VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2008

31. Oktober 2008, Freitag 7:30
Wie kann man mit einem Schlag ein Glashaus kaputt machen? Und wie sieht dieses aus, wenn gleich mehrere Steine drauf einprasseln? Vorgestern war der Postkasten leer, gestern voll gestopft mit Briefen. Jetzt erst kam die letzte Rechnung für die letzten Therapiesitzungen. Seltsamerweise hatte ich am Tag zuvor aus heiterem Himmel darüber nachgedacht, ob nicht noch etwas zu zahlen sei. Bei meiner Hirnleistung konnte ich es nicht mehr wissen. Doch der absolute Oberkracher kam erst: Eine Vorladung in die BH zur Nachuntersuchung das Pflegegeld betreffend. Schluck. Im ersten Moment wäre ich am liebsten weggerannt, im zweiten hätte ich mich aufgeschlitzt. Tat keines von beidem, blieb sitzen, unglaublich angespannt, unruhig und entnervt. Und warf mir selbst vor, ob ich überhaupt ein Recht dazu habe? Da war die Angst, dass sie mich laufen gesehen hat.  Es ist und bleibt ein Dilemma: Einerseits denke ich kein Recht zu haben, dieses Geld zu beziehen, andrerseits brauche ich es aber, da mit 360€ Kinderbeihilfe ein Leben kaum leistbar ist. Und? Gönne ich mir denn etwas? Es geht einzig und allein um Sparen. Sparen, um die Wohnbauförderung abzubezahlen. Mittlerweile lasse ich schon Tabletten weg, nur weil es mir auf die Dauer zu teuer wurde. Wenn wir nicht alles geschenkt bekommen würden, hätten wir nichts. Und dann dieser Umstand, Sebastian verleugnen zu müssen. Es kotzt mich an, es widert mich derart an, dass mir schlecht wird. Was ist da noch? Durch diesen inneren Kampf, diese Anspannung erneut einen Schub loszutreten? Eigentlich müsste ich das Geld einsetzen, bräuchte Hilfe. Aber ich spare es lieber und quäle mich, gehe an und weit über meine Grenzen. Bin ich so schlecht? Und schon geht’s mir schlecht. Krampflöser einwerfen.
Vormittag
Nicht wissend, wie mein Körper auf die „ungewohnte“ Strecke reagieren würde, entschied ich mich für die kürzere Variante. Doch die Parese hielt sich im Hintergrund, es war wunderschön die Kraft in den Oberschenkeln zu spüren. Über die Hügel, durch die atemberaubende, herbstliche Landschaft, mein Schatten lief neben mir her und es sah so unendlich kraftvoll aus.
Und es war deprimierend, als die Kraft schlagartig nach 5km mit dem ersten kurzen Stückchen bergab endete. Als ich am höchsten Punkt angelangt war und mir das Lafnitztal zu Füßen lag, sah ich irgendwo da unten in der Weite der Ebene einen Punkt rumlaufen, sah mich selbst, meine Kindheit, meine Jugend. Und ich wusste, meine Vergangenheit ist tot. Stand da, sah all die Pracht, spürte die unendliche Schwäche und den Zerfall und Tränen stiegen mir in die Augen. „Wie lange noch…?“. Ich rannte weiter, mit der einsetzenden Lähmung kämpfend. Als ich erneut anhielt, konnte ich unten im Graben das Haus meiner Eltern sehen und spürte den Tod. Noch mehr Tränen. Doch ein Bekannter trat aus seinem Schuppen direkt neben mir hervor und ich rannte weiter. Die letzten Meter humpeln. Den Hohlweg zum Haus erklimmen indem meine Hände das linke Bein Schritt für Schritt hochziehen.
Wahrlich, mir ist nach Heulen. Darf ich denn? Was ist recht und was nicht? Jetzt sind sie da, all die Tränen über den schleichenden Verlust. Darf trauern um das, was mir das Liebste ist. Die Wand, hinter der all der Schmerz verborgen lag, eingebrochen. Sehe mich gezwungen mich erneut mit dem Desaster auseinanderzusetzen, obwohl ich doch viel lieber einfach so in den Tag hinein leben würde um jeden Funken Kraft zu genießen, ehe es zu spät ist. Mit verheulten Augen im einfallenden Herbstlicht zusammensinken wie ein kleines Kind, das Angst hat, verlassen zu werden. Da ist alles –der Tod, der eigene Verfall und noch mehr Tod. Ich darf nicht glücklich sein…

Wenn es doch so weh tut, warum sterbe ich dann nicht?


1. November 2008, Samstag 7:45
Capuccinoschlürfend auf den Laufstart warten. Es regnet, die Zweifel an meinem Vorhaben waren aber nur von geringer Intensität. Und bereits nach kurzem Kalkulieren war klar, dass nun zu laufen die beste Option sei. Es ist nicht kalt, so spielt das nasse Wetter keine Rolle. Entscheidender ist das Gefühl in meinen Beinen. Nicht unbedingt prickelnd. Wir waren gestern noch in Fürstenfeld und gingen durch die Stadt, auf der Jagd nach einer Brille für Sebastian. Bereits nach dem Ausstieg aus dem Auto humpelte ich massiv, und es wurde nicht unbedingt besser. Wir amüsierten uns darüber, wie ungeniert die Leute glotzten, weniger amüsant war dann der Umstand, dass nach einer Weile die Beine verkrampften und zu schmerzen begannen. Der Optiker versuchte Sebastian mit Sprüchen wie: „Damit sind Sie up to date!!“, und: „Das ist TOTAL in Mode!“, zu ködern. Eigentlich der falsche Köder für den falschen Fisch. Letztendlich entschied er sich dann, mein Portmonee blutete schon in schmerzhafter Erwartung und er fühlte sich schlecht dabei, mich anpumpen zu müssen. Doch mein Geld ist auch sein Geld. Abends besuchten wir dann noch Margit, unsre Nachbarin. Das alte Bauernhaus ist ein TRAUM. Wieder erblassten wir vor Neid, als wir nur die erste Stufe betraten. Ihre Freundin, die Sprechstundenhilfe meines Hausarztes, traf auch noch ein und wir unterhielten uns erst ganz angeregt. Doch ich merkte, dass ich das irgendwie nicht mehr kann. Bzw. nur kurz. Dann war ich überfordert und verfiel diesem Schauspiel. Reagierte nur noch so, wie man es von mir erwartete. Zudem fühlte ich mich scheiße, da sich immer irgendwie alles um meinen Dachschaden drehte und auch wenn nicht ich die treibende Kraft war, es war mir unangenehm. Irgendwie kam die Schuld und beutelte mich. Auch deswegen, weil mein Interesse an meinem Gegenüber irgendwann schwand und ich einfach nicht mehr richtig zuhören konnte. Wie ich schon erwähnte: Ich bin und bleibe wohl ein gesellschaftlicher Krüppel. Kein gutes Gefühl. Zumindest dann nicht, wenn man gezwungen ist zwischenmenschlich zu agieren.
Es regnet stärker –nehme ich die lange oder die kurze Strecke? Um halb 12 muss ich fix und fertig sein für das Essen bei meiner Mutter…


3. November, Montag 6:00
Bei Kilometer 5 von einem gemächlich dahin trottenden Läufer überholt zu werden, tut weh. Und dass er es dann noch in diesem Tempo schafft, mich abzuhängen, schmerzt noch mehr. Zudem hatte er, laut seiner Aussage, schon 15km auf den Latschen. Wie deprimierend. Zum Glück dauerte das Schauspiel nicht unerträglich lange, da er nach dem Überholmanöver gleich sein Haus erreicht hatte und länger hätte ich seinem fast hypnotischen Stil nicht zusehen können. Liegt es wirklich daran, dass ich nicht unbedingt ein Riese bin? Oder bin ich so langsam? Ich komme mir selbst gar nicht so langsam vor. Meine neue Hose ist auch eine Enttäuschung, sie ist viel zu weit, aber unter den gegebenen Umständen, ist es ein Wunder dass diese Überhaupt Form und Sitz ihr Eigen nennt. Dieses Rumgepfusche wegen zuwenig Stoff ist unwahrscheinlich nervig. Lass ich sie an oder werfe sie gleich wieder rüber ins Atelier auf den zu bearbeitenden Haufen? Vielleicht ist die Passform nach der Kanne Tee eher gegeben. Und eigentlich mag ich nicht. Mag nicht wach sein, mein Schädel dröhnt erneut. Sind mir doch tatsächlich gestern die Tabletten ausgegangen und nachdem ich bereits mittags schmerzhafte Krämpfe hatte, war die Befürchtung, abends deswegen nicht schlafen zu können, mehr als berechtigt. Ich versuchte nicht daran zu denken, was mir wahrlich nicht gelang, doch mein Dachschaden war gnädig und ersparte sich und mir die Müh. Schlummerte doch noch eine ganz andre Sorge tief in mir und machte Unruhe: Die Vorladung. Morgen ist es soweit und ich erwäge wirklich, dem Rat Margits und Mariannes vom Freitag zu folgen und mir für den Fall der Fälle eine Bescheinigung vom Hausarzt zu besorgen, dass das Laufen wichtig ist und einen unverzichtbaren therapeutischen Effekt habe. Wieso nicht? Es ist ja auch eine Tatsache, dass ich ohne das Laufen GARNICHTS mehr könnte. Andre haben einen Physio, ich meine Asics und einen unbrechbaren Willen. Nur für den Fall, dass sie mich wieder erkannt hat. Den Lauf morgen kann ich mir wohl knicken, obwohl nur noch 100km bis zu meinem Ziel fehlen und diese ohne weiteres in 10 Tagen machbar sind. Genau so gut kann ich mich auch hinsetzen und die Fassadenrollländen hochlassen und die gesamte Untersuchung hindurch heulen. Die Angst, morgens aufzuwachen und wieder irgendein neues Symptom mein Eigen nennen zu dürfen, ist seit der Erkältung ohnehin wieder fast unerträglich. Und nun noch zusätzlich dieser Stress durch diesen Termin morgen. Die Vergangenheit und meine Erfahrung, die ich machen „durfte“, sagen mir, dass dies ein äußerst kritischer Moment ist. Situationen wie diese endeten zu 90% im Krankenhaus. Versuche ruhig zu bleiben. Haha, dass ich nicht lache. Ständig rotiert es durch meinen Schädel, was ich sagen darf und was nicht. Wie bescheuert. Lügen, um die Existenz zu sichern. Beschämend…


4. November, Dienstag 6:00
Der Tag war durchwachsen. Als ich im Büro ankam, machten sich schlagartig die Entzugserscheinungen bemerkbar. Ich zitterte am ganzen Leib, bei jedem einzelnen  Schritt zitterten meine Beine, zitterte mein ganzer Körper. Nun gut, das tut er nun schon seit etwa 2 Wochen, aber in diesem Moment in einer Ausprägung sondergleichen. Konzentrieren war zwecklos. Nachdem ich mein Käsebrötchen vertilgt hatte, legten sich zumindest die Zeichen des Blutzuckertiefs und als ich ging, sprach ich kurz die Vorladung an. Mieke versuchte mich zu beruhigen und dass die Amtsärztin doch ohnehin ganz lieb sei. Als ich fuhr, war es höchste Zeit, meine Augen nur noch grenzwertig zum Autofahren geeignet. Die neue Servolenkung ist ein Traum und erleichterte zumindest das Durchkurven all der Kreisverkehre und das Einparken. Nach dem Dehnen führte mich mein erster Weg in die Apotheke, wo auch meine Lieblingsapothekerin auf mich wartete. „Notfall!“, und ich drückte ihr mein Rezept für das Lioresal in die Hand: „Hab schon totale Entzugserscheinungen!“. Sie verschwand nach hinten, kam wieder, sah wehmütig auf mein Rezept und teilte mir wieder mit, dass sie es total erstaunlich fände, am selben Tag Geburtstag zu haben. Ich gratulierte und sie meinte den Runden gefeiert zu haben. „Ach den 30er?“. Sie war geschmeichelt, denn es war der 40er. „Also bedeutet das, dass die Oktobergeborenen länger frisch bleiben?“, und ich zückte die EC-Karte. Sie winkte ab und meinte, ich müsse nicht zahlen. Im ersten Moment war ich perplex, war mein Kompliment so gut angekommen, zumal ich wirklich dachte sie sei erst 30? „Gebührenbefreit!“, sagte sie lächelnd. „Nein! Nein? Hab ich’s endlich geschafft? Ich würde nun einen Kniefall machen, wären meine Beine nicht so steif!“. Kaum draußen, warf ich schon meine Tablette ein und lief noch ziemlich steif los. Mein Tag hatte eine gute Wendung bekommen. Ein wunderschöner Tag, ZU schön für einen November. 20°C und mehr im Sonnenschein. Zudem habe ich DEN Grundfehler schlechthin begangen und freitags beim Besuch auf die Frage, ob man sich mit dem Laufen nicht die Knie ruinieren würde, meine Geschichte erzählt und dass all die kleinen Kniffe reichen und ich schmerzfrei sei. Pustekuchen! Da war er, der Knieschmerz. Sonntags links, gestern rechts, und heute schmerzt es richtig, auch im Ruhezustand, und das Gelenk ist heiß. Voltaren muss es richten. Nach dem Mittagessen, als alles erledigt war, wurde mir klar, wie lähmend diese Unruhe in mir sein kann. Hinzu kam noch die genau so lähmende Müdigkeit. Erst versuchte ich es mit Gehirnjogging, anschließend mit der Glotze. Es schien keinen Ausweg mehr zu geben und der Nachmittag drohte mich aufzufressen. Das Programm war ohnehin nicht zu ertragen und letztendlich verschwand ich mit meiner Klinge im Garten. Martha verfolgte mich und als ich mich auf den Hocker setzte und alles bereit gelegt hatte, pflanzte sie sich auf meinen Schoß. Ich saß da und überlegte. Zu viel. Ich räumte den Krempel wieder weg, erst in Reichweite, dann wieder zurück an seinen Platz. Stattdessen ließ die Müdigkeit nach und ich begann im Garten aufzuräumen. Während ich das Werkzeug für den Winter nach hinten in die Autoscheune schaffte, dachte ich immer noch darüber nach, ob dies nun ein Triumph sei oder ein Zeichen von Schwäche. Meine Mutter hatte währenddessen eine Nachricht auf dem AB hinterlassen. Sie hatte die erste Vorladung gefunden und da diese vor exakt einem Jahr stattfand, ist davon auszugehen, dass es eine ganz normale jährliche Nachuntersuchung ist. Das ahnte ich bereits, ich hatte meine eigenen Akten gewälzt und sah selbst, dass es sich zeitlich ausgehen könnte. Der Tag wurde doch noch schön und obwohl ich eine massive Gangbildstörung hatte, ließ ich mich nicht aufhalten. Vermutlich schmerzt mein Knie deswegen, nicht aufgrund der Läufe.

Abends dann bekam der Tag wieder eine Schlagseite als mir Sebastian mitteilte wie hoch sein Disporahmen sei und dass dieser nun voll ausgeschöpft ist. Erst standen mir die Haare zu Berge, dann wurde mir schlecht und ich sah mich bereits erneut mit der Klinge konfrontiert. Doch ich blieb sitzen, war einfach nur schockiert und auch etwas wütend. Verharmlosend: „Das kann jedem mal passieren…“. „Nein…“, und ich schüttelte vehement den Kopf: „Mir nicht!“. Mein Schädel ratterte, ich suchte nach Auswegen, nach Strategien. Wenn zwei Waagen aufeinanderprallen… Dann gibt es kein eigenständiges Gleichgewicht mehr. Man braucht den andern als Gegengewicht. Ich hatte auch viel über das, was ich bei der Untersuchung sagen werde „müssen“, nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ohnehin schon permanent lüge. Mit jedem Lächeln, jedem netten Wort, dass nicht meines ist. Lüge, in dem Verhalten, welches ich an den Tag lege, damit man es mit mir aushalten kann. In all den Späßen, wenn mir doch nach Heulen ist. Also was machen da ein paar schwarze Flecken mehr auf dem Karma schon für einen Unterschied?


5. November, Mittwoch 8.00
Ich fühle mich schlecht. Ich BIN schlecht, vermutlich steht in großen, schwarzen Buchstaben auf meinem Buckel zu lesen: SCHULDIG!! Erst war ich noch zu meinem Hausarzt und bat ihn, ein Attest aufzusetzen, welches die Wichtigkeit des Laufens und dessen physio- und psychotherapeutischen Wert bestätigt. Er schrieb, las es nochmals durch, dann ein: „Ah, geh!!! Ein Rechtschreibfehler…“, und verfasste das ganze auf ein Neues. Dann betrat ich, 10 Minuten zu früh, das Büro der Amtsärztin und der erste Satz war: „Wie geht es mit dem Laufen?“. Mit einem Schlag müssen meine Ohren hochrot angelaufen sein, zumindest fühlte es sich so an. Ich erwähnte die Schwierigkeiten, de ich mittlerweile habe und währenddessen dämmerte mir, dass das Laufen doch bereit letztes Jahr ein Thema war und sie davon wusste. Ich hätte mir auf die Stirn hauen können, weil ich so vergesslich bin und mir sehr viel Stress erspart hätte. Und dann kam der mehrseitige Bogen mit Fragen, auf die ich antworten musste. Lüge! Lüge! Und nochmals LÜGE!!!! Sie sagte dann immer schon: „Aber ihre Mutter macht das, nicht?“. Wusste sie nun bescheid? Korrigierte mich in die notwendige Richtung? Letztes Jahr hatte meine Mutter all diese Fragen beantwortet und ich saß mehr teilnahmslos daneben. Nichts davon entspricht den Tatsachen, einiges wäre wohl nötig, aber ich beiße mich da selbst ohne Rücksicht auf Verluste durch. Ist es fair? Meine Mutter sagt, sie kennt unendlich viele, die es NICHT verdient hätten. Aber das gibt mir kein besseres Gefühl. Wäre es einfacher, wenn ich ein Recht auf Frührente hätte? Und so wand ich mich durch das Gespräch und all die unangenehmen Fragen, mein Schädel wurde immer heißer und heißer und dann am Schluss fragte ich sie: „Finden sie es nicht ambivalent, dass ich laufen kann und alles andre nicht mehr?“. Für einen Moment stockte der Atem und es war totenstill im Raum. „Nein, ich sehe ja die neurologischen Ausfälle.“. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass sie schon beim ersten Gespräch wusste, dass ich laufe. Und dann wollte sie mir noch etwas zeigen, da „die Schulmedizin auch nicht die Antwort auf alles sei“. Und ich musste noch 10 Minuten warten, und wäre doch am liebsten im Erdboden versunken. Dann zeigte sie mir ihr Wunderkästchen, welches mit Elektroimpulsen Mordsergebnisse erzielen würde. Und redete und redete und ich wünschte nur noch, sie würde aufhören und diese Quälerei beenden. Diesen Gedanken hatte ich nicht zum ersten und letzten Mal an diesem Tag. Wackelnd verließ ich die BH, ich konnte ohnehin kaum noch gehen. Psyche oder nicht? Erst dachte ich, dem sei so. Doch dieses Phänomen trat schon vor Eintreffen der Vorladung auf. Wieder ein Schub? Abends dann bei unsrer Apfeldealerin, flehte ich innerlich erneut: „Bitte! Bitte, hör auf zu reden und lass mich gehen!“.  Sie erzählte erneut von einer Naturheiltante aus dem Dorf nebenan, die spüren würde, was man hat und berichtete von unglaublichen Erfolgen. Und dass ich da unbedingt hingehen müsste. Und sie hörte nicht auf, auf mich einzureden und ich konnte längst nicht mehr, stand schon aufs Auto gestützt, zitternd, halb am Zusammenbrechen und wollte nur noch weg. Und dann? Dann fühlte ich mich schlecht deswegen, weil man es ja nur gut mit mir meint. WARUM müssen alle möglichen Menschen MEIN Leben verbessern und ändern? Warum wollen sie mir die Besserung regelrecht aufzwingen? Warum kann man mich nicht einfach in Ruhe lassen? „Ja hast du denn keine Hoffnung?“. Nein, denn es ist wie es ist und für mich ist mein Kampf der einzig wahre. Worte können so belastend sein…
Und nun? Was hab ich von dem ganzen Scheiß? Meine linke Körperhälfte ist noch tauber als zuvor und das Zittern in den Beinen konnte sich auch nicht unbedingt legen. Die subcutane Injektion am Morgen sinkt ohne einen Reiz in die Haut. Was tu, was lass ich? Abwarten, ob es sich bessert oder von einem Schub ausgehen?


6. November, Donnerstag 6.00
Und schon fressen sich die Tage in den noch jungen Monat, es gibt kein Halten mehr. Die Strafe für meine „Schlechtigkeit“ folgte auf den Fuß. Ich rannte los und bereits nach 2km musste ich das erste Mal das Mobiltelefon zücken. Sebastian konnte nicht weg und ich versuchte, wieder zurück zu laufen. 500m, mehr nicht. Eine Flucht in den Wald schien zwecklos, so nackt wie dieser nun ist. Zudem waren da noch Bauern beim Holzarbeiten und andre „Sportler“ auf der Straße. Ich zückte zum zweiten Mal das Telefon und versuchte es bei meiner Mutter, die erst nicht ranging, da sie meine Nummer nicht kannte. Zum Glück siegte die Neugier und sie holte mich ab. Fuhr mit zu ihr nach Hause, ging dort auf die Toilette, rannte 1km im Kreis, nutzte das Klo ein zweites Mal und verabschiedete mich dann und lief nach Hause. Doch auch da nicht lange, ehe ich erneut auf’s Klo musste. Ich sah mich gezwungen, über den großen gedroschenen Kukuruzacker nach Hause zu gehen, an diesem Punkt versagten meine Beine zum Glück noch nicht. Keine Katastrophe, doch auch kaum Strecke. Es gab Mittagessen, ich verblieb in meinen Sportsachen um nach der Mahlzeit ein zweites Mal loszurennen, um die Strecke zu strecken. Und hatte ich es nicht prophezeit? Dass ich mich schon erneut wieder die Wiese runterholpern sah? Dabei hatte ich die neue Strecke so gewählte, dass ein Austreten für gewöhnlich ohne weiteres möglich ist. Aber nein. Mir war bis dato nicht bewusst, wie unglaublich viele Hochsitze dieses kleine Stückchen Weg besitzt und ich war nicht in der Lage zu erkennen, ob da einer drauf saß oder nicht. Die Umwelt wurde erneut zum Feind und dann war es zu spät. Ich schlich die steile Wiese hoch, getrieben  von Scham und der Angst, gesehen zu werden. Meine Beine zeigten sich gnädig, und beschränkten sich auf massives Kribbeln, als ich oben angekommen war. Ich rannte weiter, um so schnell als möglich nach Hause zu kommen. Absurderweise immer noch die Strecke im Kopf. 200m vor unsrer Einfahrt passierte es das zweite Mal, und ich gab auf, nahm nicht die Straße sondern die Abkürzung über die Wiese, mittlerweile humpelnd, direkt zum Haus. Und irgendwie war mir alles egal, bis auf die Strecke, die ich nicht voll machen konnte. Ich schrubbte mich ab, die Sachen in die Wäsche und trat hinaus vor die Tür, um die fehlenden 200m ums Haus zu laufen. Mein Wert war doch ohnehin schon dermaßen gesunken, dass ich wenigstens diese eine Sache richtig machen und zu Ende bringen musste. Doch es ging noch tiefer. Als es allmählich Zeit wurde und Sebastian bald kommen würde um mit mir nach Fürstenfeld zu fahren, seine neue Brille zu holen, nahm das letzte Desaster des Tages seinen Lauf. Ich versuchte meine Haare zu machen, doch es misslang. Immer und immer wieder. Ich konnte die Arme nicht mehr hochhalten, der linke Arm verkrampfte sogar schmerzhaft, doch ich bekam es einfach nicht hin. Und je häufiger ich es versuchte, desto mehr hasste ich das Gesicht im Spiegel, desto widerlicher und hässlicher wurde es. Ich gab auf, trat hinaus in den prächtigen Abend, der mehr Frühling als Herbst war und lauschte dem wehmütigen Gesang des Rotkehlchens in den kahlen Jungerlen. Und ich wollte den Sonnenuntergang sehen, doch ich konnte nicht denn auch meine Augen versagten, ließen mich im Stich. Jetzt war ich depressiv. Und heute? Heute bleibt die Angst, in der Stadt in eine weitere Katastrophe zu rennen und das gestern sozusagen nur die Generalprobe für den absoluten Megagau war. Mein Schädel dröhnt und ich trinke lieber nicht zu viel Tee. Ob das etwas daran ändert? Ich denke über mich nach, sehe das Bild in mir, das ich von mir selbst habe und ich hasse mich. Der Verletzungsgedanke war mir schon gestern wieder vertraut nah. Wie wird es wohl heute sein? Ist es nicht egal, bin nicht ich egal?


7. November, Freitag 7:45
Ums Kirchenklo rotieren, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Insassen des Altersheimes konnten wieder uneingeschränkt Wetten auf mich abschließen, was ein amüsanter Gedanke ist zumal mir diese Toilettengänge ohnehin immer irgendwie peinlich sind. Der Nachmittag drohte mich sodann aufzufressen, es regnete und ich wusste nichts mit mir anzufangen. Zwischen den Zeilen gelesen bedeutet dies im Klartext: Ich war hundsmüde und erschöpft, zu sehr, um irgendetwas in Angriff zu nehmen. Und dieses auf dem Sofa Rumgammeln hatte etwas von kostbarer Lebenszeit in dieser Lebensqualität Wegwerfen. Und spätestens beim Abendessenkochen drängte sich mir erneut die Frage auf, ob ich nun einen Schub habe oder nicht? Was soll’s? Wenn es einer ist, kommt doch nun ein wunderschönes Wochenende, um noch darüber nachzudenken und Handlungszeit beim Fenster raus zu werfen, falls ich überhaupt etwas dagegen unternehmen will und darf. Erstmal ruft die Strecke und die Befürchtung, in die nächste Katastrophe zu rennen, ist berechtigt…
Vormittag
Irgendwo unterwegs auf irgendeiner einsamen Landstraße im Nebel und Regen bist du ganz allein, wenn die Lähmung einsetzt. Da ist niemand, der dir helfen kann, niemand, der dich tröstet oder dir Mut zuspricht. Allein, ganz allein. Was hilft dann noch? Welche Hausmittelchen hast du dann noch in petto? Fiese Musik auf volle Lautstärke aufdonnern, damit dir jemand anders ins Ohr brüllt und du das verzweifelte Wimmern tief in dir drin nicht mehr hören musst? Hilft es? Wie weit? In nicht ganz 5 –Minutenabständen immer und immer wieder anhalten. Das Regenwasser läuft über mein Gesicht, doch es spielt keine Rolle. Ich vermag die Spur nicht zu halten, drifte immer wieder Richtung Straßenmitte ab. Am Ende werde ich 10km in meinen Kalender schreiben und nur diese Zahl scheint  von Bedeutung. Doch da ist Angst. Gestern ein massives Flashback im Büro, und nun nach dem Lauf ein weiteres. Es tut weh, mir wird schlecht, der Atem stockt, das Herz setzt aus. Für einen Moment bin ich wieder in meinem Traum, bin tot. Und danach ist nichts mehr wie es vorher war.


10. November, Montag 6:15
Mich das ganze Wochenende mit Nähen quälen. Am ersten Tag war es eine Qual auf den Knien auf dem Boden rumzurutschen, um die Vorlagen als Schnitt auf den Stoff zu bringen. Am zweiten Tag noch mehr, denn dann kam noch der Ärger dazu. Wieder wünschte ich mir eine Schneiderpuppe, dachte erneut darüber nach, wie ich mir selbst eine basteln könnte. Der Lauf am Samstag war deprimierend, der Lauf gestern herrlich. Ich hatte das Gefühl, dass die MS mein Liebstes nicht so einfach bekommen würde. Und ich hatte mir ein zweites Paar Laufschuhe gekauft, was für mich Versprechen genug ist, dass ich nächstes Jahr noch laufen werde. Ich begegnete der Konkurrenz. Wo die alle auf einmal herkommen, ist mir ein Rätsel. Oder waren es „Jogger“? Wie kann man so emotionslos seine Kilometer abarbeiten? Laufen ist für mich Leben, ist voller Emotion. Mal schnell, mal langsam,  mal mit Freude im Gesicht, mal mit Tränen. Im ersten Moment war da nur Unverständnis, wie man nur so lieblos einen Schritt nach dem andern tun kann, ohne wertzuschätzen, dass man überhaupt dazu in der Lage ist. Ja, ich weiß… Wieso sollten sie? Ich hatte neue Musik auf dem MP3-Player und ich war für meine Verhältnisse verdammt schnell, lag weit über meiner normalen Durchschnittszeit. Die Lähmung kam, wie immer, nach 5km, aber es spielte keine Rolle. Nicht an diesem Tag und bei diesem Lauf. Ich wollte nicht, dass sie eine Rolle spielt. Sie vergiftete schon den Rest des Tages. Als ich im Atelier an meinem Arbeitstisch über den Stoff gebeugt stand, kippte ich immer wieder nach vorne. Es geht nicht mehr, es zieht mich nach unten. Und abends, als ich vollends entnervt das „Kleid“ in den Wäschekorb zum Auswaschen von Fäden und Kreide warf und meine Haare neu sortieren wollte, ging dies nicht mehr. Meine linke Hand war absolut unbrauchbar. Ich quälte mich vorm Spiegel mit dem Haargummi und meinen Zotten ab und zitierte erneut verbittert murrend: „Nein, nein, da ist keine Hemiparese. Ich kann nichts feststellen!...“. Sicherlich, NUR die Psyche! Genau so verbittert reagierte ich freitags beim ersten Schuhkaufversuch in Fürstenfeld. Ich beschrieb den Schuh, den ich bis jetzt immer gekauft hatte, und der Verkäufer von oben herab: „Nein, ohne Dämpfung laufen sie sicher nicht.“. Ich erwähnte den Vorfußlauf, er entgegnete beinahe arrogant, dass er nun stundenlang mit mir darüber diskutieren könnte, wie unsinnig das sei. Nun lief ich richtig heiß. „Wenn ich nicht so laufen würde, könnte ich keinen Schritt mehr machen und mich gleich in den Rollstuhl setzen!“. Hatte ich ihn damit überfahren? Er kam ins stocken, irritiert von meinem unvorhersehbaren Argument. Richtig so! Einen Tag später in der andren Filiale gab es den Schuh, gleich zu Hauf, und als ich an der Kassa wartete, hatte sich die Verkäuferin noch informiert und meinte, man könne den Schuh bei Bedarf auch noch aus andern Filialen beziehen. Was für ein Unterschied. Mit den Worten: „Sie haben meinen Tag gerettet!“, verließ ich 50€ ärmer das Geschäft, aber glücklich. Was will man mehr? Billiger kann man wohl kaum Laufschuhe kaufen.

Und da waren auch noch die Verletzung, bzw. der Gedanke daran und die Bilder in meinem Kopf. Ich stieß, ungeschickt wie ich war, die kleine Dose um, als ich mit dem Stoff rumhantierte. Da lagen sie. An die 15 Rasierklingen, über den Tisch verteilt und schimmerten verführerisch. Ich konnte mich ihrer Wirkung kaum entziehen und als ich eine nutzte um eine Naht aufzutrennen, wofür die alten nun auch eigentlich gedacht waren, spürte ich das Verlangen, sie mir in den Arm zu rammen. Ich tat es nicht. Macht das nun den Unterschied aus? Oder ist es erneut nur eine Frage der Zeit?


11. November, Dienstag 6:15
Der Tag prallte ungebremst in mich und meinen ledierten Körper, ging aufs Gas, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Berg Arbeit lag schon für mich bereit und begrub mich unter sicht, in Nachbeben folgten die Schlüsselkräfte mit separaten Wünschen. Überforderung ist kein Ausdruck für den Zustand, in dem ich mich viel zu lange befand, ehe ich meine Abläufe strukturieren konnte. Und dann diese Aktenordner und all diese Akten, die erneut eingeordnet werden mussten. Meine linke Hand hatte sich vom Vortag immer noch nicht erholt, es war eine Qual die Mappen aus dem Schrank zu nehmen, umzublättern, einzusortieren, wieder zu schließen und zurück zu stellen. Solch poplige Handgriffe und ich nicht in der Lage, diese durchzuführen. Aber es können oder nicht und dann tun sind bei mir zwei Paar Schuhe. Ich tat es also dennoch und die Hand verkrampfte sich, bitterböse zeternd. Die Beine, Fundament des ganzen Regimes, boykottierten ihren „Diktator“ ebenfalls und so juckelte ich durch den Flur, sodass mich eine Klientin auf meinen humpelnden Gang ansprach. Ich meinte nur: „Leg dir bloß keine Löcher im Hirn zu!“. Im Büro war ich zu 50% allein und wenn Heidi da war, meinte sie, das Telefon wäre heute aber ruhig. Dafür musste ich aber gefühlt verdammt oft mit diesem nach hinten in die Küche schlurfen. Ich könnte auch sagen: „Rufen Sie bitte nochmals an mit der Durchwahl 12!“. Doch die verschreckten Tanten in der Küche wagen es, bis auf eine einzige, nicht, abzuheben. Also weiterhin mich nach hinten kämpfen oder gemäß des Falles bei der Tür rausbrüllen, sie sollen gefälligst abheben? Einfach sieht anders aus. Nun gut, nach zwei Stunden war es geschafft und ich humpelte in meine Laufsachen und Schuhe. Dehnte, humpelte auf die Straße. Links den Fuß etwas nachschleifend, rechts beim Auftreten zitternd. Warf die Musik und die Pulsuhr an, tat den ersten gelaufenen Schritt und die Befreiung aus den Ketten der Krankheit war getan! Zumindest bis Kilometer 5, da hatte sie mich wieder eingeholt. Aber die Parese ist wie sie heißt eine träge Persönlichkeit und so konnte ich sie auch diesmal mit sich zum Ende hin häufenden Pausen austricksen. Zumindest an diesem Tag. Endstand? 12,3km. Also noch eine ganze und eine halbe Strecke und ich darf mein 2000km-Siegerfoto machen. Und da stand ich vor meinem Kalender und rechnete, wie viel noch in die restlichen Jahrestage reingehen könnte und musste mich selbst ermahnen, dies zu lassen um nicht erneut dem nächsten Zwang zu verfallen. Draußen trifft Grau Nebel und das Rotkehlchen singt in den kahlen Bäumen. Immer noch zu warm, nun fast Mitte November und ich renne immer noch in den kurzen Lauftights. Aber mit fingerlosen Handschuhen, Herr „Krampus“ und die chronische Sehnenscheidenentzündung hatten nichtsdestotrotz am Wetter schmerzhaft Bedenken geäußert. Mein Knie hingegen ist wieder lieb und folgsam und hat das Rumgemotze wieder eingestellt. Drei Tage Strafbandage und Dunkelheit zähmen jeden noch so fiesen Wüterich. Ich mag diese Nebelsuppe. Da sieht man mich beim Laufen nicht mitsingen. Zu Hause und im Ruhezustand frage ich mich immer wieder: „Was tust du da? Ist das nicht albern?“. Doch kaum renne ich und die Mucke wettert in meine hochroten Ohren, kann ich nicht anders. Das ist das, was ich unter lebendigem, emotionalem Laufen verstehe. Spaß haben! Solange es noch geht…


12. November, Mittwoch 7:45
„Spaß haben.“, manchmal verstehe ich mich selbst nicht mehr. Warum muss ich selbst immer alles in Lächerliche ziehen? Wenn ich versuche über mich und die Krankheit nachzudenken, ist da eine Wand mit verschlossener Tür. Bis zu einem gewissen Punkt komme ich und weiter geht nicht. Und dann gestern? In einer absolut nichts bedeutenden Situation –ich ging soeben über den dämmrigen Flur- ging die Tür mit einem Schlag auf und ich sah hinab in den schwarzen Schlund. „Hej, du bist krank. Schwer sogar. Hast du das vergessen?“. „Ach ja, stimmt…“, dämmerte es mir und die Beklemmung packte mich wie ein um den Hals gelegter würgender Gürtel. Vergessen, verdrängt. Es ist wie das Aufwachen nach einem schönen Traum, in dem alles gut wurde und der zweite Gedanke nach dem Aufschlagen der Augen ist: „Mensch, scheiße! Ich hab doch Prüfung!“. Die Tür schloss sich wieder. Selbstschutz? Warum hatte sie sich geöffnet? Warum jetzt? Ich weiß immer noch nicht, ob ich einen Schub habe. Ich wage es immer noch nicht im Krankenhaus anzurufen. Das rechte Bein zeigt gegen Abend hin immer stärkere Symptome. Wäre es das Linke, wäre es egal. Verunsicherung, Angst, dennoch Zuwarten und vermutlich kostbare Zeit verplempern. „Solange es das Laufen nicht beeinträchtigt?“, ein Trostversuch um mich hinzuhalten. Mitte der Woche, bald wieder tatenloses Wochenende. Und tut es das denn noch nicht? Was war gestern beim Lauf nach der ersten Pause als ich aufstand? Ich wurde angesprochen, als ich auf der Bank saß. Ob es mir nicht gut ginge, ich hätte mich so auf diese fallen lassen. Die Schwäche im Bein war nicht zu bändigen. Ist es egal, bin ich egal? Ich hatte mir zwar Arbeit mit nach Hause gebracht, aber ich musste malen. Das Bild vom Bild eines Bildes ist unheimlich. Und ich frage mich immer noch was es sagen will. Die Musik ist teils traurig, teils voller Zorn. Es ist nicht das Wetter, nicht der Nebel. Es ist in mir und es muss raus. Funktioniere ich wirklich nur? Und nichts davon ist echt? Versuche nur mir mittlerweile einzureden, dass es schön sei? Die junge Frau erschlug mich förmlich mit intimsten Informationen, die mich aufgrund meiner Erfahrung aber nicht umwerfen konnten und es schien fast, als sei sie auf der Suche nach einer Freundin. Doch ich konnte nicht. Für gewöhnlich lud ich die Leute zu mir nach Hause ein auf ein weiteres Gespräch. Aber es ging nicht. Kann keine Verantwortung für jemand anders übernehmen. Und immer wieder drängt sich mir in scheinbar kostbaren Moment die Frage auf: „Wäre es fatal, jetzt zu sterben?“. Wo bleibt das Ja? Ich wünschte nur noch, etwas Gravierendes würde noch eintreten und mir die Entscheidung zum Telefon zu greifen zu erleichtern. Aber den Gefallen tut sie mir nicht. Sie spielt mit mir, mit meinen Ängsten und Sorgen und es bereitet ihr Spaß, mich leiden zu sehen…

Das Bein fühlt sich nicht gut an. Ich hab einfach angerufen, gesagt, dass ich es SCHON WIEDER bin und ich mich schon gar nicht mehr zu melden wage. „Ach Frau Samer, das ist doch nicht schlimm…“. Warten bis 9. Noch nicht wissend mit wem der beiden Damen vom Dienst ich dann das Vergnügen habe. Im Kalender gingen die Symptome schon am 26. Oktober los, weit vor dem Eintreffen des Bescheids von der BH. Totschlagargument? Bin nicht scharf auf Kortison noch auf die Aufmerksamkeit, die einem dann kurz zu Teil wird. Wie man mir aber durch die Blume gesagt vorzuwerfen scheint. Will nur, dass man mich berät. Wo soll ich denn sonst hin? Sollte heute doch ein schöner Tag sein… In exakt 8,6km habe ich meine 2000km erreicht.

Ärztin Nummer zwei. Zitat: „So wie ich sie seit Jahren kenne, jedes Mal wenn sie bei sich selbst etwas beobachtet hatten und wir ein MR gemacht hatten, WAR da eine Aktivität.“. Ich schon erleichtert: „Das freut mich zu hören. Bei mir kommt all zu schnell der Psychestempel…“. Sie entgegnete: „Nein, und wenn dann gesagt wird, die hat doch nichts, dann gehe ich vehement dagegen an. Es ist nun mal leider so, dass ihre MS sehr aktiv ist.“. Wie beruhigend. Morgen in die Neuro. Wie, weiß ich noch nicht.


13. November, Donnerstag 7:00
Warten, immer noch verunsichert. Hingegen die nächsten Tage sind, gemäß des Falles ich bekomme Kortison, geplant und abgesichert. Und plötzlich ist mein Kopf voll mit Bildern. Ich konnte nicht einschlafen, ich wollte einen Namen für eines der Bilder, das sich ganz in den Vordergrund drängte, finden. Doch mir fehlten die Worte. Führte mich immer wieder zurück in die Stille des Gesehenen, wenn ich mich in möglichen Titeln verlor. Meine Bilder sind voller Stille, wie in einem Museum. Und so schlief ich nicht, erneut nicht sicher ob es überhaupt gerechtfertigt ist ins Krankenhaus zu fahren. Doch vielleicht stellt sie noch was andres fest als ich spüre. Vielleicht ein erhöhter Tonus oder was auch immer. Meine Mutter fährt mich. Ich habe Angst, dass sie mich überfordert, ich um mich abzugrenzen sie verletzen könnte und ich immer und immer wieder ihren Tod sehen muss.
Abend
Bin zusammengekracht. War wohl wieder an der Zeit. Mir wurde erneut klar gemacht, wie aggressiv mein Verlauf tatsächlich ist. Verharmlosungen und sich darüber lächerlich machen deplaziert. Der Schmerz bricht aus mir raus, als hätte ich es nicht gewusst. Schweigend dagegen anmalen…


14. November, Freitag 6:15
Die lustigen Vier vom Wannenteich drängeln sich an die linke Ecke des Aquariums, obwohl das Licht noch nicht mal an ist und fordern still blubbernd und mich anglotzend Frühstück. Ich leiste keinen Widerstand und schlurfe Richtung Fischfutter. Verfressenes Pack! Als ich gestern das Haus verließ war der Strom weg und als ich wiederkehrte, war die Freude über dessen erneutem Vorhandensein nur von kurzer Dauer. Dann war er wieder weg und ich saß im dämmrigen Atelier nur mit einer Kerze bewaffnet und auf die Lebensdauer des Notebookakkus hoffend. So konnte ich nicht malen. Doch nach einer gefühlten Ewigkeit sprang die Beleuchtung des Aquariums an und ich konnte endlich anfangen. An diesem Punkt war ich wie gelähmt, ich konnte nicht über das Gesagte nachdenken. Es sollte erst abends mit seiner ganzen Gewalt über mich hereinbrechen und mich zusammenbrechen lassen.
Bereits nach kurzem Warten erschien meine Neurologin auf dem Flur und rief mich auf. Wir waren zuvor noch kurz einkaufen und das Gangbild war grottig. Mit den Worten: „Ich habe extra die Morgenration Lioresal weggelassen um die Störung in seiner vollen Pracht präsentieren zu können.“, humpelte ich auf sie zu. Tatsächlich hatte das Weglassen des Baclofens eine einschlagende Wirkung. Das Bein zitterte, knickte unter mir weg und der Fuß kippte beim Auftreten stark nach außen. Doch erneut zweifelte ich an mir selbst, ob ich mich denn nun nicht einfach nur „gehen lassen“ würde um etwas Zeigbares vorzuweisen. Ich bin so verwirrt, so irritiert und mich ständig am Kontrollieren, ob ich nicht in meinem Verhalten lüge. Wenn es doch immer die Psyche sein soll. Ich kenne mich nicht, ich durfte mich ja auch nie kennen lernen. Anstatt mich in meiner eigenen Wahrnehmung zu unterstützen wurde diese immer auch noch von der wichtigsten Person, das Thema betreffend, angezweifelt. Was ist denn echt? Oder war es so massiv, eben weil das Medikament fehlte und zu Hause hatte ich derartige Ausfälle nur um den Amtsarzttermin rum und wurden von den Tabletten im Zaum gehalten? War es die Aufregung? Verdammt! WAR ES ECHT? Ließ ich mich gehen? Ich WEISS ES NICHT!!! Im Moment hält es sich wieder in Grenzen, das irritiert noch mehr.
Sie machte die Anamnese, untersuchte mich kurz, bestätigte die Schubtheorie. Und immer noch rotierte es durch meinen Schädel: „Nur weil sie mich gehen gesehen hat? Hätte ich mich anstrengen sollen, dann hätte ich auch im langsamen Tempo wohl normal gehen können, oder zumindest so ähnlich?!!!“. Also Kortison und dann meinte sie noch: „Das Copaxone sollte nach einem halben Jahr Wirkung zeigen…“, und sie rechnete erneut, wie schon am Telefon, und sagte dann, ich sei bei der hochgradig akuten Schubrate ein Kandidat für Tysabri, einem neuen Wirkstoff. Ich verstand nur Bahnhof, sie begann zu erklären, dass es eine Infusion alle 4 Wochen wäre, man damit die Schubrate bis zu 90% senken könnte, was vielleicht einen Schub in 4 Jahren bedeuten würde, aber auch von der 1:35.000 Chance, dass eine bestimmte Hirnhautentzündung ausgelöst wird, die man dann nicht behalten kann. Etwas überfordert von der Information meinte ich nur, dass ich ganz genau wüsste, wo all die Schübe herkommen würden, dass es zum größten Teil wirklich die Arbeit sei, die mich, um das Laufen noch unterzubringen, in einen engen Zeitplan zwängen würde und dass dies permanenten Stress ausüben würde, genauso wie die Arbeit an sich oft stressig  ist. „Dann müssen sie diese wohl aufgeben.“. „Ja, und dann? Wieder gegen die Wand rennen und wahnsinnig werden?“, entgegnete ich verbittert. Wäre ich abergläubisch, würde ich sagen, dass ich sicherlich die 35.000ste bin, da ich immer alles abgreife, was eigentlich unmöglich, selten und unwahrscheinlich ist. Aber habe ich denn Angst vor dem Tod? Der Gedanke, dann wie ein sabbernder Lappen Leben im Bett mein Dasein zu fristen, schockiert mich mehr. Falls das dann überhaupt der Fall ist. Das, was mich am Ende zusammenbrechen ließ war der Gedanke, dass ich mein Leben, so wie ich es gestalte, komplett überdenken und ändern müsste. Aber was hat sie sich nicht schon alles geholt? Was ist unwiederbringlich verloren? Reichen die Einschränkungen denn nicht? Mich dann auch noch bewusst in allen andren Belangen beschneiden, nur um mich zu schonen und dann dabei noch mehr verkümmern? Und wieder das Thema Schwangerschaft, ich würde mich auch unterbinden lassen, das Thema endlich abschließen. Sebastian sagte, dass ihn das sehr traurig macht, dass er wahrscheinlich keine Kinder haben wird. Und ich, dass ich nur Unglück bringe und wir uns dann wohl trennen müssen. Er war gegen das Thema Unterbindung, zumal wir nicht mal wissen, ob es heute nicht schon einfacher wieder rückgängig gemacht werden kann. Und ich dachte nur: „Also willst du mit der Hoffnung, dass ich doch irgendwann ein Kind haben möchte, weiterleben bis zu grau bist…“. Immer dieses Thema und ich möchte es einfach ad Acta legen, abschließen, es gut sein lassen. Aber das darf ich nicht und ich verletze ihn nur damit. Zudem immer und immer wieder die Frage, was ich alles weglassen soll, in meinem Leben streichen muss. Also doch der neue Wirkstoff?
9:25


Ich hänge. Und erneut werden die Vorbehalte, die man mir gegenüber zu hegen scheint, deutlich. Ich wage es ein Späßchen darüber zu machen, dass ich nun endlich rezeptgebührenbefreit sei und so doch unbedingt noch eine Gratiskortisoneinheit machen wollte. „Wirklich nur deswegen?“, fragt Schwester Hedi skeptisch. Um Himmels Willen, was ist denn los? Was wurde über mich verbreitet, für was halten sie mich denn? Sollte man meinen Sarkasmus mittlerweile nicht durchschauen? „Ach Quatsch!“, gab ich zurück. Und was für einer. Halt einfach dein Maul! Benimm dich endlich deinen wahren Gefühlen entsprechend! Keine Späße mehr. Mich hinsetzen, schweigend in mich zusammensinken und blutige Zeichnungen aufs Papier bringen? So besser? Soll ich so verbittert sein wie ich mich immer häufiger fühle? Soll ich deprimiert auftreten, mein Umfeld mitleiden lassen, vielleicht in Selbstmitleid zerfließen? Und je mehr ich rede, desto weniger kann ich mich leiden. Bin ich so schlecht? Bin ich durchtrieben? Der Eindruck entsteht, wenn man den Umgang mancher Leute mit mir als aussagekräftig wertet. Hab ich irgendjemandem etwas zu Leide getan? Oder liest man Borderline auf dem Befund und geht bereits mit der Erwartungshaltung, dass ich manipulativ sein muss, auf mich zu? Bin ich so schlecht? Sei einfach still!! Besser wäre es. Wenn man auf meine Freundlichkeit, die ich mir wahrlich zum Teil unter großer Anstrengung abringen muss, keinen Wert legt…
Ich habe immer noch keinen Titel für mein Bild. Die Worte kommen und entfernen mich immer wieder von der eigentlichen Grundstimmung auf diesem. Suche nach einem schönen Wort, das alles in einem Wort beinhaltet. Sitze hier in meinem „Totenhemd“ und weiß nicht weiter, noch kann ich mich spüren. Die Augen schließen, mich der Musik ausliefern und mich nach einem massiven Gefühl sehnen.


15. November, Samstag 4:45
Ich starrte auf das Display des Radioweckers, als die Minutenanzeige weitersprang, legte ich meinen Kopf auf’s Kissen und zählte die Herzschläge, die an diesem Punkt der Therapie nicht mehr zu überhören sind. Eine Minute verstrich -47bpm. Kein Herzrasen, nur starkes Herzklopfen.. 3:33 Uhr –ich schlage die Augen auf und grabsche mit meiner tauben Hand aufs Nachtkästchen, auf der Suche nach meiner Magenschutztablette. Kein 3:33 Uhr Aufwachen mehr in nächster Zukunft, um mir die Eisentablette einzuwerfen und morgens einen widerwärtigen Geschmack im Mund zu haben, als hätte ich des Nachts ein Hühnchen gerissen. Die Eisenwerte wieder im oberen Normbereich. 60-200 der Rahmen, noch vor kurzem lag ich bei unter 11. Glanzleistung. Hatte ich doch erst vor wenigen Tagen wieder eine Packung Tardyferron besorgt, und nun brauch ich es nicht mehr. Versuchen, zurückzugeben oder auf erneute Abstürze die erneut zur Routine werden hoffen? Ich dachte, ich sei gut vorbereitet. Ich dachte, dieses Mal hätte ich alles bedacht und alles im Griff. Fehlanzeige. In der Apotheke machte ich noch einen albernen Scherz, als sie die gewünschte Bestellung zusammentrug und auf dem Pult vor mir förmlich auftürmte. „Das alles muss…“, und ich unterstrich meine Worte mit einer Handbewegung von Kopf bis Fuß: „…in DIESEN Body rein. Kein Wunder dass ich dann aussehe wie ein wandelnder Wassertank.“. Meine Lieblingsapothekerin (klar, sie hat doch auch am selben Tag Geburtstag und hat alles, was eine echte Waage ausmacht) lachte, was bleibt mir denn auch noch als Eigenironie. Heulen? Zusammenbrechen? „Dieses Mal hat das aber auch schon gut geklappt. Wir haben letztendlich auch geübt.“, sagte sie grinsend. Ich war dieses Jahr auch ungemein fleißig. Wie oft? 6 oder 7 Mal? Viele Möglichkeiten um die Abläufe zwischen Arzt, Krankenkasse und Apotheke zu optimieren. Und ich gab grinsend zurück: „Meine Ärztin war erstaunt dass ich im Vorfeld schon alles organisiert hatte und ich sagte ihr, dass ich mittlerweile über Vitamin B verfügen würde.“. Wieder zu Hause schrumpfte die Begeisterung, WIE reibungslos diesmal doch alles gelaufen sei. Der Hausarzt nächste Woche im Urlaub und das Osteoporosemittel leer. SEHR günstig, gerade während einer Kortisontherapie. Und auch Lebensretter Lioresal aus. Erst Diskussionen, verbittertes: „Ja, ich weiß! Ich bin eine Belastung!“ und noch verbitterter zitierte ich sogar meine Oma: „Sei froh, wenn es dir mal nicht so mies geht…“. Sebastian fuhr doch noch einmal zur Apotheke, für das Baclofen hatte ich sogar ein Rezept, nur nicht für das Calciumpräparat. „Du musst wohl Einsatz zahlen!“, und ich drückte ihm mein Portmonee in die Hand. Nein, der musste keinen Einsatz zahlen. „Sie kommt ohnehin wieder vorbei.“, hätte „meine“ Apothekerin gesagt. Ja und da ist es wieder, das Vitamin B. 4:25 Uhr, ich stehe auf, so wie bereits gestern. Die Schlafreserven ausgeschöpft, obwohl es ein so anstrengender Tag war. Als die Waage von einer Gewichtszunahme zu berichten wusste und hingegen das Körperfett stark gesunken war, wurde mir klar, dass nun die Wassereinlagerungen auf dem Programm stünden. Und ein Blick in meine Medikamentenkiste komplimentierte die Unvollkommenheit meiner Organisation. Furosemid, mein Wasserentferner, ebenfalls leer. Montags also wieder Apotheke und auf nochmals Vitamin B hoffen oder im schlimmsten Falle Einsatz blechen. Nun sind die Goldfische munter und beginnen die Steinchen am Boden abzunuckeln. Meine Ärztin fragte mich bei der Untersuchung, ob ich noch laufen könnte und als ich dies bejahte, lehnte sie sich zurück, grinste irgendwie verträumt und gab folgendes zu Protokoll: „Da fährt man EINMAL in 100 Jahren nach Jennersdorf und als wir da beim Kreisverkehr auf der Bundesstraße in die Ortschaft rein fahren, sag ich nur: „Ich glaube mich trifft der Schlag! Das läuft die Frau Samer!!!“. Ja kann denn so was sein?“. Schmunzeln und ERWISCHT! Ich hab vieles eingebüßt, auch wenn man es mir nicht ansehen mag oder ich es mir nicht anmerken lasse. Aber das Laufen, das kriegt sie nicht. NOCH nicht! Deshalb gefällt mir der Gedanke, was die neue Therapie bewirken könnte, doch ungemein. Vielleicht doch noch ein paar Jährchen laufend abstottern? Und nach dem Zusammenbruch donnerstags kommt nun wieder das erhobene Haupt, dieser Trotz in den Gesichtszügen. Die Kampfische ist zurück. Der Gedanke, dass ich mein Leben, so wie ich es im Moment für mich gestalte, mit der neuen Therapie wohl einfach weiterführen kann, gefällt ungemein. Ich habe endlich einen Zustand erreicht, von dem ich sagen kann: Der funktioniert! Ich brauche das gute Gefühl, etwas geleistet zu haben und wenn ich mittags nach Hause komme, gearbeitet habe und gelaufen bin, ist da sehr viel von diesem Gefühl. Die innere Anspannung abgebaut. Müsste ich etwas weglassen, würde das ganze Gefüge in sich zusammenbrechen wie ein Kartenhaus und ich wäre wieder dort, wo ich zuvor war oder noch tiefer in meinem eigenen Kerker gefangen. Ich glaube, ich möchte das nicht mehr. Obwohl ich mich immer wieder nach diesem toten Zustand sehne. Er ist ein Teil von mir…
Teetrinkend auf Stoffwechselaktivitäten warten und hoffen. Der Plan ist, meine neueste Kreation heute spazieren zu tragen. Ob das mal kein Fehler ist, immer das gute Gefühl im Gepäck, eine Naht könnte aufgehen oder ich einen Ärmel verlieren. Und ich fühle irgendwie auch Schwäche und Unlust, mich wieder bei Hin- und Rückfahrt mit dem Zivi zu unterhalten. Klar, ich müsste nicht. Aber dieses Schweigen ist so beklemmend und die scheiß „Waage“ hat doch unentwegt das Bedürfnis, dass sich alles um sie rum wohl fühlt. Obwohl man bei meiner Fragendurchlöcherung vermutlich nicht mehr von Wohlfühlen sprechen kann. Ich komme mir albern vor jedes Mal mit demselben Satz das Gespräch ins Rollen zu bringen. „Du bist Zivi?  Wie lange schon? Aus pazifistischen Gründen oder weil du hier was fürs Leben lernst?“, und so weiter und so fort. ARG! Mein Gesicht hat wieder diese gesunde Leichenblässe angenommen, mein Magen verträgt das Holpern im Rettungswagen nicht mehr und eigentlich interessiert es mich nicht wirklich, was ich frage. Ich funktioniere. Ich habe mich beobachtet. In jedem Gespräch funktioniere ich. Und das funktioniert im Moment wirklich fantastisch. Aber Interesse? Wirkliches Interesse? Habe ich nicht. Bin ich nun ein alter, schrulliger Egomane oder ist das die Portion Depression, die ich mir noch leiste? Desinteresse macht vieles einfacher, wenn man schon kaum noch Kraft für die eigenen Belange hat. Zuhören, höflich sein, dem andren ein gutes Gefühl schenken und dann DELETE. Ist es verwerflich? Oder spielen wir nicht alle? Ich bin nicht Mutter Theresa, dennoch habe ich Mitgefühl für alles und jeden, schon zu viel davon als dass ich es tragen könnte. Grenze ich mich auch deshalb ab? Noch zwei Stunden und ich müsste raus zum Auto, meinen MP3-Player holen um diesen neu mit Musik zu füttern, doch ich kann nicht.
Ich trete hinaus in die Dunkelheit und scheuche unsre Rehe direkt vorm Haus auf. Sonderlich erschrocken zeigten sie sich nicht, die Flucht ging nur einige Meter. Meine Beine fühlen sich grottig an als ich ein paar Schritte für den Weltfrieden und meinen Stoffwechsel tätige. Venflons beginnen am Ende des zweiten Tages immer fürchterlich zu jucken und ich musste mich bemühen, ihn nicht vom Arm zu kratzen. Aber das Thema funktionierender Zugang hat sich wohl bereits gegessen, denn als ich aufwachte war der zweite Stöpsel geöffnet. Der Schädel dröhnt, der Magen krümmt sich, doch ich ignoriere es und fahre fort wie gewohnt.


16. November, Sonntag 6:00
Endlich länger schlafen. Die Erschöpfung ist auch übermächtig. Die notgedrungenen Unterhaltungen gestern wurden schon zur Qual. Ich war zu schwach und mein Gegenüber ließ sich alles aus der Nase ziehen. Zudem entstand das Gefühl, dass er es schweigend aber vielleicht doch auch nicht so gut fand, oder täusche ich mich? Der Venflon funktionierte noch. „Dieses eine Mal sind sie mir noch ungeschoren davon gekommen!“, und ich sah den jungen Arzt warnend und durchbohrend an, er schmunzelte. Ich ließ mich nicht ins EX-Sterbezimmer mit Volksmusik in Raumklangsurroundqualität abschieben, verzog mich in die Besucherecke wo ich ein frierendes Dasein vorm geöffneten Fenster fristete. Ich hatte meinen Coup geplant, ich hatte ihn durchgezogen. Legte brav die gesamte Ladung Kortison für die 5 Tage inklusive Infusionsbesteck auf das Pult. Und das war es auch schon. Das Natriumchlorid hatte ich einfach zu Hause gelassen, niemand fragte danach und so werde ich es wieder zurückgeben und tatsächlich meine erste GRATIS-Stoßtherapie beenden können. Soll ich mich schlecht fühlen? In welche Hölle soll ich kommen, wenn ich doch an keine glaube und somit keine habe? Ist das hier in einem gewissen Maße nicht schon Hölle genug? Und ich hatte es den gesamten Vormittag geahnt dass meine Lieblinge, die Jägerärsche, zur Treibjagd eintrudeln würden. Und tatsächlich. Als sie noch unten im Graben sich gerade leider nicht selbst abballerten, fuhren wir nach Jennersdorf und verpassten wohl die Show samt Aufreger, wenn sie wieder erneut über unser Grundstück rennen und im besten Falle wieder direkt am Haus entlang. Ich versuchte ruhig zu bleiben und es gelang auch irgendwie. Zudem war der Spuck bei unsrer Rückkehr scheinbar schon vorbei. Martins Schafe standen unten zusammengedrängt am Zaun und guckten etwas betröbbelt, die Rehe hüpften durch unsren Wald und die Krähen versammelten sich zu einer imposanten schwarzen Schar. Der Capuccino knallt wie ein Betonklotz in meinen Magen, das Gewicht ist weiter gestiegen, der Körperfettgehalt sinngemäß gesunken, der Mond ist aufgegangen. Endlich darf ich es sagen, ist es doch bereits wieder uuuuunendlicheeee 2 Monate her. Aber ich bin ruhig. Verdammt ruhig. Beinahe schon unheimlich. Ich halte mich gut, beinahe zu gut. Und was, wenn ich in den nächsten Tagen 66kg erreicht habe. Dann immer noch ruhig? Ich musste daran denken, was Mieke gesagt hatte: „Eine Woche bist du dann noch weg? So lange?“. Ich musste an die mitgebrachte Arbeit denken. Noch mehr Erschöpfung. Man hat keine Ahnung. Und vermutlich ist es auch besser so, dass man diese nicht hat und nie machen muss. Der anschließende Tee schmeichelt dem Magen schon mehr und zeigt hoffentlich auch eine Wirkung. Und während ich die erste Tasse vernichte frage ich mich, ob ich den Rat, um mir selbst nicht weiter zu schaden, die Arbeit hinzuschmeißen erwähnen werde. Wahrscheinlich. Um anschließend erneut klarzustellen, wie wichtig mir diese ist. Warum bin ich so ruhig? Ist es die dritte Portion Kortison intus? Ist es die Tatsache, gleich zwei Bilder geschaffen zu haben, die ungemein puffern und mich in ein Gefühl von erbrachter Leistung wohlig warm einbetten? Weil ich mit jedem Bild immer besser werde und wenigstens da ein positiver Fortschritt zu verzeichnen ist? Und ich merke, dass meine Gedankengänge nicht mehr klar strukturiert sind, sie durcheinander jagen wie aufgescheuchtes Wild und ich beginne, Nonsens von mir zu geben. Wie immer.
10:00
Ich bin nass. Triefnass. Eine Stunde sinnloses Rumsitzen. „Fest pumpen!“.
„Ich kann nicht, ich hab eine Parese im Arm!“.
Entnervt: „Aber sie tun es doch schon!“.
Steht auf meiner Stirn „DOOF“? „Aber nicht lange, der Arm verkrampft.“.
Bis sie das erstmals kapiert hat. Zwei Stiche, zwei Spülungen, die wahrlich „unter die Haut gingen“. Dann gab sie auf und ich durfte endlich baden. Und nun eben triefnass.


17. November, Montag 3:40
Klarschiff machen für die  Abschlussfete! Mein wahrlich nicht mehr vorhandenes Nervenkostüm spricht für sich. So wie schon gestern: Wenn ich sage, es geht daneben, dann geht es auch daneben. Zumal eine Beule bereits direkt neben der Einstichstelle wächst und wächst. Und sie? Voll Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein drückt dennoch die halbe Spritze in den Arm. Auf der andren Seite dieselbe Prozedur ein zweites Mal, als hätten wir gerade eben nicht eine Lektion gelernt. Wieder: „Nein, das geht daneben!“, und um noch deutlicher zu werden: „Da staut es schon!“. Sie drückt auch diesmal die Spritze leer. Als dürfe sie nichts vergeuden, als dürfe nichts übrig bleiben. Es brennt höllisch denn ich habe keine Nerven mehr um es einfach hinzunehmen. Dabei springt sie im Verhalten mir gegenüber zwischen gereizt und unfreundlich und unerwartet mütterlich hin und her. Je nachdem, welcher Spruch ihr grad einfällt.
Was bist du? Krankenhausinventar, ein Gegenstand des Hauses den man einfach benutzt, über den einfach drüber gefahren wird? Als ich wie mir geheißen nach einer halben Stunde Infusion nach vorne zum Pult torkle damit schon mal die Rettung verständigt wird und ich in einem kurzen Statement klar stelle, dass der neue Venflon direkt auf dem Oberarm sitzend und ich KEINE Freunde mehr werden, reagiert sie wieder entnervt. Sie sollte mir dankbar sein. DANKBAR, dass ich so viel Erfahrung habe und mich selbst drum schere, dass die Infusion läuft. Denn das tat sie anfangs nicht. Ich brauchte eine viertel Stunde, ehe ich total verrenkt und verdreht auf dem beschissenen Stuhl hing und es endlich zu tropfen begann. Genauso gut hätte ich alle 2 Minuten nach vorne Watscheln können: „Es läuft nicht…“. Denn genau so stockend verlief die gesamte Prozedur. Aber nein, ich mach es selbst. Denn es kümmert sich ja niemand drum. Und dann? Wo bleibt die Rettung? Wahrlich, ich konnte nicht mehr… Weiter warten in den klatschnassen Klamotten. Das war MEIN Tag. Letzte Breitseite gab es dann abends als ich feststellen musste, dass die Aquariumspumpe ihren Dienst eingestellt hatte, ich diese entnahm, über dem Waschbecken zu öffnen versuchte, sie sträubte sich um dann mit schon fast einer Art Explosion in ihre Einzelteile zu zerspringen und mich samt allem um mich rum mit Fischkacke voll zu spritzen. Wahrscheinlich hatte ich es nicht anders verdient, vielleicht hätte da eine Art schadenfrohe Zufriedenheit sein müssen als ich keuchend auf dem Boden rumrutschte um den Mist aufzuwischen. Dann lief auch das Wasser nicht mehr ab und ich gab mir pumpend den Rest. Und ich HOFFE, dieser beschissene Venenzugang hat ALL dies NICHT überlebt! 3 Tage Kortison sind schon beanspruchend, aber 5 wahrlich die Hölle. Wieder dieselben Fehler machen wie immer, abgesehen vom Obstsalat, den ich diesmal wirklich weglasse. Es gab Griesbrei, so wie immer. Schmeckte beschissen, so wie immer. Aber was sollte ich noch essen? Hungern führte grundsätzlich anschließend immer zu einer für mich gefühlt massiven Gewichtszunahme und so zwinge ich mich zu essen, obwohl mir speiübel ist und sich mein Magen in alle erdenklichen Richtungen krümmt. Und dann die Schwester, die mir das Armbad einließ und von Fügung und Schicksal und „Das musste wohl so sein“ sprach… Da kam dann noch dieses beklemmende Gefühl dazu wieder von lauter fanatischen Katholiken umgeben zu sein und wenn ich nicht die Klappe halte ins nächste Bekehrungsgespräch verwickelt zu werden. Oder war all dies wirklich die Strafe irgendeines Gottes, weil ich das Krankenhaus um die 5 Flaschen NaCl beschissen habe? Ich war so kaputt und durfte doch nicht schlafen. Auch meine Blase schloss sich, inspiriert vom Magen, erneut der Turn-AG an und jagte mich mehrmals aus dem Bett. „Geht alles vorbei!“, und: „In ein oder zwei Wochen, wenn dann der massive Muskelschmerz und die Knieschmerzen beim Laufen zum krönenden Abschluss kommen, hast du all dies hier schon wieder vergessen!“, versuche ich mir selbst einzureden. Mein Schädel dröhnt und noch fast 4 Stunden bis zum Eintreffen der Rettung.

Beschissenes Mondgesicht! Wenn ich nicht in der nebligen Dämmerung wieder auf der Terrasse stehe und mir das Leben aus dem Leib kotze, fress’ ich nen Besen!
6:20
Bevor meine Augen wieder komplett versagen das Video zu Ende bringen. Den Rest des Tages wie gestern tot auf dem Sofa verbringen? Nichts sehen, nicht hören können weil ich nichts ertrage, die Glotze wird laufen und ich werde abkotzen. Mir wieder die Frage stellen, was ich in diesem Zustand überhaupt essen kann oder darf, meine Umwelt wird zum Feind, alles wird unerträglich unordentlich und schmutzig erscheinen, das Chaos scheint wieder ausgebrochen, obwohl dem NICHT so ist. Und wie lange wird es heute dauern? Noch mehr „freundliche“ Montagsmenschen, die auf mich losgelassen werden? Immer muss ich mir anhören: „Wir kennen sie ja mit ihren Ecken und Kanten…“. Nur je häufiger ich mit andren Menschen zu tun habe, drängt sich mir immer mehr die Frage auf, WER hier eigentlich einen Knall hat und sich unangepasst verhält. Bin ich unhöflich, unfreundlich, erwarte von irgendjemandem etwas, verurteile, vergleiche, drücke meinen Lebensstempel auf andre Charakteren und Lebensgeschichten? Nein. Ja, ich bin gereizt und das strahle ich im Moment auch aus. Doch ich erkläre mich, um mein Gegenüber aus der Schuld zu nehmen. Mache noch Späßchen, um die Stimmung zu erhellen. Aber nein… Ich mit meinen Ecken und Kanten. Die Kanten sind nach innen gerichtet und nicht nach außen. Schön abgeschleift, damit sich niemand verletzt und von vornherein alles klar ist. Was ist da dran so schwer zu verstehen?
Nachmittag
Geschafft! Wieder einmal geschafft! Auf dem Sofa zusammenbrechen, einschlafen und mit dem nächsten Flashback aufwachen. Die Beine kribbeln unangenehm und wieder ist da die Angst vor dem ersten Lauf, vor dem Neustart. Denn genauso und noch um einiges massiver wird sich dieser anfühlen. Berauschend sieht anders aus. Demotivierungsversuche des Dämons in meinem Kopf. Aber ich weiß, dass ich mir mein Laufen nicht wegnehmen lasse!


18. November, Dienstag 8:30

 

-2,6°C und mit Raureif überzogene weiß schimmernde Landschaften. Endlich ist es soweit.
Der Quellevertreter steht vor der Tür, und mich lässt das Gefühl nicht los, dass er zuletzt auch nach einer Stoßtherapie hier war.


19. November, Mittwoch 7:45
Ich musste denken. Die ganze Nacht hindurch nachdenken. Kaltes Berechnen. Kein Gefühl, weder physisch noch psychisch. Und die Gedanken jagten von einem Punkt zum nächsten. Auf einem Trip. Oder knallharter Entzug. War ich gestern Morgen doch mit einem weiteren Flashback erwacht, und der Panik, ganz allein auf dieser Welt zu sein und irgendetwas in mir schrie vor Angst: „LASS MICH NICHT STERBEN!!!“. Dann saß ich nachmittags an die Hauswand gelehnt während die Pumpe das Wasser aus den Regentonnen beförderte und da war so viel Stille und Frieden und ich legte meine Existenz erneut auf die Waagschale: „Warum gehe ich nicht…?“. Ja, warum nicht? Der Gedanke, mich hier und jetzt auszuschalten war mit so viel Frieden behaftet und dem Gefühl, mir endlich gut zu tun. Stilles Verschwinden, Verblassen… Und ich dachte daran, dass ich gern einschlafen würde, genau so friedlich, um nie wieder aufwachen zu müssen. 

„Brauchst du mich denn überhaupt?“, ich war so überflüssig und belastend.
„Du bist doof!“.
“Weißt du was wirklich deprimierend ist? Die ganz kleinen, unwichtigen Dinge…“. Da war ein Eichelhäher am Waldrand und turnte durch die Zweige und ich wollte ihn betrachten, beobachten. Aber ich durfte nicht. Das Licht der Augen erloschen. Bin ich tot?
Es tut weh. Alles tut weh. Und ich habe Angst. Vor dem ersten Arbeitstag, vor dem ersten Lauf. Ich habe wieder Angst, dass es nicht besser wird. Die Routine gibt keine Sicherheit, denn es gibt keinen Garantieschein. Und so wie sich mein Körper im Moment anfühlt, ist man verleitet aufzugeben. Die ersten Schritte laufend werden schrecklich sein. Schmerzhaft. Die Stunden danach nicht anders. Habe keine Angst vor dem Schmerz, aber davor, mir irgendwann eingestehen zu müssen, dass ich wirklich nicht mehr kann. Nicht SCHON WIEDER. Immer wieder, aufs Neue… Es hört nicht auf. Kein Atemzug. Und mir wieder einreden: „Wenn der erste Sturm vorüber ist, dann kommt auch wieder die Sicherheit.“. So wie sie es immer tat? Und wenn sie mich vergisst? Paresen in beiden Beinen ist etwas anderes als nur in einem. Trotz massiver Knieschmerzen, trotz massiver Schwäche und Verkrampfung der Beine heute den ersten Versuch wagen? Kann und will ich denn überhaupt noch? Muss ich? Für wen? Um erneut irgendwelchen selbstgerechten Menschen zum Opfer zu fallen, die „froh wären wenn sie all das noch könnten“ und verurteilen. Sind es nicht jene, die sich auch fragen: „Warum ich?“. So wie der Bekannte, mit dem ich mich montags unterhielt und er fragte sich tatsächlich: „Warum ich und nicht der oder die?“. Anmaßend? Niemals hab ich mich das gefragt und werde dennoch verurteilt. Und nun? Mich der mitgebrachten Arbeit widmen, obwohl mir wahrlich nicht danach ist? Mich zwingen? Zu welchem Zwecke? Und ich wünschte mir, die innere Anspannung wäre immer noch mit wenigen Schnitten heilbar. Aber die Verletzung scheint ihre Wirkung verloren zu haben…
Abend
Da war Zorn und da war Angst. Ich torkelte stark humpelnd unsren Hohlweg runter. Da stand ich dann, mehr wackelig als gerade, doch ich stand. Das ist mein Krieg! Und ich tat die ersten Schritte. Meine Beine fühlten sich so unendlich schwach an, ganz so, als würden sie sich auflösen. Wäre ich hingefallen, wäre ich dennoch wieder aufgestanden und weiter gerannt. Die erste Unsicherheit überwunden konnte mich nichts mehr aufhalten. Als ich innehielt zitterte das rechte Bein massiv und gab nach. Egal. SCHEISS EGAL!!! Die Sonne blinzelte mir ins Gesicht und in meinen Augen war erneut die Kampfeslust entfacht. Mir wieder bewusst geworden, wie wenig es noch bedarf bis ich die Kontrolle komplett verloren habe. Noch kleine Zusammenbrüche und dann Rollstuhl...? Nein, DU bekommst mein Laufen nicht!!!! Schicksal hin oder her, diese Schlacht lasse ich nicht tatenlos unausgefochten! Wieder und wieder und wieder! Bis ich krepiere!


20. November, Donnerstag 8:15
Das Maß ist voll! Wie schon gestern Drehschwindel, Übelkeit, starke Magenschmerzen, Kopfschmerzen. Jede Stelle am Körper, die irgendwie lädiert ist, meldet sich eindrucksvoll mit Schmerzreizen. Der Nacken, der Rücken, die Knie, sogar die Zähne. Das Gewicht macht eine Talfahrt, die ich mir nicht mal mit den Entwässerungstabletten erklären kann, zudem ist mein Körper geschwängert mit Wassereinlagerungen. Und in all dem Übel erinnerte ich mich an früher, daran, dass Kakao morgens die Nervengegend da unten immer milde stimmte. Vor der offenen Terrassentür im eiskalten Luftzug des Morgens auf meinem Stuhl hocken mit einer Schale Kakao in den zittrigen Händen. Schweißausbrüche, die Haare schon wieder fettig. Ich fühle mich mit gutem Grund eklig. „Das schlimmste hast du nun geschafft.“. Hab ich das? Der Plan für heute lautet „Rückforderung aller Rechte!“. In die zweite Instanz gehen sozusagen. Die Sonne scheint, gutes Wetter um beim Laufen die Schmerzen und Missempfindungen zu vergessen und dann irgendwo auf der Strecke zu lassen.
Abend
Die Augen verloren in schwarzen Höhlen, das Herz raste und stach tief in der Brust. Ich renne niemals mit offenem Mund. Doch ich konnte nicht mehr atmen. Der Drehschwindel so massiv, dass er mich aus den Latschen hätte befördern können. Ich rannte weiter, starr mein Ziel vor Augen. Mit jedem Blick zur Seite drehte sich alles, ein Schlag nach dem andren in die Magengegend, eine Tortur. Ich hatte keine Kraft, ich bekam keine Luft, mein Puls gut und gerne bei 180bpm. Und wieder: Eigentlich geht nichts mehr und ich tue es dennoch. Jetzt ein Flashback und ich wäre zusammengebrochen. 4 poplige Kilometer und ich zu schwach. Mein Leben ist ein Puzzle. Stehe immer und immer wieder vor einem einzigen Trümmerhaufen, setze die rasierklingenscharfen Scherben jedes Mal aufs Neue zusammen, bis meine Hände bluten. Und dann? Wieder wird es zerschlagen… Sollte ich mich auch mal fragen was fair ist und was nicht? Aber nein, das tue ich nicht und werde dennoch kritisiert. „Andre wären froh wenn sie drei Kilometer laufen könnten…“. Wer sieht all die Schmerzen, all den Schweiß, den Kampf und die Opfer, die ich bringe? Wer sieht die Härte und auch Stärke, derer es bedarf um diesen Zustand irgendwie aufrecht zu erhalten? WER SIEHT DAS???? Bin ich am Ende? Darauf hoffen, dass sich wenigstens der Drehschwindel legt. Über den Tag verteilt in Eigenironie und Späßchen versinken. Mich selbst wieder verleugnen. Nein, es geht mir beschissen. Doch würde ich es wagen zu jammern? Nein!
Die Angst tief in mir feuert immer wieder unverhofft ihre giftigen Pfeile ab. Irgendwo in mir. Sie spricht nicht mit mir, macht nicht klar, was noch kommen wird und warum sie denn nun eine Daseinsberechtigung in mir hat. Ich weiß nur, dass sie diese hat. Würde der Verfall schneller voranschreiten –wäre es dann klar? Tut er dies nicht bereits?

Die Ausfälle nun nach der Therapie noch massiver und beeinträchtigender. Ich kann nicht mehr. Und dennoch…


21. November, Freitag 8:00
Sebastian sägte einen ganzen Buchenwald um und ich war damit beschäftigt ihn immer wieder anzurempeln. Parallel dazu musste ich meinen Kopf und den Rest von meinem kaputten Körper immer wieder umbetten. Egal wie, es tat weh. Besonders der Kopf ist äußerst druckempfindlich. Herzklopfen, Magenschmerzen, Übelkeit, Migräne. Durchgängiger Schlaf somit Luxus. Doch heute endlich Muskelschmerzen. Etwas, das von einer Veränderung zeugt. Der Himmel ist grau, doch der Plan steht. Wie ein langsam krepierender Soldat auf dem Schlachtfeld, der im Angesicht seines Todes immer noch nach dem Schwert greift, sitze ich bereits in meiner Laufmontur hier und warte noch auf den Stoffwechsel, um dann beim Lauf nicht erneut eine böse Überraschung erleben zu müssen. Diese hatte ich bereits gestern Nacht als ich feststellte, dass eine Brust erneut blutete. Und der erste Gedanke war: „Nein, nicht schon wieder… Nicht wieder Mammographie, Ärztemarathon, usw.. Keine weitere Runde lustige Brustkrebswochen!“. Was richtet das Kortison an? Geholfen hat es schon lange nicht mehr. Was macht es mit meinem Körper? Mein Skelett in das einer 80jährigen Frau verwandeln. Irgendwelche Stellen im Körper aktivieren, die eigentlich nicht arbeiten sollten. Das Sekret kann ich noch verstehen, aber warum blutet es? Warum kann und will mir das auch niemand erklären? Und warum hört es seit 2005 nicht mehr auf? Ist mein Hormonhaushalt so gestört? Genauso wie meine Gedächtnislücken und all die Anfälle, sei es nun ein Flashback oder was auch immer: Es interessiert niemanden. Keine Antworten. Grübelnd verdaut sich mein Magen wieder selbst. Genau so belastend ist das, was mir nun noch bevorsteht. Was mache ich mit der Arbeit? Zu sagen, sie tut gut und ich nehme in Kauf mehrmals Kortison bekommen zu müssen, wäre so einfach. Doch es geht nicht darum die Wichtigkeit der Arbeit mit dem Leidensdruck unter einer Therapie aufzuwiegen. Es geht um Behinderungen, die jeder Schub hinterlässt. Ich kann so wie es bis jetzt lief, nicht weiter machen. Selbst mit Tysabri nicht. Das wage ich nicht. Und nun, da beide Beine betroffen sind und der Ausgang noch ungewiss bis trüb erscheint, erst recht nicht. Vielleicht möchte ich doch ganz gerne noch ein oder zwei Jahre durch laufen. Und die Frage nach dem, was wichtiger sei, ist schnell beantwortet: Das Laufen geht über alles, steht weit über der Arbeit. Entweder lässt sich irgendeine adäquate und stressarme Lösung finden oder ich muss kapitulieren. Das Damoklesschwert über mir schwebend, sofort wieder in die Nutzlosigkeit abzudriften und mich selbst wieder am Nullpunkt einzufinden. Warum muss es so schwer sein? Dass mich die Krankheit immer mehr einengt ist nun mal Fakt. Was bleibt ist die spärlichen Lücken auszufüllen. Aber wie?
Vormittag

Es war eine Zitterpartie, der Kontrast zwischen Laufen und Gehen kann kaum noch größer sein. Und um meinem Trotz noch mehr Ausdruck zu verleihen bürdete ich mir selbst noch dazu eine sehr anspruchsvolle Strecke auf. Doch steile Anstiege kosten mich Absurderweise keine Kraft, sondern lösen diese aus. Wahrscheinlich eine normale Reaktion des Körpers und ich werde mit Endorphinen zugeschüttet. Der Lauf war besser, nach dem gestrigen war eine Abstufung ohnehin noch kaum möglich. Und als ich oben am Hügelkamm entlang lief und die Krähen über mich hinweg zogen, kamen die Tränen. Mit jedem Male anhalten zitterte mein rechtes Bein. Klonisch, wie meine Neurologin es bei der Untersuchung bezeichnete. Und der Rest von mir wankte und torkelte, verbissen gegen den leichten Drehschwindel ankämpfend. Aber dennoch hatte ich mehr Kraft, die mir spätestens am Schluss, als ich das zuvor erklommene Stück wieder bergab laufen sollte, nicht mehr viel brachte. Die Gefahr zu stürzen lag bei gut 80%. War ich zuvor schon im Bewegungsablauf einfach hängen geblieben. Manchmal hab ich auch mehr Glück als Verstand und absolvierte die 4km unversehrt. Und nun? Jeder Meter zu viel im Haus ist eine Qual. Ich kann kaum noch gehen. Aber da sind so viele unnötige Meter, die ich hinter mich bringen muss. Allein schon der Toilettengänge wegen.


23. November, Sonntagnachmittag
Die Stille kommt und mit ihr dumpfe Schwere. Abdriften in diese Leere, die alles betäubt. Wieder: „Brauchst du mich denn überhaupt?“. Mein Leben erscheint so sinnlos. Mich mit Menschen auseinandersetzen obwohl ich nicht will geschweige denn kann. Ist es egozentrisch? Will nichts und niemanden sehen noch hören. Mir den Schädel mit der Frage zermartern, wie es denn nun mit mir und der Arbeit weitergehen soll. Und heute zum ersten Mal wieder so weit gelaufen, dass die Parese im linken Bein in Erscheinung trat. Mein Körper fühlt sich nicht gut an. Banale Dinge wie mir die Haare zu machen kostet mich unglaublich viel Kraft. Und im Bett konnte ich nachts das linke Bein nicht mehr anziehen. Und jeder Handgriff besteht eigentlich aus zwei Handgriffen und endet damit, dass ich etwas aufheben muss. Siegt der Ärger über den Frust? Bin beim wiederholten Male mich Bücken kurz vorm Explodieren, kaschiere mit Wut dass ich in mich zusammensinken und weinen möchte. Die große Jahresabrechnung –was ist alles verloren? Was noch geblieben? Wieder die Tore schließen und still schweigend dem Verfall beiwohnen, ohne einen Laut, ohne ein Wehklagen von mir zu geben. Der Gedanke daran, was mir nun noch blüht, ist von solcher Größenordnung dass dieser meinen Horizont übersteigt. Stilles Warten und mich mit immer mehr Löchern arrangieren lernen. Beiläufig, ohne groß nachzudenken. Und kopfschüttelnd hinnehmen, dass andre aufgrund meines Schweigens meine Situation als viel harmloser einstufen, als sie es tatsächlich ist. „Aber man sieht dich doch immer dabei…“, und: „Aber du machst doch immer…“. Hinnehmen; Preisgeben macht keinen Sinn. Denn selbst dann ist noch Raum für Bagatellisierungen. Gute Ratschläge die wertlos sind, denn es geht nicht darum an einer ohnehin starren Situation den sinnlosen Versuch zu unternehmen etwas daran ändern zu wollen, sondern diese erstmal als Ganzes zu begreifen und zu fühlen. Mit all dem Schmerz und der Angst, die ihr innewohnen. Und dann? Wenn ich sie zu leben gelernt habe, bereits die nächste Änderung hinnehmen? Bin ich in der Position zu sagen, dass ich einfach nicht mehr kann? Und wie immer scheinen auch nun die Höllentage vergessen und ich kämpfe aufs Neue.

Immer wieder kommt die Stille und bettet mich in Schweigen. Und ich kann dann auch nicht mehr agieren noch zuhören. Bin wo anders. Sehe meine vernarbten Arme und sehne mich nach mehr. Die Stille schreit nach einer Handlung. Mich zurückwünschen an den toten Punkt. Was tu, was lasse ich?


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