das ganze Wochenende mit Nähen quälen. Am ersten Tag
war es eine Qual auf den Knien auf dem Boden rumzurutschen, um die
Vorlagen als Schnitt auf den Stoff zu bringen. Am zweiten Tag noch
mehr, denn dann kam noch der Ärger dazu. Wieder wünschte ich mir eine
Schneiderpuppe, dachte erneut darüber nach, wie ich mir selbst eine
basteln könnte. Der Lauf am Samstag war deprimierend, der Lauf gestern
herrlich. Ich hatte das Gefühl, dass die MS mein Liebstes nicht so
einfach bekommen würde. Und ich hatte mir ein zweites Paar Laufschuhe
gekauft, was für mich Versprechen genug ist, dass ich nächstes Jahr
noch laufen werde. Ich begegnete der Konkurrenz. Wo die alle auf
einmal herkommen, ist mir ein Rätsel. Oder waren es „Jogger“? Wie kann
man so emotionslos seine Kilometer abarbeiten? Laufen ist für mich
Leben, ist voller Emotion. Mal schnell, mal langsam, mal mit Freude
im Gesicht, mal mit Tränen. Im ersten Moment war da nur Unverständnis,
wie man nur so lieblos einen Schritt nach dem andern tun kann, ohne
wertzuschätzen, dass man überhaupt dazu in der Lage ist. Ja, ich weiß…
Wieso sollten sie? Ich hatte neue Musik auf dem MP3-Player und ich war
für meine Verhältnisse verdammt schnell, lag weit über meiner normalen
Durchschnittszeit. Die Lähmung kam, wie immer, nach 5km, aber es
spielte keine Rolle. Nicht an diesem Tag und bei diesem Lauf. Ich
wollte nicht, dass sie eine Rolle spielt. Sie vergiftete schon den
Rest des Tages. Als ich im Atelier an meinem Arbeitstisch über den
Stoff gebeugt stand, kippte ich immer wieder nach vorne. Es geht nicht
mehr, es zieht mich nach unten. Und abends, als ich vollends entnervt
das „Kleid“ in den Wäschekorb zum Auswaschen von Fäden und Kreide warf
und meine Haare neu sortieren wollte, ging dies nicht mehr. Meine
linke Hand war absolut unbrauchbar. Ich quälte mich vorm Spiegel mit
dem Haargummi und meinen Zotten ab und zitierte erneut verbittert
murrend: „Nein, nein, da ist keine Hemiparese. Ich kann nichts
feststellen!...“. Sicherlich, NUR die Psyche! Genau so verbittert
reagierte ich freitags beim ersten Schuhkaufversuch in Fürstenfeld.
Ich beschrieb den Schuh, den ich bis jetzt immer gekauft hatte, und
der Verkäufer von oben herab: „Nein, ohne Dämpfung laufen sie sicher
nicht.“. Ich erwähnte den Vorfußlauf, er entgegnete beinahe arrogant,
dass er nun stundenlang mit mir darüber diskutieren könnte, wie
unsinnig das sei. Nun lief ich richtig heiß. „Wenn ich nicht so laufen
würde, könnte ich keinen Schritt mehr machen und mich gleich in den
Rollstuhl setzen!“. Hatte ich ihn damit überfahren? Er kam ins
stocken, irritiert von meinem unvorhersehbaren Argument. Richtig so!
Einen Tag später in der andren Filiale gab es den Schuh, gleich zu
Hauf, und als ich an der Kassa wartete, hatte sich die Verkäuferin
noch informiert und meinte, man könne den Schuh bei Bedarf auch noch
aus andern Filialen beziehen. Was für ein Unterschied. Mit den Worten:
„Sie haben meinen Tag gerettet!“, verließ ich 50€ ärmer das Geschäft,
aber glücklich. Was will man mehr? Billiger kann man wohl kaum
Laufschuhe kaufen.
Und da waren auch noch die Verletzung, bzw. der Gedanke daran und die Bilder in meinem Kopf. Ich stieß, ungeschickt wie ich war, die kleine Dose um, als ich mit dem Stoff rumhantierte. Da lagen sie. An die 15 Rasierklingen, über den Tisch verteilt und schimmerten verführerisch. Ich konnte mich ihrer Wirkung kaum entziehen und als ich eine nutzte um eine Naht aufzutrennen, wofür die alten nun auch eigentlich gedacht waren, spürte ich das Verlangen, sie mir in den Arm zu rammen. Ich tat es nicht. Macht das nun den Unterschied aus? Oder ist es erneut nur eine Frage der Zeit?
11. November, Dienstag
6:15
Der Tag prallte ungebremst in mich und meinen ledierten
Körper, ging aufs Gas, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Berg Arbeit
lag schon für mich bereit und begrub mich unter sicht, in Nachbeben
folgten die Schlüsselkräfte mit separaten Wünschen. Überforderung ist
kein Ausdruck für den Zustand, in dem ich mich viel zu lange befand,
ehe ich meine Abläufe strukturieren konnte. Und dann diese Aktenordner
und all diese Akten, die erneut eingeordnet werden mussten. Meine
linke Hand hatte sich vom Vortag immer noch nicht erholt, es war eine
Qual die Mappen aus dem Schrank zu nehmen, umzublättern,
einzusortieren, wieder zu schließen und zurück zu stellen. Solch
poplige Handgriffe und ich nicht in der Lage, diese durchzuführen.
Aber es können oder nicht und dann tun sind bei mir zwei Paar Schuhe.
Ich tat es also dennoch und die Hand verkrampfte sich, bitterböse
zeternd. Die Beine, Fundament des ganzen Regimes, boykottierten ihren
„Diktator“ ebenfalls und so juckelte ich durch den Flur, sodass mich
eine Klientin auf meinen humpelnden Gang ansprach. Ich meinte nur:
„Leg dir bloß keine Löcher im Hirn zu!“. Im Büro war ich zu 50% allein
und wenn Heidi da war, meinte sie, das Telefon wäre heute aber ruhig.
Dafür musste ich aber gefühlt verdammt oft mit diesem nach hinten in
die Küche schlurfen. Ich könnte auch sagen: „Rufen Sie bitte nochmals
an mit der Durchwahl 12!“. Doch die verschreckten Tanten in der Küche
wagen es, bis auf eine einzige, nicht, abzuheben. Also weiterhin mich
nach hinten kämpfen oder gemäß des Falles bei der Tür rausbrüllen, sie
sollen gefälligst abheben? Einfach sieht anders aus. Nun gut, nach
zwei Stunden war es geschafft und ich humpelte in meine Laufsachen und
Schuhe. Dehnte, humpelte auf die Straße. Links den Fuß etwas
nachschleifend, rechts beim Auftreten zitternd. Warf die Musik und die
Pulsuhr an, tat den ersten gelaufenen Schritt und die Befreiung aus
den Ketten der Krankheit war getan! Zumindest bis Kilometer 5, da
hatte sie mich wieder eingeholt. Aber die Parese ist wie sie heißt
eine träge Persönlichkeit und so konnte ich sie auch diesmal mit sich
zum Ende hin häufenden Pausen austricksen. Zumindest an diesem Tag.
Endstand? 12,3km. Also noch eine ganze und eine halbe Strecke und ich
darf mein 2000km-Siegerfoto machen. Und da stand ich vor meinem
Kalender und rechnete, wie viel noch in die restlichen Jahrestage
reingehen könnte und musste mich selbst ermahnen, dies zu lassen um
nicht erneut dem nächsten Zwang zu verfallen. Draußen trifft Grau
Nebel und das Rotkehlchen singt in den kahlen Bäumen. Immer noch zu
warm, nun fast Mitte November und ich renne immer noch in den kurzen
Lauftights. Aber mit fingerlosen Handschuhen, Herr „Krampus“ und die
chronische Sehnenscheidenentzündung hatten nichtsdestotrotz am Wetter
schmerzhaft Bedenken geäußert. Mein Knie hingegen ist wieder lieb und
folgsam und hat das Rumgemotze wieder eingestellt. Drei Tage
Strafbandage und Dunkelheit zähmen jeden noch so fiesen Wüterich. Ich
mag diese Nebelsuppe. Da sieht man mich beim Laufen nicht mitsingen.
Zu Hause und im Ruhezustand frage ich mich immer wieder: „Was tust du
da? Ist das nicht albern?“. Doch kaum renne ich und die Mucke wettert
in meine hochroten Ohren, kann ich nicht anders. Das ist das, was ich
unter lebendigem, emotionalem Laufen verstehe. Spaß haben! Solange es
noch geht…
12. November, Mittwoch 7:45
„Spaß haben.“, manchmal verstehe ich mich selbst nicht mehr. Warum
muss ich selbst immer alles in Lächerliche ziehen? Wenn ich versuche
über mich und die Krankheit nachzudenken, ist da eine Wand mit
verschlossener Tür. Bis zu einem gewissen Punkt komme ich und weiter
geht nicht. Und dann gestern? In einer absolut nichts bedeutenden
Situation –ich ging soeben über den dämmrigen Flur- ging die Tür mit
einem Schlag auf und ich sah hinab in den schwarzen Schlund. „Hej, du
bist krank. Schwer sogar. Hast du das vergessen?“. „Ach ja, stimmt…“,
dämmerte es mir und die Beklemmung packte mich wie ein um den Hals
gelegter würgender Gürtel. Vergessen, verdrängt. Es ist wie das
Aufwachen nach einem schönen Traum, in dem alles gut wurde und der
zweite Gedanke nach dem Aufschlagen der Augen ist: „Mensch, scheiße!
Ich hab doch Prüfung!“. Die Tür schloss sich wieder. Selbstschutz?
Warum hatte sie sich geöffnet? Warum jetzt? Ich weiß immer noch nicht,
ob ich einen Schub habe. Ich wage es immer noch nicht im Krankenhaus
anzurufen. Das rechte Bein zeigt gegen Abend hin immer stärkere
Symptome. Wäre es das Linke, wäre es egal. Verunsicherung, Angst,
dennoch Zuwarten und vermutlich kostbare Zeit verplempern. „Solange es
das Laufen nicht beeinträchtigt?“, ein Trostversuch um mich
hinzuhalten. Mitte der Woche, bald wieder tatenloses Wochenende. Und
tut es das denn noch nicht? Was war gestern beim Lauf nach der ersten
Pause als ich aufstand? Ich wurde angesprochen, als ich auf der Bank
saß. Ob es mir nicht gut ginge, ich hätte mich so auf diese fallen
lassen. Die Schwäche im Bein war nicht zu bändigen. Ist es egal, bin
ich egal? Ich hatte mir zwar Arbeit mit nach Hause gebracht, aber ich
musste malen. Das Bild vom Bild eines Bildes ist unheimlich. Und ich
frage mich immer noch was es sagen will. Die Musik ist teils traurig,
teils voller Zorn. Es ist nicht das Wetter, nicht der Nebel. Es ist in
mir und es muss raus. Funktioniere ich wirklich nur? Und nichts davon
ist echt? Versuche nur mir mittlerweile einzureden, dass es schön sei?
Die junge Frau erschlug mich förmlich mit intimsten Informationen, die
mich aufgrund meiner Erfahrung aber nicht umwerfen konnten und es
schien fast, als sei sie auf der Suche nach einer Freundin. Doch ich
konnte nicht. Für gewöhnlich lud ich die Leute zu mir nach Hause ein
auf ein weiteres Gespräch. Aber es ging nicht. Kann keine
Verantwortung für jemand anders übernehmen. Und immer wieder drängt
sich mir in scheinbar kostbaren Moment die Frage auf: „Wäre es fatal,
jetzt zu sterben?“. Wo bleibt das Ja? Ich wünschte nur noch, etwas
Gravierendes würde noch eintreten und mir die Entscheidung zum Telefon
zu greifen zu erleichtern. Aber den Gefallen tut sie mir nicht. Sie
spielt mit mir, mit meinen Ängsten und Sorgen und es bereitet ihr
Spaß, mich leiden zu sehen…
Das Bein fühlt sich nicht gut an. Ich hab einfach angerufen, gesagt, dass ich es SCHON WIEDER bin und ich mich schon gar nicht mehr zu melden wage. „Ach Frau Samer, das ist doch nicht schlimm…“. Warten bis 9. Noch nicht wissend mit wem der beiden Damen vom Dienst ich dann das Vergnügen habe. Im Kalender gingen die Symptome schon am 26. Oktober los, weit vor dem Eintreffen des Bescheids von der BH. Totschlagargument? Bin nicht scharf auf Kortison noch auf die Aufmerksamkeit, die einem dann kurz zu Teil wird. Wie man mir aber durch die Blume gesagt vorzuwerfen scheint. Will nur, dass man mich berät. Wo soll ich denn sonst hin? Sollte heute doch ein schöner Tag sein… In exakt 8,6km habe ich meine 2000km erreicht.
Ärztin Nummer zwei. Zitat: „So wie ich sie seit Jahren kenne, jedes Mal wenn sie bei sich selbst etwas beobachtet hatten und wir ein MR gemacht hatten, WAR da eine Aktivität.“. Ich schon erleichtert: „Das freut mich zu hören. Bei mir kommt all zu schnell der Psychestempel…“. Sie entgegnete: „Nein, und wenn dann gesagt wird, die hat doch nichts, dann gehe ich vehement dagegen an. Es ist nun mal leider so, dass ihre MS sehr aktiv ist.“. Wie beruhigend. Morgen in die Neuro. Wie, weiß ich noch nicht.
13.
November, Donnerstag 7:00
Warten, immer noch verunsichert. Hingegen die nächsten Tage sind,
gemäß des Falles ich bekomme Kortison, geplant und abgesichert. Und
plötzlich ist mein Kopf voll mit Bildern. Ich konnte nicht
einschlafen, ich wollte einen Namen für eines der Bilder, das sich
ganz in den Vordergrund drängte, finden. Doch mir fehlten die Worte.
Führte mich immer wieder zurück in die Stille des Gesehenen, wenn ich
mich in möglichen Titeln verlor. Meine Bilder sind voller Stille, wie
in einem Museum. Und so schlief ich nicht, erneut nicht sicher ob es
überhaupt gerechtfertigt ist ins Krankenhaus zu fahren. Doch
vielleicht stellt sie noch was andres fest als ich spüre. Vielleicht
ein erhöhter Tonus oder was auch immer. Meine Mutter fährt mich. Ich
habe Angst, dass sie mich überfordert, ich um mich abzugrenzen sie
verletzen könnte und ich immer und immer wieder ihren Tod sehen muss.
Abend
Bin zusammengekracht. War wohl wieder an der Zeit. Mir
wurde erneut klar gemacht, wie aggressiv mein Verlauf tatsächlich ist.
Verharmlosungen und sich darüber lächerlich machen deplaziert. Der
Schmerz bricht aus mir raus, als hätte ich es nicht gewusst.
Schweigend dagegen anmalen…
14. November, Freitag 6:15
Die lustigen Vier vom Wannenteich drängeln sich an die linke Ecke
des Aquariums, obwohl das Licht noch nicht mal an ist und fordern
still blubbernd und mich anglotzend Frühstück. Ich leiste keinen
Widerstand und schlurfe Richtung Fischfutter. Verfressenes Pack! Als
ich gestern das Haus verließ war der Strom weg und als ich
wiederkehrte, war die Freude über dessen erneutem Vorhandensein nur
von kurzer Dauer. Dann war er wieder weg und ich saß im dämmrigen
Atelier nur mit einer Kerze bewaffnet und auf die Lebensdauer des
Notebookakkus hoffend. So konnte ich nicht malen. Doch nach einer
gefühlten Ewigkeit sprang die Beleuchtung des Aquariums an und ich
konnte endlich anfangen. An diesem Punkt war ich wie gelähmt, ich
konnte nicht über das Gesagte nachdenken. Es sollte erst abends mit
seiner ganzen Gewalt über mich hereinbrechen und mich zusammenbrechen
lassen.
Bereits nach kurzem Warten erschien meine Neurologin auf dem Flur und
rief mich auf. Wir waren zuvor noch kurz einkaufen und das Gangbild
war grottig. Mit den Worten: „Ich habe extra die Morgenration Lioresal
weggelassen um die Störung in seiner vollen Pracht präsentieren zu
können.“, humpelte ich auf sie zu. Tatsächlich hatte das Weglassen des
Baclofens eine einschlagende Wirkung. Das Bein zitterte, knickte unter
mir weg und der Fuß kippte beim Auftreten stark nach außen. Doch
erneut zweifelte ich an mir selbst, ob ich mich denn nun nicht einfach
nur „gehen lassen“ würde um etwas Zeigbares vorzuweisen. Ich bin so
verwirrt, so irritiert und mich ständig am Kontrollieren, ob ich nicht
in meinem Verhalten lüge. Wenn es doch immer die Psyche sein soll. Ich
kenne mich nicht, ich durfte mich ja auch nie kennen lernen. Anstatt
mich in meiner eigenen Wahrnehmung zu unterstützen wurde diese immer
auch noch von der wichtigsten Person, das Thema betreffend,
angezweifelt. Was ist denn echt? Oder war es so massiv, eben weil das
Medikament fehlte und zu Hause hatte ich derartige Ausfälle nur um den
Amtsarzttermin rum und wurden von den Tabletten im Zaum gehalten? War
es die Aufregung? Verdammt! WAR ES ECHT? Ließ ich mich gehen? Ich
WEISS ES NICHT!!! Im Moment hält es sich wieder in Grenzen, das
irritiert noch mehr.
Sie machte die Anamnese, untersuchte mich kurz, bestätigte die
Schubtheorie. Und immer noch rotierte es durch meinen Schädel: „Nur
weil sie mich gehen gesehen hat? Hätte ich mich anstrengen sollen,
dann hätte ich auch im langsamen Tempo wohl normal gehen können, oder
zumindest so ähnlich?!!!“. Also Kortison und dann meinte sie noch:
„Das Copaxone sollte nach einem halben Jahr Wirkung zeigen…“, und sie
rechnete erneut, wie schon am Telefon, und sagte dann, ich sei bei der
hochgradig akuten Schubrate ein Kandidat für Tysabri, einem neuen
Wirkstoff. Ich verstand nur Bahnhof, sie begann zu erklären, dass es
eine Infusion alle 4 Wochen wäre, man damit die Schubrate bis zu 90%
senken könnte, was vielleicht einen Schub in 4 Jahren bedeuten würde,
aber auch von der 1:35.000 Chance, dass eine bestimmte
Hirnhautentzündung ausgelöst wird, die man dann nicht behalten kann.
Etwas überfordert von der Information meinte ich nur, dass ich ganz
genau wüsste, wo all die Schübe herkommen würden, dass es zum größten
Teil wirklich die Arbeit sei, die mich, um das Laufen noch
unterzubringen, in einen engen Zeitplan zwängen würde und dass dies
permanenten Stress ausüben würde, genauso wie die Arbeit
an sich
oft stressig ist. „Dann müssen sie diese wohl aufgeben.“.
„Ja, und dann? Wieder gegen die Wand rennen und wahnsinnig werden?“,
entgegnete ich verbittert. Wäre ich abergläubisch, würde ich sagen,
dass ich sicherlich die 35.000ste bin, da ich immer alles abgreife,
was eigentlich unmöglich, selten und unwahrscheinlich ist. Aber habe
ich denn Angst vor dem Tod? Der Gedanke, dann wie ein sabbernder
Lappen Leben im Bett mein Dasein zu fristen, schockiert mich mehr.
Falls das dann überhaupt der Fall ist. Das, was mich am Ende
zusammenbrechen ließ war der Gedanke, dass ich mein Leben, so wie ich
es gestalte, komplett überdenken und ändern müsste. Aber was hat sie
sich nicht schon alles geholt? Was ist unwiederbringlich verloren?
Reichen die Einschränkungen denn nicht? Mich dann auch noch bewusst in
allen andren Belangen beschneiden, nur um mich zu schonen und dann
dabei noch mehr verkümmern? Und wieder das Thema Schwangerschaft, ich
würde mich auch unterbinden lassen, das Thema endlich abschließen.
Sebastian sagte, dass ihn das sehr traurig macht, dass er
wahrscheinlich keine Kinder haben wird. Und ich, dass ich nur Unglück
bringe und wir uns dann wohl trennen müssen. Er war gegen das Thema
Unterbindung, zumal wir nicht mal wissen, ob es heute nicht schon
einfacher wieder rückgängig gemacht werden kann. Und ich dachte nur:
„Also willst du mit der Hoffnung, dass ich doch irgendwann ein Kind
haben möchte, weiterleben bis zu grau bist…“. Immer dieses Thema und
ich möchte es einfach ad Acta legen, abschließen, es gut sein lassen.
Aber das darf ich nicht und ich verletze ihn nur damit. Zudem immer
und immer wieder die Frage, was ich alles weglassen soll, in meinem
Leben streichen muss. Also doch der neue Wirkstoff?
9:25
Ich hänge. Und erneut werden die Vorbehalte, die man mir gegenüber
zu hegen scheint, deutlich. Ich wage es ein Späßchen darüber zu
machen, dass ich nun endlich rezeptgebührenbefreit sei und so doch
unbedingt noch eine Gratiskortisoneinheit machen wollte. „Wirklich nur
deswegen?“, fragt Schwester Hedi skeptisch. Um Himmels Willen, was ist
denn los? Was wurde über mich verbreitet, für was halten sie mich
denn? Sollte man meinen Sarkasmus mittlerweile nicht durchschauen?
„Ach Quatsch!“, gab ich zurück. Und was für einer. Halt einfach
dein Maul! Benimm dich endlich deinen wahren Gefühlen entsprechend!
Keine Späße mehr. Mich hinsetzen, schweigend in mich zusammensinken
und blutige Zeichnungen aufs Papier bringen? So besser? Soll ich so
verbittert sein wie ich mich immer häufiger fühle? Soll ich deprimiert
auftreten, mein Umfeld mitleiden lassen, vielleicht in Selbstmitleid
zerfließen? Und je mehr ich rede, desto weniger kann ich mich leiden.
Bin ich so schlecht? Bin ich durchtrieben? Der Eindruck entsteht, wenn
man den Umgang mancher Leute mit mir als aussagekräftig wertet. Hab
ich irgendjemandem etwas zu Leide getan? Oder liest man Borderline auf
dem Befund und geht bereits mit der Erwartungshaltung, dass ich
manipulativ sein muss, auf mich zu? Bin ich so schlecht? Sei
einfach still!! Besser wäre es. Wenn man auf meine
Freundlichkeit, die ich mir wahrlich zum Teil unter großer Anstrengung
abringen muss, keinen Wert legt…
Ich habe immer noch keinen Titel für mein Bild. Die Worte kommen und
entfernen mich immer wieder von der eigentlichen Grundstimmung auf
diesem. Suche nach einem schönen Wort, das alles in einem Wort
beinhaltet. Sitze hier in meinem „Totenhemd“ und weiß nicht weiter,
noch kann ich mich spüren. Die Augen schließen, mich der Musik
ausliefern und mich nach einem massiven Gefühl sehnen.
15. November, Samstag 4:45
Ich starrte auf das Display des Radioweckers, als die
Minutenanzeige weitersprang, legte ich meinen Kopf auf’s Kissen und
zählte die Herzschläge, die an diesem Punkt der Therapie nicht mehr zu
überhören sind. Eine Minute verstrich -47bpm. Kein Herzrasen, nur
starkes Herzklopfen.. 3:33 Uhr –ich schlage die Augen auf und grabsche
mit meiner tauben Hand aufs Nachtkästchen, auf der Suche nach meiner
Magenschutztablette. Kein 3:33 Uhr Aufwachen mehr in nächster Zukunft,
um mir die Eisentablette einzuwerfen und morgens einen widerwärtigen
Geschmack im Mund zu haben, als hätte ich des Nachts ein Hühnchen
gerissen. Die Eisenwerte wieder im oberen Normbereich. 60-200 der
Rahmen, noch vor kurzem lag ich bei unter 11. Glanzleistung. Hatte ich
doch erst vor wenigen Tagen wieder eine Packung Tardyferron besorgt,
und nun brauch ich es nicht mehr. Versuchen, zurückzugeben oder auf
erneute Abstürze die erneut zur Routine werden hoffen? Ich dachte, ich
sei gut vorbereitet. Ich dachte, dieses Mal hätte ich alles bedacht
und alles im Griff. Fehlanzeige. In der Apotheke machte ich noch einen
albernen Scherz, als sie die gewünschte Bestellung zusammentrug und
auf dem Pult vor mir förmlich auftürmte. „Das alles muss…“, und ich
unterstrich meine Worte mit einer Handbewegung von Kopf bis Fuß: „…in
DIESEN Body rein. Kein Wunder dass ich dann aussehe wie ein wandelnder
Wassertank.“. Meine Lieblingsapothekerin (klar, sie hat doch auch am
selben Tag Geburtstag und hat alles, was eine echte Waage ausmacht)
lachte, was bleibt mir denn auch noch als Eigenironie. Heulen?
Zusammenbrechen? „Dieses Mal hat das aber auch schon gut geklappt. Wir
haben letztendlich auch geübt.“, sagte sie grinsend. Ich war dieses
Jahr auch ungemein fleißig. Wie oft? 6 oder 7 Mal? Viele Möglichkeiten
um die Abläufe zwischen Arzt, Krankenkasse und Apotheke zu optimieren.
Und ich gab grinsend zurück: „Meine Ärztin war erstaunt dass ich im
Vorfeld schon alles organisiert hatte und ich sagte ihr, dass ich
mittlerweile über Vitamin B verfügen würde.“. Wieder zu Hause
schrumpfte die Begeisterung, WIE reibungslos diesmal doch alles
gelaufen sei. Der Hausarzt nächste Woche im Urlaub und das
Osteoporosemittel leer. SEHR günstig, gerade während einer
Kortisontherapie. Und auch Lebensretter Lioresal aus. Erst
Diskussionen, verbittertes: „Ja, ich weiß! Ich bin eine Belastung!“
und noch verbitterter zitierte ich sogar meine Oma: „Sei froh, wenn es
dir mal nicht so mies geht…“. Sebastian fuhr doch noch einmal zur
Apotheke, für das Baclofen hatte ich sogar ein Rezept, nur nicht für
das Calciumpräparat. „Du musst wohl Einsatz zahlen!“, und ich drückte
ihm mein Portmonee in die Hand. Nein, der musste keinen Einsatz
zahlen. „Sie kommt ohnehin wieder vorbei.“, hätte „meine“ Apothekerin
gesagt. Ja und da ist es wieder, das Vitamin B. 4:25 Uhr, ich stehe
auf, so wie bereits gestern. Die Schlafreserven ausgeschöpft, obwohl
es ein so anstrengender Tag war. Als die Waage von einer
Gewichtszunahme zu berichten wusste und hingegen das Körperfett stark
gesunken war, wurde mir klar, dass nun die Wassereinlagerungen auf dem
Programm stünden. Und ein Blick in meine Medikamentenkiste
komplimentierte die Unvollkommenheit meiner Organisation. Furosemid,
mein Wasserentferner, ebenfalls leer. Montags also wieder Apotheke und
auf nochmals Vitamin B hoffen oder im schlimmsten Falle Einsatz
blechen. Nun sind die Goldfische munter und beginnen die Steinchen am
Boden abzunuckeln. Meine Ärztin fragte mich bei der Untersuchung, ob
ich noch laufen könnte und als ich dies bejahte, lehnte sie sich
zurück, grinste irgendwie verträumt und gab folgendes zu Protokoll:
„Da fährt man EINMAL in 100 Jahren nach Jennersdorf und als wir da
beim Kreisverkehr auf der Bundesstraße in die Ortschaft rein fahren,
sag ich nur: „Ich glaube mich trifft der Schlag! Das läuft die Frau
Samer!!!“. Ja kann denn so was sein?“. Schmunzeln und ERWISCHT! Ich
hab vieles eingebüßt, auch wenn man es mir nicht ansehen mag oder ich
es mir nicht anmerken lasse. Aber das Laufen, das kriegt sie nicht.
NOCH nicht! Deshalb gefällt mir der Gedanke, was die neue Therapie
bewirken könnte, doch ungemein. Vielleicht doch noch ein paar Jährchen
laufend abstottern? Und nach dem Zusammenbruch donnerstags kommt nun
wieder das erhobene Haupt, dieser Trotz in den Gesichtszügen. Die
Kampfische ist zurück. Der Gedanke, dass ich mein Leben, so wie ich es
im Moment für mich gestalte, mit der neuen Therapie wohl einfach
weiterführen kann, gefällt ungemein. Ich habe endlich einen Zustand
erreicht, von dem ich sagen kann: Der funktioniert! Ich brauche das
gute Gefühl, etwas geleistet zu haben und wenn ich mittags nach Hause
komme, gearbeitet habe und gelaufen bin, ist da sehr viel von diesem
Gefühl. Die innere Anspannung abgebaut. Müsste ich etwas weglassen,
würde das ganze Gefüge in sich zusammenbrechen wie ein Kartenhaus und
ich wäre wieder dort, wo ich zuvor war oder noch tiefer in meinem
eigenen Kerker gefangen. Ich glaube, ich möchte das nicht mehr. Obwohl
ich mich immer wieder nach diesem toten Zustand sehne. Er ist ein Teil
von mir…
Teetrinkend auf Stoffwechselaktivitäten warten und hoffen. Der Plan
ist, meine neueste Kreation heute spazieren zu tragen. Ob das mal kein
Fehler ist, immer das gute Gefühl im Gepäck, eine Naht könnte aufgehen
oder ich einen Ärmel verlieren. Und ich fühle irgendwie auch Schwäche
und Unlust, mich wieder bei Hin- und Rückfahrt mit dem Zivi zu
unterhalten. Klar, ich müsste nicht. Aber dieses Schweigen ist so
beklemmend und die scheiß „Waage“ hat doch unentwegt das Bedürfnis,
dass sich alles um sie rum wohl fühlt. Obwohl man bei meiner
Fragendurchlöcherung vermutlich nicht mehr von Wohlfühlen sprechen
kann. Ich komme mir albern vor jedes Mal mit demselben Satz das
Gespräch ins Rollen zu bringen. „Du bist Zivi? Wie lange schon? Aus
pazifistischen Gründen oder weil du hier was fürs Leben lernst?“, und
so weiter und so fort. ARG! Mein Gesicht hat wieder diese gesunde
Leichenblässe angenommen, mein Magen verträgt das Holpern im
Rettungswagen nicht mehr und eigentlich interessiert es mich nicht
wirklich, was ich frage. Ich funktioniere. Ich habe mich beobachtet.
In jedem Gespräch funktioniere ich. Und das funktioniert im Moment
wirklich fantastisch. Aber Interesse? Wirkliches Interesse? Habe ich
nicht. Bin ich nun ein alter, schrulliger Egomane oder ist das die
Portion Depression, die ich mir noch leiste? Desinteresse macht vieles
einfacher, wenn man schon kaum noch Kraft für die eigenen Belange hat.
Zuhören, höflich sein, dem andren ein gutes Gefühl schenken und dann
DELETE. Ist es verwerflich? Oder spielen wir nicht alle? Ich bin nicht
Mutter Theresa, dennoch habe ich Mitgefühl für alles und jeden, schon
zu viel davon als dass ich es tragen könnte. Grenze ich mich auch
deshalb ab? Noch zwei Stunden und ich müsste raus zum Auto, meinen
MP3-Player holen um diesen neu mit Musik zu füttern, doch ich kann
nicht.
Ich trete hinaus in die Dunkelheit und scheuche unsre Rehe direkt vorm
Haus auf. Sonderlich erschrocken zeigten sie sich nicht, die Flucht
ging nur einige Meter. Meine Beine fühlen sich grottig an als ich ein
paar Schritte für den Weltfrieden und meinen Stoffwechsel tätige.
Venflons beginnen am Ende des zweiten Tages immer fürchterlich zu
jucken und ich musste mich bemühen, ihn nicht vom Arm zu kratzen. Aber
das Thema funktionierender Zugang hat sich wohl bereits gegessen, denn
als ich aufwachte war der zweite Stöpsel geöffnet. Der Schädel dröhnt,
der Magen krümmt sich, doch ich ignoriere es und fahre fort wie
gewohnt.
16. November, Sonntag 6:00
Endlich länger schlafen. Die Erschöpfung ist auch übermächtig. Die
notgedrungenen Unterhaltungen gestern wurden schon zur Qual. Ich war
zu schwach und mein Gegenüber ließ sich alles aus der Nase ziehen.
Zudem entstand das Gefühl, dass er es schweigend aber vielleicht doch
auch nicht so gut fand, oder täusche ich mich? Der Venflon
funktionierte noch. „Dieses eine Mal sind sie mir noch ungeschoren
davon gekommen!“, und ich sah den jungen Arzt warnend und durchbohrend
an, er schmunzelte. Ich ließ mich nicht ins EX-Sterbezimmer mit
Volksmusik in Raumklangsurroundqualität abschieben, verzog mich in die
Besucherecke wo ich ein frierendes Dasein vorm geöffneten Fenster
fristete. Ich hatte meinen Coup geplant, ich hatte ihn durchgezogen.
Legte brav die gesamte Ladung Kortison für die 5 Tage inklusive
Infusionsbesteck auf das Pult. Und das war es auch schon. Das
Natriumchlorid hatte ich einfach zu Hause gelassen, niemand fragte
danach und so werde ich es wieder zurückgeben und tatsächlich meine
erste GRATIS-Stoßtherapie beenden können. Soll ich mich schlecht
fühlen? In welche Hölle soll ich kommen, wenn ich doch an keine glaube
und somit keine habe? Ist das hier in einem gewissen Maße nicht schon
Hölle genug? Und ich hatte es den gesamten Vormittag geahnt dass meine
Lieblinge, die Jägerärsche, zur Treibjagd eintrudeln würden. Und
tatsächlich. Als sie noch unten im Graben sich gerade leider nicht
selbst abballerten, fuhren wir nach Jennersdorf und verpassten wohl
die Show samt Aufreger, wenn sie wieder erneut über unser Grundstück
rennen und im besten Falle wieder direkt am Haus entlang. Ich
versuchte ruhig zu bleiben und es gelang auch irgendwie. Zudem war der
Spuck bei unsrer Rückkehr scheinbar schon vorbei. Martins Schafe
standen unten zusammengedrängt am Zaun und guckten etwas betröbbelt,
die Rehe hüpften durch unsren Wald und die Krähen versammelten sich zu
einer imposanten schwarzen Schar. Der Capuccino knallt wie ein
Betonklotz in meinen Magen, das Gewicht ist weiter gestiegen, der
Körperfettgehalt sinngemäß gesunken, der Mond ist aufgegangen. Endlich
darf ich es sagen, ist es doch bereits wieder uuuuunendlicheeee 2
Monate her. Aber ich bin ruhig. Verdammt ruhig. Beinahe schon
unheimlich. Ich halte mich gut, beinahe zu gut. Und was, wenn ich in
den nächsten Tagen 66kg erreicht habe. Dann immer noch ruhig? Ich
musste daran denken, was Mieke gesagt hatte: „Eine Woche bist du dann
noch weg? So lange?“. Ich musste an die mitgebrachte Arbeit denken.
Noch mehr Erschöpfung. Man hat keine Ahnung. Und vermutlich ist es
auch besser so, dass man diese nicht hat und nie machen muss. Der
anschließende Tee schmeichelt dem Magen schon mehr und zeigt
hoffentlich auch eine Wirkung. Und während ich die erste Tasse
vernichte frage ich mich, ob ich den Rat, um mir selbst nicht weiter
zu schaden, die Arbeit hinzuschmeißen erwähnen werde. Wahrscheinlich.
Um anschließend erneut klarzustellen, wie wichtig mir diese ist. Warum
bin ich so ruhig? Ist es die dritte Portion Kortison intus? Ist es die
Tatsache, gleich zwei Bilder geschaffen zu haben, die ungemein puffern
und mich in ein Gefühl von erbrachter Leistung wohlig warm einbetten?
Weil ich mit jedem Bild immer besser werde und wenigstens da ein
positiver Fortschritt zu verzeichnen ist? Und ich merke, dass meine
Gedankengänge nicht mehr klar strukturiert sind, sie durcheinander
jagen wie aufgescheuchtes Wild und ich beginne, Nonsens von mir zu
geben. Wie immer.
10:00
Ich bin nass. Triefnass. Eine Stunde sinnloses Rumsitzen. „Fest
pumpen!“.
„Ich kann nicht, ich hab eine Parese im Arm!“.
Entnervt: „Aber sie tun es doch schon!“.
Steht auf meiner Stirn „DOOF“? „Aber nicht lange, der Arm
verkrampft.“.
Bis sie das erstmals kapiert hat. Zwei Stiche, zwei Spülungen, die
wahrlich „unter die Haut gingen“. Dann gab sie auf und ich durfte
endlich baden. Und nun eben triefnass.
17. November, Montag 3:40
Klarschiff machen für die Abschlussfete! Mein wahrlich nicht mehr
vorhandenes Nervenkostüm spricht für sich. So wie schon gestern: Wenn
ich sage, es geht daneben, dann geht es auch daneben. Zumal eine Beule
bereits direkt neben der Einstichstelle wächst und wächst. Und sie?
Voll Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein drückt dennoch die halbe Spritze
in den Arm. Auf der andren Seite dieselbe Prozedur ein zweites Mal,
als hätten wir gerade eben nicht eine Lektion gelernt. Wieder: „Nein,
das geht daneben!“, und um noch deutlicher zu werden: „Da staut es
schon!“. Sie drückt auch diesmal die Spritze leer. Als dürfe sie
nichts vergeuden, als dürfe nichts übrig bleiben. Es brennt höllisch
denn ich habe keine Nerven mehr um es einfach hinzunehmen. Dabei
springt sie im Verhalten mir gegenüber zwischen gereizt und
unfreundlich und unerwartet mütterlich hin und her. Je nachdem,
welcher Spruch ihr grad einfällt.
Was bist du? Krankenhausinventar, ein Gegenstand des Hauses den man
einfach benutzt, über den einfach drüber gefahren wird? Als ich wie
mir geheißen nach einer halben Stunde Infusion nach vorne zum Pult
torkle damit schon mal die Rettung verständigt wird und ich in einem
kurzen Statement klar stelle, dass der neue Venflon direkt auf dem
Oberarm sitzend und ich KEINE Freunde mehr werden, reagiert sie wieder
entnervt. Sie sollte mir dankbar sein. DANKBAR, dass ich so viel
Erfahrung habe und mich selbst drum schere, dass die Infusion läuft.
Denn das tat sie anfangs nicht. Ich brauchte eine viertel Stunde, ehe
ich total verrenkt und verdreht auf dem beschissenen Stuhl hing und es
endlich zu tropfen begann. Genauso gut hätte ich alle 2 Minuten nach
vorne Watscheln können: „Es läuft nicht…“. Denn genau so stockend
verlief die gesamte Prozedur. Aber nein, ich mach es selbst. Denn es
kümmert sich ja niemand drum. Und dann? Wo bleibt die Rettung?
Wahrlich, ich konnte nicht mehr… Weiter warten in den klatschnassen
Klamotten. Das war MEIN Tag. Letzte Breitseite gab es dann abends als
ich feststellen musste, dass die Aquariumspumpe ihren Dienst
eingestellt hatte, ich diese entnahm, über dem Waschbecken zu öffnen
versuchte, sie sträubte sich um dann mit schon fast einer Art
Explosion in ihre Einzelteile zu zerspringen und mich samt allem um
mich rum mit Fischkacke voll zu spritzen. Wahrscheinlich hatte ich es
nicht anders verdient, vielleicht hätte da eine Art schadenfrohe
Zufriedenheit sein müssen als ich keuchend auf dem Boden rumrutschte
um den Mist aufzuwischen. Dann lief auch das Wasser nicht mehr ab und
ich gab mir pumpend den Rest. Und ich HOFFE, dieser beschissene
Venenzugang hat ALL dies NICHT überlebt! 3 Tage Kortison sind schon
beanspruchend, aber 5 wahrlich die Hölle. Wieder dieselben Fehler
machen wie immer, abgesehen vom Obstsalat, den ich diesmal wirklich
weglasse. Es gab Griesbrei, so wie immer. Schmeckte beschissen, so wie
immer. Aber was sollte ich noch essen? Hungern führte grundsätzlich
anschließend immer zu einer für mich gefühlt massiven Gewichtszunahme
und so zwinge ich mich zu essen, obwohl mir speiübel ist und sich mein
Magen in alle erdenklichen Richtungen krümmt. Und dann die Schwester,
die mir das Armbad einließ und von Fügung und Schicksal und „Das
musste wohl so sein“ sprach… Da kam dann noch dieses beklemmende
Gefühl dazu wieder von lauter fanatischen Katholiken umgeben zu sein
und wenn ich nicht die Klappe halte ins nächste Bekehrungsgespräch
verwickelt zu werden. Oder war all dies wirklich die Strafe
irgendeines Gottes, weil ich das Krankenhaus um die 5 Flaschen NaCl
beschissen habe? Ich war so kaputt und durfte doch nicht schlafen.
Auch meine Blase schloss sich, inspiriert vom Magen, erneut der
Turn-AG an und jagte mich mehrmals aus dem Bett. „Geht alles vorbei!“,
und: „In ein oder zwei Wochen, wenn dann der massive Muskelschmerz und
die Knieschmerzen beim Laufen zum krönenden Abschluss kommen, hast du
all dies hier schon wieder vergessen!“, versuche ich mir selbst
einzureden. Mein Schädel dröhnt und noch fast 4 Stunden bis zum
Eintreffen der Rettung.
Beschissenes Mondgesicht! Wenn
ich nicht in der nebligen Dämmerung wieder auf der Terrasse stehe und
mir das Leben aus dem Leib kotze, fress’ ich nen Besen!
6:20
Bevor meine Augen wieder komplett versagen das Video zu Ende
bringen. Den Rest des Tages wie gestern tot auf dem Sofa verbringen?
Nichts sehen, nicht hören können weil ich nichts ertrage, die Glotze
wird laufen und ich werde abkotzen. Mir wieder die Frage stellen, was
ich in diesem Zustand überhaupt essen kann oder darf, meine Umwelt
wird zum Feind, alles wird unerträglich unordentlich und schmutzig
erscheinen, das Chaos scheint wieder ausgebrochen, obwohl dem NICHT so
ist. Und wie lange wird es heute dauern? Noch mehr „freundliche“
Montagsmenschen, die auf mich losgelassen werden? Immer muss ich mir
anhören: „Wir kennen sie ja mit ihren Ecken und Kanten…“. Nur je
häufiger ich mit andren Menschen zu tun habe, drängt sich mir immer
mehr die Frage auf, WER hier eigentlich einen Knall hat und sich
unangepasst verhält. Bin ich unhöflich, unfreundlich, erwarte von
irgendjemandem etwas, verurteile, vergleiche, drücke meinen
Lebensstempel auf andre Charakteren und Lebensgeschichten? Nein. Ja,
ich bin gereizt und das strahle ich im Moment auch aus. Doch ich
erkläre mich, um mein Gegenüber aus der Schuld zu nehmen. Mache noch
Späßchen, um die Stimmung zu erhellen. Aber nein… Ich mit meinen Ecken
und Kanten. Die Kanten sind nach innen gerichtet und nicht nach außen.
Schön abgeschleift, damit sich niemand verletzt und von vornherein
alles klar ist. Was ist da dran so schwer zu verstehen?
Nachmittag
Geschafft! Wieder einmal geschafft! Auf dem Sofa zusammenbrechen,
einschlafen und mit dem nächsten Flashback aufwachen. Die Beine
kribbeln unangenehm und wieder ist da die Angst vor dem ersten Lauf,
vor dem Neustart. Denn genauso und noch um einiges massiver wird sich
dieser anfühlen. Berauschend sieht anders aus. Demotivierungsversuche
des Dämons in meinem Kopf. Aber ich weiß, dass ich mir mein Laufen
nicht wegnehmen lasse!
18. November, Dienstag 8:30
-2,6°C und mit Raureif überzogene weiß
schimmernde Landschaften. Endlich ist es soweit.
Der Quellevertreter steht vor der Tür, und mich lässt das Gefühl nicht
los, dass er zuletzt auch nach einer Stoßtherapie hier war.
19. November, Mittwoch 7:45
Ich musste denken. Die ganze Nacht hindurch nachdenken. Kaltes
Berechnen. Kein Gefühl, weder physisch noch psychisch. Und die
Gedanken jagten von einem Punkt zum nächsten. Auf einem Trip. Oder
knallharter Entzug. War ich gestern Morgen doch mit einem weiteren
Flashback erwacht, und der Panik, ganz allein auf dieser Welt zu sein
und irgendetwas in mir schrie vor Angst: „LASS MICH NICHT STERBEN!!!“.
Dann saß ich nachmittags an die Hauswand gelehnt während die Pumpe das
Wasser aus den Regentonnen beförderte und da war so viel Stille und
Frieden und ich legte meine Existenz erneut auf die Waagschale: „Warum
gehe ich nicht…?“. Ja, warum nicht? Der Gedanke, mich hier und jetzt
auszuschalten war mit so viel Frieden behaftet und dem Gefühl, mir
endlich gut zu tun. Stilles Verschwinden, Verblassen… Und ich dachte
daran, dass ich gern einschlafen würde, genau so friedlich, um nie
wieder aufwachen zu müssen.
„Brauchst du mich denn überhaupt?“, ich war so
überflüssig und belastend.
„Du bist doof!“.
“Weißt du was wirklich deprimierend ist? Die ganz kleinen, unwichtigen
Dinge…“. Da war ein Eichelhäher am Waldrand und turnte durch die
Zweige und ich wollte ihn betrachten, beobachten. Aber ich durfte
nicht. Das Licht der Augen erloschen. Bin ich tot?
Es tut weh. Alles tut weh. Und ich habe Angst. Vor dem ersten
Arbeitstag, vor dem ersten Lauf. Ich habe wieder Angst, dass es nicht
besser wird. Die Routine gibt keine Sicherheit, denn es gibt keinen
Garantieschein. Und so wie sich mein Körper im Moment anfühlt, ist man
verleitet aufzugeben. Die ersten Schritte laufend werden schrecklich
sein. Schmerzhaft. Die Stunden danach nicht anders. Habe keine Angst
vor dem Schmerz, aber davor, mir irgendwann eingestehen zu müssen,
dass ich wirklich nicht mehr kann. Nicht SCHON WIEDER. Immer wieder,
aufs Neue… Es hört nicht auf. Kein Atemzug. Und mir wieder einreden:
„Wenn der erste Sturm vorüber ist, dann kommt auch wieder die
Sicherheit.“. So wie sie es immer tat? Und wenn sie mich vergisst?
Paresen in beiden Beinen ist etwas anderes als nur in einem. Trotz
massiver Knieschmerzen, trotz massiver Schwäche und Verkrampfung der
Beine heute den ersten Versuch wagen? Kann und will ich denn überhaupt
noch? Muss ich? Für wen? Um erneut irgendwelchen selbstgerechten
Menschen zum Opfer zu fallen, die „froh wären wenn sie all das noch
könnten“ und verurteilen. Sind es nicht jene, die sich auch fragen:
„Warum ich?“. So wie der Bekannte, mit dem ich mich montags unterhielt
und er fragte sich tatsächlich: „Warum ich und nicht der oder die?“.
Anmaßend? Niemals hab ich mich das gefragt und werde dennoch
verurteilt. Und nun? Mich der mitgebrachten Arbeit widmen, obwohl mir
wahrlich nicht danach ist? Mich zwingen? Zu welchem Zwecke? Und ich
wünschte mir, die innere Anspannung wäre immer noch mit wenigen
Schnitten heilbar. Aber die Verletzung scheint ihre Wirkung verloren
zu haben…
Abend
Da war Zorn und da war Angst. Ich torkelte stark humpelnd unsren
Hohlweg runter. Da stand ich dann, mehr wackelig als gerade, doch ich
stand. Das ist mein Krieg! Und ich tat die ersten Schritte. Meine
Beine fühlten sich so unendlich schwach an, ganz so, als würden sie
sich auflösen. Wäre ich hingefallen, wäre ich dennoch wieder
aufgestanden und weiter gerannt. Die erste Unsicherheit überwunden
konnte mich nichts mehr aufhalten. Als ich innehielt zitterte das
rechte Bein massiv und gab nach. Egal. SCHEISS EGAL!!! Die Sonne
blinzelte mir ins Gesicht und in meinen Augen war erneut die
Kampfeslust entfacht. Mir wieder bewusst geworden, wie wenig es noch
bedarf bis ich die Kontrolle komplett verloren habe. Noch kleine
Zusammenbrüche und dann Rollstuhl...? Nein, DU bekommst mein Laufen
nicht!!!! Schicksal hin oder her, diese Schlacht lasse ich nicht
tatenlos unausgefochten! Wieder und wieder und wieder! Bis ich
krepiere!
20. November, Donnerstag 8:15
Das Maß ist voll! Wie schon gestern Drehschwindel, Übelkeit,
starke Magenschmerzen, Kopfschmerzen. Jede Stelle am Körper, die
irgendwie lädiert ist, meldet sich eindrucksvoll mit Schmerzreizen.
Der Nacken, der Rücken, die Knie, sogar die Zähne. Das Gewicht macht
eine Talfahrt, die ich mir nicht mal mit den Entwässerungstabletten
erklären kann, zudem ist mein Körper geschwängert mit
Wassereinlagerungen. Und in all dem Übel erinnerte ich mich an früher,
daran, dass Kakao morgens die Nervengegend da unten immer milde
stimmte. Vor der offenen Terrassentür im eiskalten Luftzug des Morgens
auf meinem Stuhl hocken mit einer Schale Kakao in den zittrigen
Händen. Schweißausbrüche, die Haare schon wieder fettig. Ich fühle
mich mit gutem Grund eklig. „Das schlimmste hast du nun geschafft.“.
Hab ich das? Der Plan für heute lautet „Rückforderung aller Rechte!“.
In die zweite Instanz gehen sozusagen. Die Sonne scheint, gutes Wetter
um beim Laufen die Schmerzen und Missempfindungen zu vergessen und
dann irgendwo auf der Strecke zu lassen.
Abend
Die Augen verloren in schwarzen Höhlen, das Herz raste und stach
tief in der Brust. Ich renne niemals mit offenem Mund. Doch ich konnte
nicht mehr atmen. Der Drehschwindel so massiv, dass er mich aus den
Latschen hätte befördern können. Ich rannte weiter, starr mein Ziel
vor Augen. Mit jedem Blick zur Seite drehte sich alles, ein Schlag
nach dem andren in die Magengegend, eine Tortur. Ich hatte keine
Kraft, ich bekam keine Luft, mein Puls gut und gerne bei 180bpm. Und
wieder: Eigentlich geht nichts mehr und ich tue es dennoch. Jetzt ein
Flashback und ich wäre zusammengebrochen. 4 poplige Kilometer und ich
zu schwach. Mein Leben ist ein Puzzle. Stehe immer und immer wieder
vor einem einzigen Trümmerhaufen, setze die rasierklingenscharfen
Scherben jedes Mal aufs Neue zusammen, bis meine Hände bluten. Und
dann? Wieder wird es zerschlagen… Sollte ich mich auch mal fragen was
fair ist und was nicht? Aber nein, das tue ich nicht und werde dennoch
kritisiert. „Andre wären froh wenn sie drei Kilometer laufen
könnten…“. Wer sieht all die Schmerzen, all den Schweiß, den Kampf und
die Opfer, die ich bringe? Wer sieht die Härte und auch Stärke, derer
es bedarf um diesen Zustand irgendwie aufrecht zu erhalten? WER SIEHT
DAS???? Bin ich am Ende? Darauf hoffen, dass sich wenigstens der
Drehschwindel legt. Über den Tag verteilt in Eigenironie und Späßchen
versinken. Mich selbst wieder verleugnen. Nein, es geht mir
beschissen. Doch würde ich es wagen zu jammern? Nein!
Die Angst tief in mir feuert immer wieder unverhofft ihre giftigen
Pfeile ab. Irgendwo in mir. Sie spricht nicht mit mir, macht nicht
klar, was noch kommen wird und warum sie denn nun eine
Daseinsberechtigung in mir hat. Ich weiß nur, dass sie diese hat.
Würde der Verfall schneller voranschreiten –wäre es dann klar? Tut er
dies nicht bereits?
Die Ausfälle nun nach der Therapie noch massiver und beeinträchtigender. Ich kann nicht mehr. Und dennoch…
21. November, Freitag 8:00
Sebastian sägte einen ganzen Buchenwald um und ich war damit
beschäftigt ihn immer wieder anzurempeln. Parallel dazu musste ich
meinen Kopf und den Rest von meinem kaputten Körper immer wieder
umbetten. Egal wie, es tat weh. Besonders der Kopf ist äußerst
druckempfindlich. Herzklopfen, Magenschmerzen, Übelkeit, Migräne.
Durchgängiger Schlaf somit Luxus. Doch heute endlich Muskelschmerzen.
Etwas, das von einer Veränderung zeugt. Der Himmel ist grau, doch der
Plan steht. Wie ein langsam krepierender Soldat auf dem Schlachtfeld,
der im Angesicht seines Todes immer noch nach dem Schwert greift,
sitze ich bereits in meiner Laufmontur hier und warte noch auf den
Stoffwechsel, um dann beim Lauf nicht erneut eine böse Überraschung
erleben zu müssen. Diese hatte ich bereits gestern Nacht als ich
feststellte, dass eine Brust erneut blutete. Und der erste Gedanke
war: „Nein, nicht schon wieder… Nicht wieder Mammographie,
Ärztemarathon, usw.. Keine weitere Runde lustige Brustkrebswochen!“.
Was richtet das Kortison an? Geholfen hat es schon lange nicht mehr.
Was macht es mit meinem Körper? Mein Skelett in das einer 80jährigen
Frau verwandeln. Irgendwelche Stellen im Körper aktivieren, die
eigentlich nicht arbeiten sollten. Das Sekret kann ich noch verstehen,
aber warum blutet es? Warum kann und will mir das auch niemand
erklären? Und warum hört es seit 2005 nicht mehr auf? Ist mein
Hormonhaushalt so gestört? Genauso wie meine Gedächtnislücken und all
die Anfälle, sei es nun ein Flashback oder was auch immer: Es
interessiert niemanden. Keine Antworten. Grübelnd verdaut sich mein
Magen wieder selbst. Genau so belastend ist das, was mir nun noch
bevorsteht. Was mache ich mit der Arbeit? Zu sagen, sie tut gut und
ich nehme in Kauf mehrmals Kortison bekommen zu müssen, wäre so
einfach. Doch es geht nicht darum die Wichtigkeit der Arbeit mit dem
Leidensdruck unter einer Therapie aufzuwiegen. Es geht um
Behinderungen, die jeder Schub hinterlässt. Ich kann so wie es bis
jetzt lief, nicht weiter machen. Selbst mit Tysabri nicht. Das wage
ich nicht. Und nun, da beide Beine betroffen sind und der Ausgang noch
ungewiss bis trüb erscheint, erst recht nicht. Vielleicht möchte ich
doch ganz gerne noch ein oder zwei Jahre durch laufen. Und die Frage
nach dem, was wichtiger sei, ist schnell beantwortet: Das Laufen geht
über alles, steht weit über der Arbeit. Entweder lässt sich irgendeine
adäquate und stressarme Lösung finden oder ich muss kapitulieren. Das
Damoklesschwert über mir schwebend, sofort wieder in die Nutzlosigkeit
abzudriften und mich selbst wieder am Nullpunkt einzufinden. Warum
muss es so schwer sein? Dass mich die Krankheit immer mehr einengt ist
nun mal Fakt. Was bleibt ist die spärlichen Lücken auszufüllen. Aber
wie?
Vormittag
Es war eine Zitterpartie, der Kontrast zwischen Laufen und Gehen kann kaum noch größer sein. Und um meinem Trotz noch mehr Ausdruck zu verleihen bürdete ich mir selbst noch dazu eine sehr anspruchsvolle Strecke auf. Doch steile Anstiege kosten mich Absurderweise keine Kraft, sondern lösen diese aus. Wahrscheinlich eine normale Reaktion des Körpers und ich werde mit Endorphinen zugeschüttet. Der Lauf war besser, nach dem gestrigen war eine Abstufung ohnehin noch kaum möglich. Und als ich oben am Hügelkamm entlang lief und die Krähen über mich hinweg zogen, kamen die Tränen. Mit jedem Male anhalten zitterte mein rechtes Bein. Klonisch, wie meine Neurologin es bei der Untersuchung bezeichnete. Und der Rest von mir wankte und torkelte, verbissen gegen den leichten Drehschwindel ankämpfend. Aber dennoch hatte ich mehr Kraft, die mir spätestens am Schluss, als ich das zuvor erklommene Stück wieder bergab laufen sollte, nicht mehr viel brachte. Die Gefahr zu stürzen lag bei gut 80%. War ich zuvor schon im Bewegungsablauf einfach hängen geblieben. Manchmal hab ich auch mehr Glück als Verstand und absolvierte die 4km unversehrt. Und nun? Jeder Meter zu viel im Haus ist eine Qual. Ich kann kaum noch gehen. Aber da sind so viele unnötige Meter, die ich hinter mich bringen muss. Allein schon der Toilettengänge wegen.
23. November, Sonntagnachmittag
Die Stille kommt und mit ihr dumpfe Schwere. Abdriften in diese Leere,
die alles betäubt. Wieder: „Brauchst du mich denn überhaupt?“. Mein
Leben erscheint so sinnlos. Mich mit Menschen auseinandersetzen obwohl
ich nicht will geschweige denn kann. Ist es egozentrisch? Will nichts
und niemanden sehen noch hören. Mir den Schädel mit der Frage
zermartern, wie es denn nun mit mir und der Arbeit weitergehen soll.
Und heute zum ersten Mal wieder so weit gelaufen, dass die Parese im
linken Bein in Erscheinung trat. Mein Körper fühlt sich nicht gut an.
Banale Dinge wie mir die Haare zu machen kostet mich unglaublich viel
Kraft. Und im Bett konnte ich nachts das linke Bein nicht mehr
anziehen. Und jeder Handgriff besteht eigentlich aus zwei Handgriffen
und endet damit, dass ich etwas aufheben muss. Siegt der Ärger über
den Frust? Bin beim wiederholten Male mich Bücken kurz vorm
Explodieren, kaschiere mit Wut dass ich in mich zusammensinken und
weinen möchte. Die große Jahresabrechnung –was ist alles verloren? Was
noch geblieben? Wieder die Tore schließen und still schweigend dem
Verfall beiwohnen, ohne einen Laut, ohne ein Wehklagen von mir zu
geben. Der Gedanke daran, was mir nun noch blüht, ist von solcher
Größenordnung dass dieser meinen Horizont übersteigt. Stilles Warten
und mich mit immer mehr Löchern arrangieren lernen. Beiläufig, ohne
groß nachzudenken. Und kopfschüttelnd hinnehmen, dass andre aufgrund
meines Schweigens meine Situation als viel harmloser einstufen, als
sie es tatsächlich ist. „Aber man sieht dich doch immer dabei…“, und:
„Aber du machst doch immer…“. Hinnehmen; Preisgeben macht keinen Sinn.
Denn selbst dann ist noch Raum für Bagatellisierungen. Gute Ratschläge
die wertlos sind, denn es geht nicht darum an einer ohnehin starren
Situation den sinnlosen Versuch zu unternehmen etwas daran ändern zu
wollen, sondern diese erstmal als Ganzes zu begreifen und zu fühlen.
Mit all dem Schmerz und der Angst, die ihr innewohnen. Und dann? Wenn
ich sie zu leben gelernt habe, bereits die nächste Änderung hinnehmen?
Bin ich in der Position zu sagen, dass ich einfach nicht mehr kann?
Und wie immer scheinen auch nun die Höllentage vergessen und ich
kämpfe aufs Neue.
Immer wieder kommt die Stille und bettet mich in Schweigen. Und ich kann dann auch nicht mehr agieren noch zuhören. Bin wo anders. Sehe meine vernarbten Arme und sehne mich nach mehr. Die Stille schreit nach einer Handlung. Mich zurückwünschen an den toten Punkt. Was tu, was lasse ich?