VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2008

8. Januar 2008, Freitagvormittag
Wieder eine Erkältung eingefangen. Zum Kotzen. Und wieder rotiert es in meinem Kopf und die Angst, damit den nächsten Schub loszutreten, ist nach all den Erfahrungen die ich machen „durfte“, mehr als berechtigt. Sebastian kommt heute viel später nach Hause, da er direkt nach der Arbeit wieder nach Slowenien fährt. Viel Zeit für Unsinn. Eigentlich wollte ich dem vorbeugen. Eine der Schranktüren in der Küche müsste auseinander- und wieder zusammengebaut werden. Doch ich finde den Bohrer nicht und mit dem Schraubenzieher bekomme ich die Schrauben einfach nicht gelöst. Doppeltes Fiasko: Erstens der Frust, es nicht machen zu können und zweitens die Unordnung, die sich unter diesen Umständen nicht beseitigen lässt und die Unruhe in mir nur noch anpeitscht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich einen lauffreien Tag einfach nicht ertrage.
„Das Leben ist der kostbarste Schatz den wir besitzen!“. Ich beginne daran zu zweifeln. Was macht mein Leben aus? Erinnerungen, die wehtun. Erinnerungen, die verblasst sind, gelöscht wenn man so will, und mich mit dem Gefühl zurücklassen, keinen Hintergrund zu haben. Neuigkeiten, die wie Erinnerungen erscheinen und keinen Tag mehr spannend machen. Ich sehe nicht die Dinge, die ich noch machen will. Habe keine Ziele, noch Pläne. Bin einfach da, wie eine überflüssige Randerscheinung. Es gibt keine Annehmlichkeiten im Leben, zumindest scheint es so. Der Blick auf die schönen Dinge ist getrübt von all den Situationen, die ich bereits hinter mich gebracht habe. Und ich weiß zu gut, dass es genau so weiter gehen wird. Ich zähle nicht in angenehmen Dingen, ich sehe mein Leben als eine Summe aus Beerdigungen, Falten, Gebrechen, Kilos, Erkältungen, Krankenhausbesuchen, Krankenhausaufenthalten, Schüben, Kortisontherapien, Chemotherapien, Zahnarztbesuchen, Zusammenbrüchen und wieder Aufrappeln. Und ich sehe in der Zukunft nicht mehr als die Erhöhung der Summe und dann fragt man mich, warum ich keinen Sinn in meinem Leben sehe? Bin einfach da. Warum? Wir besprachen mein vorletztes Bild. „Der Vogel dahinter… das hat was von Auferstehung, auch wenn unten absolut der Tod ist.“, und sie lächelte mich hoffnungsvoll an. Was aber, wenn es nicht das Symbol für Auferstehung und einen Neubeginn ist sondern die endlich vom Leben befreite Seele?
Nachmittag
Nun ist wenigstens auf meinem Körper ein Gleichgewicht eingekehrt und beide Arme sozusagen symmetrisch. Meine Mutter rief an, hinterließ wieder einen dieser gepressten Sprüche auf dem AB. Ich rief zurück, sie wiederholte den Satz und ich machte ihr klar, dass sie das lassen soll und dass ich das einfach nicht ertrage. „Mir ist ohnehin nicht nach lachen…“. Ihre alte Nachbarin ist verstorben. Ich hatte es bereits vorausgeahnt, hatte sogar davon geträumt. Sie redete wieder wie ein alles überflutender Wassersturz über Dinge, die in so einer Situation überflüssig sind. Einfach nur, um ihr Weinen zu unterdrücken. Was sollte ich sagen? Ihr Tonfall beinahe vorwurfsvoll. „Ich weiß, dass das schlimm für dich ist, aber ich kann nichts dran ändern…“ und ein hilfloses  „Was soll ich machen?“. Sie begann zu weinen und legte auf. Nun hatte ich endlich meinen Grund. Mir kamen die Tränen, doch nicht weil die alte Frau tot ist, sondern weil meine Mutter weinte und auch weil sie mich mit einer gewissen Restschuld am andern Ende der Telefonleitung zurückließ. Um mir ein besseres Gefühl zu geben, werde ich heute Abend nochmals anrufen.
Über die frischen Schnitte kratzend hing ich über dem Blutbesudelten Waschbecken. An der Menge der Blessuren ist der seelische Druck wie an einer Messuhr ablesbar. Links mehr Wunden als rechts. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor, im Schlepptau strahlendes Blau. Raus gehen und vor mir selbst wegrennen?


19. Januar, Samstagabend
Ich habe mich geschnitten, immer und immer wieder. Beim vierten Mal langsam, um jeden Schmerzimpuls zu fühlen und um zu sehen, wie tief es geht. Doch die Wunden schlossen sich wieder, obwohl sie erst auseinanderklafften. Also 5 Mal insgesamt und dann noch zweimal gekotzt. Glanzleistung. Nachts war ich schon nicht mehr in der Lage vernünftig das Fernsehbild zu erkennen. Und dann heute Morgen? Als ich die Augen aufschlug baumelten zwei Lampen über mir an der Decke. Was für eine überdimensionale Kacke!! Denn eigentlich hängt dort nur eine. Und als ich aufstand war da eine Schwäche, diesmal in der rechten Körperhälfte. Von den Warnschüssen meiner Krankheit in Form von paroxysmalen Symptomen rein in ein waschechtes Schubsymtpom, wie? Ich HASSE ES!!! Und warum kommt so was eigentlich IMMER direkt vorm Wochenende? Und warum belächelt man mich, wenn ich sage, dass man mich bloß nicht anstecken soll? Meine Lebensanalyse bekommt noch mehr Schlagseiten und Gründe, mich gegen dieses zu entscheiden. Ich HASSE diesen Zustand, in dem nichts passiert und an dem ich nichts ändern kann. Ich hasse MICH und meinen beschissenen fetten, hässlichen Körper. Den gesamten Tag entweder auf den Boden starren oder verzweifelt ein Auge zukneifen. Zu schwach, irgendetwas in Angriff zu nehmen. Zu unruhig um einfach nur auszuharren der Dinge, die da kommen mögen. Beten, dass es aufhört. Zu was oder wem? Als ob die Wochenenden nicht so schon unerträglich und öde genug wären. Was tun? Meine Mutter rief an und fragte, ob ich meine Patennichte schminken würde für den Kinderfaschingsball. Auf meine Aussage, dass ich seit heute Morgen Doppelbilder hätte, riss sie einen dämlichen Witz: „Dann schminkst du mich eben auch gleich in einem Abwasch mit!“. Ist das witzig? Reicht es denn nicht schon dass ich mich ständig über mich selbst lustig mache, obwohl mir in all den Situationen GAR NICHT nach lachen ist? Wer gibt allen andern das Recht einfach mitzumachen? Mit NULL Ahnung im Gepäck? Diese sarkastischen Bemerkungen enden jetzt! SCHLUSS! Da gibt’s nichts zu lachen. Das ist zum HEULEN! Und da die Maske kaputt ist, habe ich auch nicht vor sie wieder zusammenleimen und mir behelfsmäßig aufs Gesicht zu tackern. Allmählich sollte auch in meinem näheren Umfeld angekommen sein, dass mir schon seit langem nicht mehr nach Spaßen zumute ist. Selbstmitleid oder nicht, letztendlich ist es genau das, was von mir immer und immer wieder in der Therapie gefordert wird: Mir selbst und meinen Problemen Respekt zollen.


20. Januar, Sonntagnachmittag
Die „Aussicht“ ist heute noch trüber als gestern. Wenn ich mal nicht ein Auge zukneife packt mich nun auch noch der Drehschwindel und mir wird schlecht. „Wenn du glaubst es geht nichts mehr, kommt von irgendwo NOCH eine Ohrfeige her!“. Ich hätte das Faschingsangebot gestern in den Läden nutzen und mir eine Augenklappe kaufen sollen. Nichtsdestotrotz, meine Nichte hab ich in ein Schneehäschen verwandelt, obwohl das mit „Doppelbildmodus“ gar nicht so einfach war. Vorm Frühstück versuchte ich einen kleinen, schonenden Lauf. Es wäre eine Schande gewesen, die Frühlingstemperaturen nicht zu nutzen. So trippelte ich vor mich hin, die Hose ständig am Hochziehen und abwechselnd das eine und dann das andere Auge zukneifend. Torkelnd, in Schlangenlinien, unsicher und doch erstaunlich kraftvoll. So fällt wenigstens die Angst vor der gestrigen Schwäche im rechten Bein weg. Sebastian hat es nun auch erwischt und während er drinnen auf dem Sofa kränklich vor sich hindöst, sitz ich vorm Haus auf der Terrassentreppe und halte meine bloßen Füße in die warme Sonne. Von drinnen schallt gedämpft der Wintersportkommentator durch die offene Tür und berichtet von diversen Wettbewerben im Schnee, dabei hat es hier im Schatten 16° C und direkt in der Sonne komme ich aus dem Schwitzen nicht mehr raus. Der Entnervungsgrad steigt explosionsartig als unten im Erlenwald ein Auto stehen bleibt, ein Mann aussteigt und die Wiese hinter unsrem Elektrozaun hochgeht. Nun rennt er schon seit einer Ewigkeit oben im Wald links über dem Haus rum und ich fühle mich in meiner Privatsphäre sehr beschnitten. Endlich, er verpisst sich und ich darf nur noch dem Klang von Meisen, Mäusebussard, tratschenden „Wochenendnordicwalkerinnen“ und zeternden Eichhörnchen lauschen.
Also, wie ist der Plan? Morgen in Oberwart anrufen? Irgendwie taucht in mir das Gefühl auf, ich würde mittlerweile nerven. Als ob ich sie ständig um unentgeltliche Gefallen bitten würde. Aber tue ich das denn nicht, wenn ich telefonisch um Rat bitte? Und was ist am wahrscheinlichsten? Neues MRT und dann weitersehen? Oder nur abwarten? Mit ein Grund Wochenenden zu hassen. Viel zu viel Zeit um nachzudenken, anstatt prompt zu handeln. Zu viel Zeit um mich zu verunsichern. Ich habe Angst davor, dass ich erneut den Stempel „Psychischer Auslöser“  und „ In diesem Fall unbehandelbar!“ aufgedrückt bekomme, wenn ich die Überdosis von vor einer Woche erwähne. Nichts aus der Luft Gegriffenes, alles schon da gewesen. Und ich habe Angst mit dem Scheiß im Stich gelassen zu werden.


21. Januar, Montagvormittag
Allein schon die Stimme meiner Neurologin zu hören, beruhigt und gibt das Gefühl, etwas kommt in die Gänge. Sie wusste sofort dass es meine dritte Überdosis war. Ob sie die Akte so rasch vorliegen hatte oder hat sie sich das tatsächlich gemerkt? Erkältung UND Überdosis; kein Wunder, dass mein Körper abdreht. Ich solle zuwarten und erst Mal die Erkältung auskurieren. „Und wie lange soll ich warten bis ich wieder anrufen darf um sie zu nerven?“. Sie musste lachen. „Bei einem Entzündungsprozess im Körper kann es vorkommen, dass alte Herde aufflammen und alte Beschwerden kurzfristig wieder auftreten. Das wissen sie ja schon.“. Klar, sonst würde ich nicht so einen Terz machen, wenn man es drauf anlegt mich anzustecken. „Legen sie sich hin, tun sie sich was Gutes, kurieren sie die Erkältung aus und lesen im Bett zum Beispiel ein Buch.“. Ich gab ein abschätziges „HA HA“ von mir woraufhin sie sich der Unsinnigkeit ihrer Worte bewusst wurde und lachen musste. Mir was Gutes tun; das bekomme ich jede Woche in der Therapie zu hören. Aber ich kann nicht. So schlüpfte ich in meine Laufsachen und ging vors Haus, um zu dehnen. Da stand das Auto und ich war etwas verwirrt. Nach über 2km beendete ich den Morgensport, um mich nicht wirklich zu überanstrengen. Zudem war es ohnehin nicht witzig, schon gar nicht als mir die Müllabfuhr auf der schmalen Straße entgegendonnerte und ich mehr taumelte als lief. Wieder zu Hause fühlte ich mich schlagartig wieder krank. Ich rief Sebastian an: „Sag mal, wie kommst du eigentlich nach Hause?“. „Kannst du nicht fahren?“. Schön, wie „mann“ mir zuhört bzw. wie „mann“ mich ernst nimmt. Es ist nicht die Angst um mich, sondern eher ums Auto oder dass ich einem andren schaden könnte. Die komplette Tagesordnung wird über den Haufen geworfen, Sebastian bleibt zu Mittag drin, der Tag allein wird noch länger. Viel Zeit um meinen eventuell eintretenden Selbsthass auszuleben. Sollte es doch ein Feiertag sein: Ich bekomme heute eine neue Nähmaschine. Obwohl, unter diesen Umständen, macht sie das Leben auch nicht bunter. Gestern fragte ich schon total frustriert und beinahe provozierend: „Warum ist es denn nicht gleich zappenduster geworden? NA???!!“. Was bleibt? Musik hören.
Nachmittag
Und was bleibt noch? Dem Telefon beim Klingeln zusehen und irgendwann den Zustand des auf dem Sofa Liegens nicht länger ertragen und nach draußen auf die Terrasse flüchten. Mit den letzten Kräften den kleinen Tisch und einen Stuhl aus der Autoscheune nach vorne schleppen. Mit Tee und Notebook erschöpft die Sitzgelegenheit nutzen und abkotzen, weil die Sonne so grell ist, dass am Bildschirm nichts zu erkennen ist. So viel ist zu tun, so viele Mails im Posteingang, so viele Wochen zwischen jetzt und dem letzten Besuch bei meiner Nachbarin. Gesellschaftliche Zwänge, mehr nicht. Ich kann einfach nicht, depressive Festgefressenheit. Es ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, warum ich mich komplett zurückziehe und warum ich nicht mehr ans Telefon gehen kann. Irgendwie ist mir alles egal und andrerseits fühle ich sehr viel Schuld. Lasst mich in Ruhe!!! Einerseits ist es schön hier in der Sonne zu sitzen, andrerseits will ich aber nicht, dass etwas schön oder angenehm für mich ist. Das Gefühl, es nicht verdient zu haben, steht im Vordergrund. Wo will ich hin bzw. will ich überhaupt etwas? Ein ignorierter Anruf und ich fühle mich scheiße. Einmal nicht ran gehen und die Ruhe und die mickrigen Happen Ausgeglichenheit sind Vergangenheit. Die Klinge und den Verband holen, wieder hier rumhocken und auf ein Wunder warten. Doch es gibt keine Wunder und das Warten beschränkt sich auf das Eintreten des Moments, wenn mich die Sehnsucht und auch die Gier nach Schmerz übermannen. Ein Eichelhäher schlägt Alarm denn der Mäusebussard dreht seine Runden über unsrem kahlen Wäldchen. „Und psychisch geht’s ihnen wahrscheinlich auch nicht gut, oder?“. Es kann mir nicht gut gehen denn ich will nicht dass es mir gut geht. Sei es die Angst nicht gewappnet zu sein, wenn etwas passiert oder die Befürchtung mich wieder zu verlieren in einem zerrissenen Zustand der mir den Blick auf mein wahres Ich unmöglich macht. Aber eigentlich habe ich dafür keine plausible Erklärung. „Indoktrinierte Mechanismen.“. Wer weiß. Bzw. wen interessiert es? Sonnenschein, Glockengeläut und ich allein mit noch einer scharfen Kante an meiner Klinge. Ich weiß nicht worauf ich warte. Hör auf zu warten! Mein Gesicht spiegelt sich in der Oberfläche des Bildschirms wieder. Du bist so unendlich hässlich! „Ei, was ist bloß mit unserem Tierchen los? Es hat doch alles: Einen goldenen Käfig, genug zu fressen und zu trinken, zwischen den Gitterstäben kann es nach draußen sehen. Fliegen? Für was? Es hat doch so eine nette Stange, da kann es bequem drauf sitzen. Es hat doch ALLES. Warum nur rupft es sich die Federn aus?“. Während die Frau gegenüber auf der andren Hügelkette mit einer albern klingenden hohen Stimme mit ihrem Kind spricht, gehe ich vom Schneiden zum Hacken über. Die Haut über den Pulsadern ist so dünn, doch ich schaffe es nicht. Und während sie sich laut quakend mit ihrem Vater zu unterhalten scheint, nehme ich es in Kauf beim dritten Mal ansetzen einem „Missgeschick“ zum Opfer zu fallen. Aber nichts! GARNICHTS! Und der Frust steigt während die fragilen und doch leicht auseinander klaffenden Schnitte sich erneut schließen und sich auch mit Gewalt nicht mehr auseinander reißen lassen. Gescheitert, wie immer. Für alles zu blöd, wie?!


22. Januar, Dienstagvormittag
Sebastian rutschte nachts im Bett zu nah an mich ran und im Endeffekt lag ich wieder mit aufgerissenen Augen und schweißgebadet auf der Kante meiner Bettseite. Als ich aufstand und ins Bad floh, schien nur noch aufschlitzen zu helfen. Ich ließ es sein, und dieser Kommandoabbruch  hängt mir nun noch nach. Die Aussicht ist immer noch nicht besser und ich werde gleich nach draußen gehen um nachzusehen, ob das Auto da ist oder nicht. Wenn ja, habe ich ja noch Zeit einen neuen Versuch zu starten. Ich sollte eigentlich für die Therapiestunde morgen eine Liste aufsetzen mit Dingen, die ich nicht mehr machen kann. Vielleicht sollte ganz oben als erster und zugleich letzter Eintrag stehen: Ich kann die Liste nicht schreiben. Auch dieser Tag beginnt wie jeder andere unter der Woche: Zähneputzen, Eiweißshake, Medikamente, Injektion und dann Tee. Dazwischen das Wohnzimmer auf Vordermann bringen, das Bett machen und andre Kleinigkeiten, über die ich stolpere. Man könnte eigentlich die Uhr nach mir stellen, so sicher ist es dass ich das tue, was ich immer tue. Langweilig.
Das Auto ist da, der Himmel grau und ich allein mit mir selbst. Die Wunden sahen gestern noch so schön aus, waren dunkelviolett unterlaufen, der ganze Arm war angeschwollen. Man beginnt das eigentlich essentiellste zu hassen: Die Selbstheilung. In meinem kranken Hirn kommt es als fieser Schachzug meines Körpers an. Wer weiß, wie lange das Spiel noch dauert, ich weiß nur, der erste Zug ist Ewigkeiten her. Kampf oder Spiel mit blutigem Ernst, egal. Die Bluttropfen auf den Steinen unter meiner Hand glänzten im Sonnenuntergang. Ich wusste wieder, dass es richtig war und all die Zweifel und das Zögern tropften aus den ersten 10 Schnitten. Danach gab es nur noch ein Ziel: Tiefer, viel tiefer! Bin ich besessen? Eines steht zumindest fest: Ich sehe keinen Sinn, denn ich habe keinen Sinn. Und es macht mir Spaß mich schon morgens nach dem Aufstehen runter zu ziehen, denn dort unten ist nur das blanke Überleben Lebensaufgabe genug.
Wieder eine unvorhersehbare Zuckung und der Tee landet auf Tisch und Hose. Und plötzlich wird mir klar, was Sebastian alles erdulden und tolerieren muss. Wäre es andersrum, würde ich es können? Nein. Ich bin eine Zumutung!!!!
Nachmittag
Die Sonne kam raus und ich saß kurz neben dem Haus, zu meinen Füßen die Blutspritzer von gestern auf dem Boden. Der Lichteinfall, die Geräusche und Gerüche… Alles wie eine Erinnerung, als sei ich schon da gewesen. Erinnern an den Tag, an dem ich mich umgebracht habe. Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen, doch bin wie blockiert, meine Ratio macht die Schotten dicht und lässt mich allein mit dem Gefühlschaos. Die Klinge zu meiner Rechten, doch ich kann nur spüren dass es sinnlos ist. Ich kann nicht sehen, was mich noch weiter in das Dunkel meines Käfigs zurückdrängt. Was soll ich tun? Bin noch mehr beschnitten in meinem Alltag, noch gelähmter als zuvor. Ist es ein guter Tag zu sterben? Andre können es auch, warum ich nicht? Mich lediglich zu verletzen macht den Braten nicht fett. Es scheint sinnlos und doch werde ich es tun. Was bleibt mir sonst?

Drücke die Klinge tief ins Fleisch, doch es bleibt ohne Effekt. Die Zeit bleibt stehen und zerbricht in Milliarden Scherben mit jedem Tropfen Blut, der auf dem Boden aufschlägt, wird zu Staub und somit wertlos. Bleibe im Nichts hängen und kann nicht mehr atmen.
Abend
Spätestens nach dem 3 Mal aufschlitzen driftete die ganze Angelegenheit ins Absurde ab. Zudem war die Klinge mittlerweile stumpf und nicht mehr zu gebrauchen. Ich weiß nicht, was ich nun fühle. Immer noch den Tod und das Bedürfnis endlich aufzugeben? Nein, eher so, als sei ich bereits gestorben. Tot, gefühlsarm und leer.


23. Januar, Mittwochvormittag
Nochmals im Krankenhaus anrufen, auf Drängen meiner Therapeutin und nun auf den Rückruf warten. Ich hadere mit mir, ob ich jetzt vorm Mittagessen noch laufen gehe oder es mir für den Nachmittag aufhebe, für den Fall, dass ich wieder in ein Loch falle. Warten, warten, warten. Ist dies mein einziger Lebenssinn? Und komme mir wieder unwahrscheinlich nervig vor.

Morgen wieder ins Krankenhaus.
Nachmittag
Laufen, laufen, laufen. Laufen, als sei es meine letzte Chance. Doch um die Erkältung nicht erneut herauszufordern, nur 3 Kilometer. Morgen erst ein Gespräch samt Untersuchung und Blutbildkontrolle und dann wahrscheinlich Kortison. Noch mehr Tage ohne Laufen. Das halte ich nicht aus. „Bei ihrem mittlerweile hochgradig schlechten Zustand…“. Ich musste schlucken, so habe ich es noch nie betrachtet. Ist mein Verlauf im Vergleich zu andren Kranken so drastisch?
Der Lauf war wunderschön, trotz diverser Steinsichtungsproblemen, doch dann erspähte ich den Wagen der Amtsärztin (zumindest glaube ich es) und sah zu, dass ich mich aus dem Staub mache. Wollte ich doch noch an der Straßengabelung in die andre Richtung und noch einen Kilometer dran hängen. Irgendwie bereue ich es, es nicht getan zu haben und ich spiele mit dem Gedanken, während der eventuellen Thera vorsichtig weiterzulaufen. Gemacht hab ich es ja schon mal, wäre also keine Premiere und so große Überraschungen wird es wohl nicht zu erwarten geben, oder? Und dann noch die Bedenken, WIEDER mit einer Kortisonstoßtherapie klar kommen zu müssen. Hat mich die letzte doch ziemlich mitgenommen. Und in meiner derzeitigen Grundverfassung? Es ist mir jetzt schon peinlich, dass wieder irgendein armer Turnusarzt morgen Blut abnehmen „darf“ und zwangsläufig an meinen Schnittverletzungen nicht vorbeikommen wird.

Abend
Wieder ein Selbstmord in den Medien. Wieder im selben Alter wie wir. Der erste Gedanke ist: „Der Glückliche hat’s hinter sich.“, und der zweite nur, wie traurig es eigentlich ist, dass er alleine gestorben ist. Sollte es nicht so was wie eine Suizidbegleitung geben? In der Wanne musste ich beinahe zwanghaft den rechten Arm über Wasser halten, zu groß die Angst, die Wunden könnten verblassen. Will oder muss ich etwas darstellen? Oder tu ich es nur für mich um fürs Erste weitere Schnitte zu verhindern? Nichtsdestotrotz habe ich mir nach dem Baden die Packung mit der letzten Klinge bereitgelegt und den Verband daneben gepackt. Wer weiß, was kommt. Um dann noch wie besessen an den Blessuren mehr als brachial gekratzt, schon eher auf diese eingeprügelt. Ich bekomme massiv zu spüren, was für eine Kluft sich erneut zwischen meinem Lachen und der tatsächlichen Gemütslage auftut.
Vor meinem Werkzeug stehen, doch vorerst einen Rückzieher machen. Die Musik so laut aufdrehen, dass sie durch meinen Schädel hindurch donnert. Die Augen schließen und mich auf das besinnen, was ich eigentlich will. Ohne ständig darüber nachzudenken, was andre denken könnten oder ob ich es wert bin oder nicht. Einfach nur für mich. Was willst du?


24. Januar, Donnerstag 4:45
Was wollte ich? Einen Grund? Missbrauche ich mittlerweile Situationen für meine Zwecke? Zweckentfremdung von irrelevanten Spannungen? Sebastian reagierte entnervt, als ich ihn etwas fragte. Wie auf einem goldenen Tablett wurde mir ein Trigger serviert und die Klinge war scharf, unendlich scharf. Ich konnte die Spannung förmlich knistern hören, als ich sie aus ihrem weißen Schutzpanzer zog. Und auch ohne über die Wunden zu kratzen war innerhalb von wenigen Minuten das weiße Waschbecken zur Hälfte mit Blut besudelt. Wunderschön. Vor allem die Schnitte direkt in der Handbeuge bluteten stark. Klein und doch klaffend. „Liebeserklärung an eine Sucht“. Schweigend kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Sebastian muss den Braten gerochen haben, denn er entschuldigte sich gleich zweimal hintereinander dafür, dass er mich so angepflaumt hatte. Nach 10 war ich wieder die Erste im Bett. Ich riss den Verband vom Arm um so letztendlich auch die Wunden wieder aufzureißen. Als auch Sebastian kam und dann irgendwann das Licht ausmachte, verdrehte ich meinen Arm derart, dass ich die Spannung in den Schnitten brennend zu spüren bekam und das bisschen, welches Sebastians Rücken berührte, pulsierte massiv und ich fragte mich, ob er es auch fühlen kann. Und heute? Zum 4. Mal hintereinander konnte ich nicht schlafen, und als ich es tat, träumte ich, dass Fine elendig in meinen Armen starb. Heulend wachte ich auf, um in der Verwirrung eines Halbschlafs Sebastian neben mir im Bett sterben zu sehen. Der Mond erleuchtete das Schlafzimmer trotz halbgeschlossener Balken und ich sah die Umrisse seines Kopfes und war davon überzeugt, dass er sich krampfhaft krümmen würde.
Nun gut, schöne Grundvoraussetzung für den heutigen Tag. Allein schon die Tatsache, dass ich seit 3 wach bin und seit 4 auf den Beinen. Die Doppelbilder schienen sich bereits gestern Abend wieder leicht gebessert zu haben. Klassiker. Und mir bleibt noch so viel Zeit und ich denke, dass es nun auch keinen Unterschied mehr macht, ob noch mehr Schnitte die Arme zieren oder nicht. Entschuldigen werde ich mich ohnehin, dass ich es dem jeweiligen Arzt zumute, die zerschnittene Haut anfassen zu müssen. Da ist es wieder, dieses Gefühl eine Last und eine Zumutung für andere zu bedeuten. Nicht mehr und erst recht nicht weniger. Passiver Selbsthass, wie? Je länger ich meine Unterarme betrachte, desto klarer artikuliert die Seele ihren Wunsch nach mehr. Und wieder ist der Tod da und fragt mich, ob ich mit ihm gehen will. Die letzten Zusammenbrüche distanzierten mich von all jenen, die so gesehen nur im Weg stehen, weil ich es ihnen nicht antun kann. Da war nichts mehr, weder letzte Woche noch vorgestern. Bin ich suizidgefährdet? Und die beschwichtigenden Worte meiner Therapeutin, dass der letzte Schritt nicht von Stärke sondern von Schwäche zeugt, sind auch nur Schall und Rauch. Reden gegen eine Wand. Ich sollte doch noch schlafen, aber ich bin wach und ich glaube, ich mag mich nicht. Und während ich diesen Satz zu Ende denke, bekommt mein Gesicht wieder diesen todernsten und auch leicht verbiesterten Ausdruck auf die Züge gezeichnet.
Schmierölgeruch an den Fingern und das wehmütige Gefühl, dass es nicht reicht. Beginne zu zittern und versuche einen klaren Gedanken zu fassen.
8:00 Uhr
Das elendige Warten nimmt seinen Lauf. Schlagartig reges Treiben und die Unruhe lässt mich zittern. Die Verletzungen hallen immer noch nach. Wieder Schweigen.

9:00 Uhr
Vorerst ist alles klar. Blutabnahme, an den Kortisontropf, MRTs durchforsten wegen einem erneuten Langzeittherapiebeginn, die dazugehörige Besprechung. Wieder Warten.

Beinahe eine Stunde das alte Venendrama. Nach 4 Stichen kapitulierte die erste Ärztin, verschwand und kam mit einer Nachfolgerin wieder. Als diese direkt in Pulsadern stach und versuchte tröpfchenweise Blut in eins der unzähligen Röhrchen kriechen ließ, zwang sich mir eine Bemerkung auf: „ Darf ich einen makaberen Witz machen?“. Zweistimmiges „Nein!“, doch ich konnte es mir nicht verkneifen, jetzt, da meine Seelenventile ohnehin öffentlich gemacht wurden: „Also wird das nix mit dem Selbstmord, wie“. Betretenes Lachen, aber auch Bestätigung meiner Theorie. Beim dritten Stich wurden die Röhrchen mehr oder minder „voll“ und der 4. verschaffte mir endlich den sehnlichst herbei gehofften Zugang. Mit viel Improvisieren und noch mehr Festkleben.
Und nun läuft das Solumedrol, ich habe mich samt Walter in die Kinderecke zurückgezogen und verkrieche mich unter den Kopfhörern. Nach diversen Aussetzern sehe ich Schwarz für die Beziehung zwischen Venflon und meiner Wenigkeit.

15 Minuten später war Schluss. Ich bot der Ärztin ein Reset der Stichzählung an, was sie für mehr als angebracht hielt. Und nach einem Komplettbad war auch bereits Stich Zwei von Erfolg gekrönt. Sie strahlte und ich gab ein erbauendes „ Mensch, gleich beim zweiten Mal getroffen!“ von mir. Nun läuft es. Und ich hadere immer noch mit mir, ob ich laufen gehe oder nicht und ob ich den hart erkämpften Venflon riskiere. Bin nur noch müde, will nicht mehr denken noch handeln.
Abend
Meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, mich anzurufen. Obwohl ich im Voraus klargestellt hatte, dass ich das nicht möchte. Ich ging ran und erstaunlicherweise entschuldigte und bedankte sie sich mehrfach, dass ich ihr zuhöre. War sie doch heute bei der Beerdigung ihrer Nachbarin, die ihr doch so viel bedeutet hat. Ich hörte zu, obwohl mir eigentlich nach nichts ist. Die Festgefressenheit wird von der übermäßigen Müdigkeit nur noch gefüttert. Und das Kortison ist letztendlich depressionstechnisch auch nur zusätzlicher Puderzucker auf einer ohnehin schon klebenden Süßspeise. Zudem habe ich wohl noch nicht erwähnt wie sehr mich all die „wieder“ und „erneut“ in meinen Einträgen ankotzen. Vorm 10. Stich, als ich seufzend im Waschbecken versank, fragte mich die Ärztin, ob das nicht langsam frustrierend sei. Hätte ich ihr von meiner Lebensanalyse in eiskalten, leblosen Zahlen erzählen sollen? Und dass in der Zukunft nicht mehr als eine Summierung möglich ist und somit für mich Grund genug ist, auszuticken und nicht mehr leben zu wollen? Pff…  Ich weiß noch nicht, wie der Abend verlaufen wird. Und nebenbei erwähnt: Gratulation zum 25. Schub und zur 19 Kortisonstoßtherapie in 9 ½ Jahren! Sebastian meinte zu meiner Zeichnung, dass sie vielleicht für all jene lustig sein mag, die den bitteren Ernst dahinter nicht kennen. Wie wahr. Der Venflon war mir dann auch egal, ich viel zu getrieben und von Unruhe aufgefressen, ich musste laufen gehen. Ein Auge zusammengekniffen ging es den Hügel hoch bis zur Kreuzung und dann wieder zurück. Mit lächerlichen 3 Kilometern im Gepäck kam ich wieder zu Hause an. Der Plan, die Therapie durchzutrainieren, steht nun fest. Selbst wenn ich dafür in Kauf nehmen muss, nun wieder grottenschlecht zu sehen. Doch letztendlich war auch die Infusion und der lange und anstrengende Vormittag mit Schuld dran. 5 Tage soll ich durchziehen, das volle Programm also und ich weiß im Moment nicht, ob ich es kann. Klar, ich werde es tun, beinahe „über mich ergehen lassen“, doch von wollen und von Kraft für einen Kampf, kann wahrlich nicht die Rede sein.

„…Bis ich mich erneut nach deiner Berührung verzehre
Mit pochendem Herzen zu dir zurückkehre
Dann werden wir Eins sein, du und ich
Nimm Alles! Meine Liebe, mein Leben, nimm mich!
Und hebe mir auf den innigsten Kuss
Für den Tag an dem ich endgültig gehen muss…“

Die Gefühle in mir sind verwirrend. Ist er etwa gekommen?


25. Jänner, Freitag 6:45 Uhr
Dunkle Graupelwolken ziehen donnergrollend durch meinen Schädel. Seit 4 wach, seit 6 auf den Beinen. Die Kleine mit dem treudoofen Dackelblick ist wieder da. Obwohl ich im Laufe des gestrigen Tages eher zum kleinen, hässlichen Pekinesen übergegangen war. Sobald mein Hirn im Bett beim Nachdenken in ausgetüftelten und niederschreibbaren Sätzen formuliert, ist es Zeit aufzustehen. Auf Magenschutz verzichte ich diesmal genauso wie auf eine Laufpause, was ich im Moment mit einem flauen Gefühl im Bauch zu spüren bekomme. Doch mein Gewicht ist wieder runter auf unter 65 und hat den Körperfettgehalt gleich mit auf seine Reise in den Keller genommen. Das gibt mir ein gutes und sicheres Gefühl, zudem ist mein Geschmacksinn nicht so sehr beeinträchtigt, womit sich meine Theorie bestätigt, dass die Tabletten für gewöhnlich die.Hauptschuld an der Veränderung tragen. Noch sitzt der Venflon, tut nicht weh, noch juckt es. Grund zu hoffen? Der Tag heute verspricht noch hektischer zu werden als der gestrige. Zuerst zum Bäcker um mich mit Fressalien einzudecken, dann zum Hausarzt Rezepte und 3 Transportscheine für heute und zwei weitere Tage besorgen um mich dann hochoffiziell von der Rettung abholen zu lassen. Den Selbstkostenbeitrag von 10 € pro Fahrt trage ich gern, das Benzin fürs Auto hätte pro Fahrt auch so viel gekostet. Und wenn meine Mutter heute Abend den Anruf getätigt hat um Sebastian abzukommandieren, mache ich Telefon und auch AB aus. Irgend ein „Unbekannt“ ruft täglich an und ich geh nicht ran, zudem hinterlässt die Pappnase keine Nachricht. Und ich will und brauche meine Ruhe um mich auf mich besinnen zu können. Es dämmert und wird Zeit, mich allmählich ins Chaos zu stürzen. Hoffentlich geht alles gut mit dem Transportschein sonst kann ich die 40km nach Oberwart laufen. Haha! Und unterwegs den „Laufclub der Versehrten“ gründen.
10:00
Eine schweigsame Fahrt mit dem Krankenwagen. Ich dachte so sehr darüber nach, ob ich versuchen sollte ein Gespräch zu beginnen, dass ich das Gespräch wenn man so will eigentlich bereits im Kopf führte. Ich merkte zusehends dass ich darauf keine Lust habe, mir die Kraft fehlt, so verkroch ich mich wieder schweigend unter meinen Kopfhörern. Diese Dinger können zu Lebensrettern werden. Allein als ich im 12m² Warteraum meines Hausarztes irgendwo meinen Platz im Menschenpulk gefunden hatte, und alles hustete und rotzte, ließ mich meine Musik die Zeit und die beengende Umgebung vergessen und auch dass der Mann vor mir sich zum Husten extra umdrehte. So verschonte er seinen Vormann, aber schleuderte mir alles direkt entgegen. Lecker. Schwester Elisabeth sagt zum Rettungsmann: „Bei ihr weiß man nie wie lange das dauern kann…“, und: „Gestern erst, pfoah!“. Ich sank auf meinen Stuhl, warf den MP3-Player wieder an und versank in mich selbst bis ich mit dem Oberkörper schon fast auf meinem eigenen Schoß lag. Als die Musik von Korn zu einem lauffreundlichen Technostück wechselte, begann die Frau neben mir auf dem nächsten Stuhl im Takt des Basses mit dem Fuß zu wippen. Ich musste schmunzeln, obwohl mir gar nicht danach war, wie man auch als Nichteingeweihte an meiner zitternden Hand erkennen konnte. Dann wurde die Flasche endlich nach gut 25 Minuten angeschlossen von einem jungen Arzt, der mich mit den Worten: „16 Stiche ist der Rekord?“, begrüßte. „Hat sich das schon herumgesprochen?“; ich fühlte mich sogleich zu Hause. „Es ist für uns Ärzte auch sehr, sehr frustrierend..“.  Worauf ich mit meinen „Es tut mir wirklich ehrlich leid“ und „Ich bin eine Zumutung!“ konterte. Nach einer Spülung hing das gute Stück und ich verabschiedete mich in weiser Voraussicht erstmal nur vorläufig. Dann fiel mir noch die Tasche beim Einparken in die Kinderecke runter und ich konnte es mir nicht verkneifen ein paar ausgelesen Flüche durch den Flur zu zischen. Doch wie man sieht, HansPeter läuft noch. Tropfen lassen und weiterwarten.

Der Flur leert sich, um sich sogleich wieder mit Patienten zu füllen. Momentaufnahme mit Bleistift zu Papier bringen. Kritzeln ums Überleben. Gelungen und deswegen deprimierend. Die Musik füllt mich aus, kein Platz mehr für Worte. Gelebtes und verinnerlichtes Schweigen.

 

11:45
Über 1 ½ Stunden für die Infusion und nun noch etwa eine halbe Stunde auf die Rettung warten. Solange der Akku das noch packt, ist es ja in Ordnung. Ich fühle tiefe Stille in mir, meine Wangen sind errötet und eigentlich ist mir nicht nach Denken. Dem Venflon wurde noch eine dritte Chance gewährt, dieser wurde ordnungsgemäß mit einer Spülung reisefertig gemacht. Mal sehen ob er noch einen Tag, noch einen Lauf und vor allem noch eine Nacht überlebt. Fühle mich umsorgt und doch überflüssig. Wie ein Schatten auf der pfirsichfarbenen Bank, der nicht sein müsste. Wie ein Schandfleck, wie eine detonierte Bombe, auf Bank und Tisch liegt alles voll mit meinem Krempel. Hab Spuren hinterlassen in Form von Krümeln unter dem Tisch. Überflüssig. Als ich vorhin zitternd und zusammengekauert auf dem Stuhl ausharrte, wünschte ich mir nichts sehnlicher als meine Klinge. Nun wieder. Meine „Pflicht“ ist getan, warum mich noch länger zusammenreißen? Sollte auch ich damit anfangen mein Werkzeug überall mithin zu schleppen um gewappnet zu sein? Jetzt aufs Klo zu verschwinden um das belastende Gefühl des „wieder Wartens“ abzuschlachten und mich mit absoluter Stille wieder in die Gesellschaft eingliedern? Eine tröstende Vorstellung. 13% Akkuleistung, ob das noch ausreicht?
Spätnachmittag
Da denkt man, man lebt in der Pampa und der plötzliche Einfall meines Körpers austreten zu wollen, sollte mit einem kleinen Umweg durchs Grüne kein Problem sein. Denkste! Sitzt da so ein Jägerarsch mit seiner Flinte in seinem Hochsitz und mir bleibt nicht mal die kleinste Hecke unbeobachtet. Beinahe wäre es erneut zu einer Katastrophe gekommen, zum Glück hab ich’s diesmal noch rechtzeitig nach Hause geschafft. Ich HASSE Jäger! Dennoch, der Lauf war schön und ich bin unendlich dankbar mal einen Schub zu haben, der nicht die Beine in Mitleidenschaft zieht. Auf Sparflamme und doch voller Energie durchs Abendlicht, mit Augenklappe, zerschnittenen Armen und Venflon am rechten Handrücken. Wahrlich, es wird Zeit für den „Laufclub der Versehrten“ in Kombination mit „Die Jägerhasser“.
Nacht
Ich bin tot


26. Januar, Samstagvormittag
Schweigend auf dem Sofa hocken. „Kommst du zu mir unter die Decke?“. Kopfschütteln. Der Film ist an diesem Punkt der Therapie unerträglich. Ich flüchte. Angeblich ins Bett, doch eigentlich zu meiner neuen Klinge. Dreimal insgesamt, wenn es denn genau interessiert. Nach dem dritten Mal sickert so viel Blut durch den Verband, sodass es an der Oberfläche zu gerinnen beginnt. Der Anblick betört, bringt mich durcheinander um mich letztendlich zusammenbrechen zu lassen. Weinend, flehend, flüsternd halbnackt vorm offenen Fenster stehen. Wie von Sinnen mit meinen Fäusten auf meinen Kopf einschlagen: „Hör auf! Hör auf! Hör auf!“. Die Atemfrequenz steigt bis ich beinahe hyperventiliere und sinkt erst wieder als ich den Verband vom Arm ziehe um die tiefen Schnitte erneut auseinander zu reißen. Ertrinke in meinen Tränen und der einzig klare Gedanke den ich zu fassen im Stande bin ist, dass zwei Monate zwischen zwei Stoßtherapien einfach zu kurz sind. Und nachträglich das Gefühl, wieder gescheitert zu sein. Als ich um 7 wieder im Bad am Waschbecken stehe und mir dessen bewusst werde, schlitze ich meine Handbeuge wieder auf und bestrafe mich selbst dafür, weil ich Situationen wie diese gestern nicht einfach nutze, um mich aus dem Weg zu räumen. Und die blöde Kuh steht immer noch und kämpft und kämpft. Für was bzw. um was? Ja, warum nur.
Dann abgeladen in diesem schrecklichen Aufenthaltsraum, der doch früher das „Sterbesammelzimmer“ war, und warte und warte. Zusammenbrechend, massiv zitternd, mit toter Miene. Irgendwann eine junge Ärztin, die versucht die Infusion in Gang zu bringen, doch der Venflon ist hinüber. „Da brauchen wir einen Neuen…“, ein kurzer Blick unter meinen Ärmel und dann: „Mir wäre lieber, wir machen das nicht hier.“. Mir auch. Andere Patienten im Raum und eine große Glasfront zum Flur hinaus mit direktem Blick zum Aufnahmepult, wo reges Treiben herrscht. Ab in die Ambulanz in eins der Behandlungszimmer. Sie stellt ein paar Fragen, ich erzähle zu viel und fühle mich nun schäbig, weil ich sie in meinen Sumpf hineingezogen habe und sie zu einer Mitwisserin meines Lebensüberdrusses gemacht habe. Scheiße! Du bist SO UNENDLICH SCHEISSE!

Spätnachmittag
 

 

Einäugig läuft es sich auch irgendwie nur halb.
Abend
Leidiges Thema: Entwässerung. Die Kartoffeln schmecken beschissen, der Sauerrahm erst recht. Jetzt ist mir schlecht und ich werde mich wohl an die ungesunden Sachen halten. Fett und hässlich bin ich ohnehin, mein Gesicht wieder leicht aufgedunsen. Lebende Wasserleiche, die längst tot sein müsste. Der Venflon schmerzt immer noch. Schwester Bianca (wie verwirrend) wollte mich befreien von dem Mistding, doch da sprang die junge Ärztin in die Presche und verhinderte es mit einem entsetzten: „Nein! Der bleibt drin!!“. Meine Schlussfolgerung darauf: „Ah, ich sehe, sie haben morgen Dienst…“. Bejahendes Grinsen ihrerseits. Und wieder frage ich mich, wo Ärzte ihre „Ach, an der Position tut es immer etwas weh! Das ist normal.“ –Floskeln herhaben. Sicherlich nicht aus einem vom Leben vorgegeben Erfahrungsschatz. Ich mag Schmerzen, aber nicht diese Sorte, die zu dem keinen Sinn zu machen scheint. Und wenn er morgen nicht funktioniert und der Mist sich wieder unter der Haut staut, dann weiß ich, dass ich Recht hatte. Wieder. Um auch den Entwicklungsstatus der Therapie am Rande zu erwähnen: Wie immer unter Kortison sind die Augen stark getrübt, in Mitleidenschaft gezogen und diesmal hat sich das Thema Doppelbilder nicht wie beim letzten Mal nach drei Tagen Therapie gelegt. Eigentlich wird es eher wieder schlimmer.

Vor mich hinschielen wie ein treudoofes Meerschweinchen. Geschmacksinn verlieren, Haltung verlieren, Fassung verlieren. Was übrig bleibt bin Ich, authentisch und ungeschönt. Mich an den Anblick der langen, tiefen Schnitte klammern um so etwas wie Trost zu erheischen. Weiß nicht, wie der Abend verlaufen wird. Weiß nur, dass ich außer Musik nichts ertrage. Und irgendwie habe ich auch nichts mehr zu sagen. Doch die Bilder sprechen ohnehin für sich.


27. Januar, Sonntag 7:30
Ein sich krümmender Magen, ein ungesund süßlicher Geschmack im Mund und die Augen haben sich immer noch nicht gebessert. Schwarzlila Striche auf der Haut und doch nur Kinderkacke. Mit jeder Klingenseite die ich verbrauche, hab ich mich noch mehr von meinem Ziel entfernt. „Wie oft denn noch versuchen?“. Mutiere dank Kortison wieder zum Ekelpaket, gereizt und unausstehlich, weil ich selbst nichts ertrage. Bin widerlich, weil alles um mich rum und vor allem in mir widerlich ist. Sollte ich mich allmählich daran gewöhnen, dass die Therapie nicht mehr wie früher sofort anschlägt? Nachts war wieder diese Angst da, dass sie diesmal überhaupt nichts bewirkt, die Angst davor, dass sich der Zustand nun manifestiert und bleibt. Was ist fataler für mich? Die Augen oder die Beine? Muss ich mich denn entscheiden? Du bist so hässlich!, zischt es unentwegt durch meinen Schädel. Schielende Kortisonfresse! Warum nett zu mir sein? Sebastian liegt noch im Bett und ich bin zu unentschlossen und auch irgendwie zu antriebslos etwas zu unternehmen. Und das, was sich mir heute unter dem Verband präsentierte, ist eigentlich auch nur peinlich. Da könnte man gleich fragen, ob ich hingefallen bin. Sind es Schnitte oder eher peinliche Schürfwunden? Und mich dann heute wieder im Aufenthaltsraum abstellen, an die Decke glotzen um all die ruhelosen Seelen die da kleben, zu zählen und mich wie schon gestern alle 10 Minuten von einer im Rollstuhl an den Tisch geparkten Oma ansprechen zu lassen, die ich nicht verstehe, ich nicht adäquat zu reagieren weiß, es eigentlich auch nicht will noch kann und mich so noch schuldiger und beschissener fühle. Die Ärmel meines Hemdes bedecken nur ein Drittel meiner Unterarme. Weste oder saubere Verbandsstrümpfe? „Kortison hat eine Gemütserhellende Wirkung!“. Wer hat diesen Scheiß verzapft? Teils hatte ich das Gefühl, dieser Satz wurde als Vorwurf missbraucht um mir vorzuhalten, ich würde es doch genau aus dem Grund unbedingt haben wollen und nicht der Beschwerden wegen. Erhellt? Wer? Ich? Wann? Kortison wirkt persönlichkeitsverändernd, sonst nichts, und da ich nun mal nicht zur „HappyHippo-Fraktion“ gehöre, ist diese Veränderung auch alles andere als erhellend. Wie schon gesagt, nur Puderzucker auf einem klebrigen Stück Schokolade. Süß, zu süß. Bittersüß. Fast zärtlich über meine Blessuren streichen. Oh Wehmut, sie tun nicht mehr weh!
Nach 11 Uhr
Ich stapfte die Einfahrt runter und der Rettungswagen machte eine Kehrtwendung in unsrer Einfahrt und fuhr mir vor der Nase davon. Wieder warten, wann bzw. ob er wieder zurückkommt. 4 Minuten im Wind stehen, zum Glück war das Fahrzeug nur mit dem Fahrer besetzt, so waren alle unnötigen Gespräche hinfällig. Ich war so wütend und auch enttäuscht von mir selbst, dass ich mich nicht aufgeschlitzt habe. Wieder war da der Gedanke, die Klinge in der Tasche zu verstauen. Ich beließ es bei dem Plan, die langen Furchen aufzukratzen, wenn es unerträglich werden sollte.

11:20 und die Infusion läuft tatsächlich noch. Die Worte sterben, ich fühle mich tot und will nicht mehr, nicht schon wieder. „Wieder“, immer diese „wieder“. Kotzt du dich selbst nicht allmählich gewaltig an?

Vor mir auf dem Tisch stehen mittlerweile zwei Tabletts mit jeweils vier Schüsseln in denen diverse Sorten Brei vor sich hinziehen. Das eine Tablett ist total voll gekleckert, es wurde gefüttert und aus dem Raum, aus dem die Essensreste stammen, wurde vorhin ein leeres Bett geschoben und ein liegender, alter Patient wieder hinein verfrachtet. Wie deprimierend. Auf der Bank wie ein nasser Sack hängen, über meinen Skizzenblock gebeugt und alles was ich sehe ist eine sich krümmende Frauengestalt in einer dunklen Schachtel. Der Zugang schmerzt, der pulsierende Schmerz zieht sich allmählich den Unterarm hoch. Ich bin so müde, kann es nicht ertragen, will wegrennen, den Schlauch aus meiner Haut reißen und fliehen. Der Essensgeruch hängt so schwer im Flur, mir ist ohnehin schon speiübel und der Anblick der beiden Tabletts macht es auch nicht unbedingt angenehmer. Und eigentlich weiß ich doch nicht was ich will. Der Gedanke ans Laufen, der mir eigentlich immer noch eine klitzekleine Tagesperspektive geliefert hat, ist tot. Ich kann nicht ans Laufen denken, ich will gar nichts. Mir ist alles so scheiß egal. Ich wünschte nur, jemand würde endlich die Essensreste entfernen. Und als hätte man mich erhört kommt eine Schwester mit dem Essenstrolli angefahren. Ich möchte etwas ausdrücken, doch ich kann nicht. Nicht mal in Worten.

Es tropft und tropft und mich beschleicht erneut das Gefühl, dass das alles nicht echt ist, ich gar nicht hier sein dürfte und es vielleicht auch gar nicht bin. Hier, mit diesem pulsierenden Schmerz der mir den Mageninhalt hoch holt, in diesem schrecklichen Flur mit der vollkommen abstrus wirkenden Faschingsdekoration an den Wänden. Diese geheuchelte Lustigkeit ist irgendwie pervers. Um mein Leben zittern, auf dass die Zeit vergehen möge. Doch wozu? Zu Hause ist es nicht anders als hier, genau so unerträglich, dasselbe Gefängnis, denn ich bin mein eigener Kerker. Ja, ja, stimmungsaufhellend…


Abend
Bin durcheinander, hab Hunger und kann doch nichts essen. Eine riesige Schüssel Obstsalat zubereiten um sie dann zu verschmähen. Die letzten beiden Scheiben Toastbrot aus der hintersten Ecke des Gefrierschranks bergen und toasten. Ekel, einfach nur Ekel. „Schauen sie mal nach links.“, kommandierte meine zuständige Neurologin als ich mich am Pult zum Abhängen der Infusion einfand: „Na, das sieht doch schon viel besser aus!“. Und sie warf der jungen Ärztin von gestern ein „Das Auge blieb letztens noch stecken“ zu. Irgendwie beruhigte mich das, doch einen Unterschied kann ich kaum bemerken. Um halb drei war ich zu Hause und der restliche Tag blubberte so vor sich hin, ohne großartige Ausschläge zu machen. Schlitz dich auf! Warum sitze ich immer noch hier? Warum mich verletzen, habe ich einen Grund? Die Hand zittert! Nichts ist in Ordnung, ich weiß es. Doch ich versuche gegen das Chaos im Chaos anzukämpfen. Kämpfen; pah! Aussitzen, phlegmatisch dahindümpeln. Irgendwie ist da Nichts und irgendwie doch die Sehnsucht nach einem massiven Einschnitt, der wenigstens für einen Augenblick den Fokus von der Krankheit nimmt. Zurück zu mir, zu meinen Ängsten, meiner Trauer und meinen Schmerzen tief in der schwarzen, verkümmerten Seele.


28. Januar, Montag 4:30
Mit einem schweigsamen „Ich geh ins Bett“ und dem Heizstrahler unterm Arm, verschwand ich im Bad. So viel Blut, wie unser Waschbecken in den letzten Monaten schlucken musste, bekommt kein andres handelsübliches Badezimmerwaschbecken in seinem ganzen Waschbeckendasein zu Gesicht. Zwei flächendeckende Ausraster, nicht tief, aber sie brannten stark und betäubten alles, was noch an Chaos da war. Und als die Stille nachließ und ich immer noch allein im Schlafzimmer war, kratzte ich wie besessen die Wunden auf, prügelte auf den Arm ein bis der Schmerz allumfassend war. Zarter Eisengeruch in der kalten Luft, die rechte Hand blutbesudelt und am Zittern. Ich konnte nicht einschlafen und dann um dreiviertel 3 war ich schon wieder wach. Trotz Sturm, dieser scheiß Gockel ist nicht zu überhören und irgendwann hetze ich ihm die Fuchsbande aufs Gefieder oder dreh ihm höchstpersönlich die Gurgel um. Von da drüben auf der andren Hügelkette kommt nichts Gutes: Nur Nachtschichthähne, Jäger, lautstark quietschende Mütter und schreiende Hunde…
Noch drei Stunden bis ich meinen letzten Gang nach Kanossa antreten darf; graut mir doch mittlerweile allein schon von der einstündigen Fahrt hin und dann wieder zurück. Stilles und unbemerktes Kopfschütteln, was bleibt mir sonst? Die Blessuren sind nicht blutunterlaufen, fühle mich schäbig und feige. „Dem Anlass nicht gebührend!“. Noch mal? Sebastian bezeichnete zutiefst erschüttert das stillschweigende Wegsehen der Ärzte als Armutszeugnis und fatal. Doch was sollen sie tun? Klar, auf Sprüche wie: „Was ist denn da passiert?“, kann ich wahrlich verzichten. Dennoch. Mit mir hadern, auch in Anbetracht der noch abzusitzenden Zeit die vor mir liegt, ob das leichte Brennen reicht oder nicht. Und die Zeit und das Warten beginnen mich erneut aufzufressen.

Nein, es macht keinen Sinn und der Gedanke, auf einen passenden Moment zu warten, in Ruhe und Stille, scheint tröstlicher als mich jetzt aus Langeweile heraus zu massakrieren. Und wenn aus dem Warten Spannung wird?

6:30
Gefällst du dir in der Rolle des selbstvernichtenden Monsters? Ja! Hab ich es anders verdient? Ich glaube nicht. Wo kommt all der Selbsthass her? Zu viel Zeit, zu durcheinander und untragbare Stimmungsschwankungen, um alles um mich rum mitzuvergiften. Müll! Wie stinkender, zäher Teer fließen die Worte aus meinem Munde und ich merke, was ich anrichte, doch kann es nicht beeinflussen. Unter Kortison bin ich wohl doch Borderliner. Vielleicht bin das tatsächlich ich: Ungezügelt, unkontrolliert, voller Jähzorn, Hass und Verzweiflung, einen Hieb nach den andren austeilend, ohne eine Retourkutsche zu kassieren, weil ich mich rechtzeitig selbst dafür bestrafe und mich fertig mache und meinem Gegenüber somit die Schmutzarbeit abnehme. Sebastian hustet drüben im Schlafzimmer und ich wünschte, er wäre nicht hier. Plötzlich scheint es kein Fenster mehr zu geben, aus dem ich türmen könnte, keine Zeit mehr, mich gegen die Selbstkontrolle zu entscheiden. Scheiß Puppenfresse! Zittern muss reichen und die Tasse scheppert auf dem Untersetzter in meinen Händen. So eine kaputte Persönlichkeit… Doch keiner sieht es. Und sie wird wieder funktionieren, sich eingliedern in dieses verlogene Spiel! Was tun? Die Ärmel hochkrempeln, mit offenen Karten spielen und die Illusion von einer witzigen, jungen Frau mitten im Leben klirrend zu Bruch gehen lassen? „Ja! Seht her!!!“. Abschreckend wirken, um in Ruhe gelassen zu werden? Alles im Keim ersticken. Was willst du???? Zu lange in diesem Körper, befreit von jugendlicher Infantilität und zu alt, um mit meinen Verletzungen wie früher umzugehen. Da ist kein weltfremdes Gefühl mehr, keine Mystifizierung, kein Verbergen oder gar Scham. Wer hat jemals behauptet, dass die Realität schön ist? Bezaubernde Dinge gehören ins Märchenland!
8:20
Ein intensives und interessantes Gespräch mit dem Praktikanten hinten im Rettungswagen führen. Erst über lästige Nachbarshunde und Hähne und dann über Musik. Dann angekommen. Am Klo das Toilettenpapier nachfüllen, als würde ich hier wohnen. Vielleicht tu ich das mittlerweile auch schon. Vor ein paar Sekunden war der Flur noch leer, jetzt ist er wieder gut bestückt und ich verkrieche mich unter meinen Kopfhörern und hinter HansPeter in der Kinderecke. Ich fühle nach: Nichts. Außer ein leichtes Brennen unter dem neuen, noch blütenweißen Verbandsstrumpf. Warten, warten, warten…

Um 9 hing die Flasche, unter dem Verband zeichnet sich allmählich ein roter Fleck auf der Haut ab. Zeit, dass die Leitung rauskommt. Will nur noch weg, raus. Ein wenig kritzeln, mehr weiß ich auch schon nicht mehr mit mir anzufangen. Dabei ist mit noch mindestens einer dreiviertel Stunde zu rechnen. Wie lange hält es an, wann bin ich wieder da und darf mir auf die Schulter klopfen um mir zum 26. Schub zu gratulieren? Ich bin es leid… Und das schimpft sich Leben?

Nachmittag
Ich fühle mich wertlos, wie weggeworfen. In einer nicht vorhandenen Situation abgestellt, haltlos, leblos und ohne Bezug zu irgendetwas. Sitze zwar bereits in Laufklamotten auf dem Sofa und warte wieder, dass die Zeit vergeht. Aber sonst ist da nichts, alles ist sinnlos, farblos, ich bin leblos.
Abend
Beim Lauf konnte ich meinen Körper nicht mehr spüren. Alles war wattig taub. So lief es sich eigentlich auch schon wieder ziemlich problemlos und geschmeidig. Die massiven Muskel- und Knieschmerzen setzten erst ein, als die Bewegung stoppte. Ich hasste mich bereits nach dem Mittagessen und nun nach dem Abendessen erst recht, da es erneut die falsche Wahl war und ich nicht satt sondern lediglich angeekelt bin. Hass, Hass, Hass! Fettes Schwein!!! Ertrage mich nicht, ertrage meine Umwelt nicht, musste Geschirrspülen und nun sehe ich nach dieser klitzekleinen Anstrengung so gut wie gar nichts mehr. Ich wünschte, ich würde umkippen und endlich schlafen. Ich wünschte, jemand würde eine Waffe auf mich richten und mich vor die Wahl stellen. Wie schon letztens beim Jäger, dem ich im Vorbeilaufen ein „Schieß doch!“ zuzischte, da nur seine Flinte und sein Hut im Hochsitz zu erkennen waren. Ich kann nicht mehr und komme doch wieder nicht zu Ruhe. Wohin mit mir???


29. Januar, Dienstagmittag
Als ich um 4 durch das grausige Gekreisch im Graben wieder wach wurde und Richtung Bad torkelte, sank ich mit einem tiefen Seufzer aufs Klo und dachte nur noch: „Es ist vorbei!“. Wieder ins Bett und endlich wieder weiterschlafen. Der Tag begann sehr langsam, bin wieder wie ausgebremst und bewege mich nur in Zeitlupe voran. Egal, ich habe dennoch viel geschafft, den Vormittag mit Putzen und Räumen zugebracht. Und irgendwie kam ich mir dabei wie eine vorprogrammierte Maschine vor, weil ich nach einer Therapie immer dasselbe tue. Wie schon das letzte Mal stand ich auch gestern Abend im Supermarkt vollkommen orientierungslos zwischen den Regalen rum um den klassischen Therapieabschlusseinkauf zu tätigen. Ich kam nicht voran, weil ich wusste, dass ich den Laden verlassen würde ohne das gefunden zu haben, wonach mir war. Und hätte ich irgendetwas genommen, wäre es das falsche gewesen und hätte mich nur unglücklich gemacht. So dauerte es eine Ewigkeit und ich ging mit leeren Händen und einer unerträglichen Unzufriedenheit. Und heute musste ich die Bettwäsche abziehen, wie nach jeder Therapie, weil ich den Geruch nicht ertragen konnte. Und musste Putzen, weil ich auch das nicht mehr ertrug.
Die Schnitte jucken denn sie heilen. Auch das ist unerträglich.
Abend
Kaum ist das Telefon zumindest per Anrufbeantworter wieder zu erreichen, geht der Terror wieder los. Erst war mir alles egal, jetzt fühle ich mich gestresst, gefordert, zu schwach dafür und möchte mich erneut nur noch aufschlitzen.

Bin ich schlecht?


30. Januar, Mittwochvormittag
1:44 Uhr, die Sirene ertönt dreimal und schallt unheimlich in den Graben hinein. Nach 7 schon wieder aufstehen, zu viel ist zu erledigen. Einen Termin für ein neues MRT besorgen, mich mit kochendem Wasser übergießen, drei Mal umziehen, heiß, kalt, heiß. Fühle mich unwohl, schäbig, der Lebensberechtigung beraubt. Verstehe die Welt um mich rum nicht mehr, alles verzerrt sich. Hab mir so meine Gedanken gemacht, wie die Sitzung heute ablaufen soll, doch nun bin ich mir nicht mehr sicher, bin eigentlich nur noch verunsichert, komme mir unwahrscheinlich albern und peinlich vor. In mir keimt die Befürchtung auf, man könne mich auslachen. Wieso auch immer. Zudem sehe ich total scheiße aus, Kortison sei Dank. Scheiß Hitzewallungen! Irgendwie scheinen die Worte wichtig und irgendwie will ich sie gleich wieder löschen, da sie doch überflüssig sind. Habe nichts zu sagen, nichts auszudrücken. Weiß nicht wer ich bin, wieso ich bin. Und es erscheint eine Anmaßung überhaupt bei der Therapie anzutanzen. DU BIST UNWICHTIG!!! Lebe ich? Ich kann nichts fühlen. Und alles was in den letzten Tagen so unendlich wichtig war, erwähnenswert für die Sitzung, ist nun wertlos. Schrott, Müll, Dreck! Es ist egal. Als sei es mir nie schlecht gegangen. Wieso auch, es hat ja keine Spuren hinterlassen. Allein wenn ich den zusammenhangslosen Kauderwelsch betrachte, komm ich mir noch bescheuerter vor. Da ist keine Linie, kein Bezug zu etwas. Ich bin nicht. Gequirlte Kacke; ich sollte wahrlich noch im Bett liegen.

Ich schwitze obwohl das Fenster im Rücken geöffnet ist.  Ich suche nach etwas, doch da ist nichts. Ich wage es nicht das große Pflaster abzureißen. Was, wenn die Wunden zu mickrig sind? Wieder eine Klinge vergeudet für NICHTS. Ich suche weiter. Nach irgendeiner Emotion. Irgendetwas. Wut, Hass, Trauer. Aber nichts. Nicht leben noch sterben.
Nachmittag
Strukturloses Vokabeln Ausspucken. Richtungswechsel in der Therapie, den Hauptfokus vom „Hier und Jetzt“ auf die Vergangenheit umlenken. Auf der Suche nach „meinem bösen Gespenst“. Ob ich das eventuelle Auftauchen einer verdrängten Geschichte verkraften würde? Was soll man in dem Chaos noch chaotischer machen? Doch da wird nichts sein und die Angst, mich zu verrennen ist übermäßig groß. Wünschte ich mittlerweile doch, es gäbe dieses Gespenst und hätte somit meinen Erzfeind gefunden. Zu Hause wieder das Gefühl, sterben zu wollen, unbedingt ein Ende finden zu müssen. STIRB!! Schweigende Verabschiedung nach Sebastians Mittagspause. Spannungszustände, innerlich ausgefochtene Kämpfe, hadern und massives Zittern. Kurz blitzte wieder die Idee auf mich mit einer weiteren Überdosis abzuschießen. Wie nett, denn genauso gut hätte ich mich auch umbringen können. Was wäre ich ohne mein Laufen? Tot. Haha. 4 Kilometer durch den kalten Wind. Bezug zur Umwelt und den Boden unter meinen Füßen wieder erahnen können. Wieder zurück kamen die Tränen. Ich weiß nicht woher. Und nun ist da wieder nichts. Meine Hände sind stark angeschwollen und ich fühle mich fett und unglaublich hässlich.


31. Januar, Donnerstagvormittag
Tagesplanung, Struktur erfinden und wie gelähmt beim erneuten Zusammenfall zusehen. Die Frage nach dem „Wann gehe ich laufen?“ reicht aus, um mir den Tag schon im Voraus zu versauen. Gehe ich jetzt, habe ich das gute Gefühl mein Tagessoll erfüllt zu haben. Doch die Nachmittage sind lang. Hebe ich es auf, wird mich die Unruhe bis dahin auffressen. Egal, wie ich’s auch dreh und wende, ich bin zum Scheitern verdammt. Es ist ein grauer Tag, nichtsdestotrotz proben die Meisen in den Jungerlen den Frühling. Das gehortete Wasser spuckt mein Körper im Moment über Schweißausbrüche wieder aus, was sich elend anfühlt. Ich habe irgendwie das Bedürfnis mich auf die Suche nach mir selbst zu begeben. Mit Skizzenblock, Bleistift und schweigsamer Stille. Vielleicht sollte ich doch erst laufen gehen…
Nachmittag
Beim Lauf begann mein Magen sich selbst zu verdauen und als ich dann im Supermarkt mit den Vollkornbrötchen an der Kasse stand, waren meine Hände blutrot und massiv angeschwollen. Ich legte die 1,20€ aufs Laufband, da es mir unter diesen Umständen schwer fiel die mickrigen Münzen zu halten. Ich fühlte mich ohnehin schon schrecklich unwohl, meine Sachen stanken für meinen Geschmack wie Sau, das Wasser lief mein Gesicht runter, das gerade Stehen fiel mir schwer und dann der Hinweis, niemals Münzen aufs Laufband zu legen. Plötzlich krachte ich zusammen, wurde ganz klein, fast unsichtbar und fühlte mich unendlich scheiße. Eine „Rüge“ in einem instabilen Gefüge, wie ein Stein ins Glashaus geschleudert. Verunsicherung, mir albern vorkommen und erneut der Lebensberechtigung entzogen. Wie albern das auch klingen mag, doch dieses Gefühl ist immer noch präsent. Stehe wieder vorm Spiegel und suche nach mir. Doch ich finde mich nicht, nur einen elendigen kleinen Haufen Dreck. Wertlos und hässlich.

Und noch bevor ich nach Jennersdorf fuhr, stand meine Mutter vor der Tür. Mit beinahe schuldbewusst gesenktem Haupt, da sie meine „Auszeit“ wieder nicht respektiert. Es war aber irgendwie auch egal, die Kortisonstimmung ohnehin am Ausschwitzen und sie tat mir leid. Es gibt nur entweder Ekel oder Mitleid und die Angst vor ihrem Tod. Wo letzteres herrührt lässt sich noch relativ einfach erklären, aber das Ekelgefühl? Ich wollte etwas versuchen, mich suchen, doch im Moment stecke ich wie eigentlich immer in dieser Langeweile fest und kann den Antrieb nicht finden. Gelähmt. Möchte mich selbst irgendeinem starken Reiz aussetzen, um in mich fallen zu können. Auch wenn das der falsche Weg sei, wie meine Therapeutin gestern zu Bedenken gab. Aber Bezug zu meiner Umwelt hab ich ohnehin nicht mehr. Nichts außer befremdlichen Eindrücken und Dejavues am laufenden Band. Mich aufschlitzen? Nicht massiv genug weil zu feige. Nach draußen gehen? Sinnlos. Mein altes Tagebuch lesen? Ich versuche schon krampfhaft mich zu erinnern, an irgendetwas. Aber alles scheint ausradiert, ich scheine ohne Vergangenheit, gefangen in diesem sich täglich wiederholenden Trauerspiel.

Abend
Anruf von der Apotheke. Nun stimmt schon wieder was mit den Rezepten fürs Kortison nicht. Und ich denke zurecht: „JEDESMAL die selbe SCHEISSE!!“, und: „Warum kann es nicht EINMAL glatt laufen???“. Es setzt mich unter Druck, rein in absoluten Stress. Aufschlitzen, kein Zweifel mehr. Zudem mein rechtes Bein taub. Danke.

Mich durchs Tagebuch kämpfen. Angewidert von soviel „Himmelhochjauchzend“ und „Zu Tode betrübt“, angeekelt und peinlichst berührt von derart jugendlicher Dummheit. Doch irgendwann wurde die Tinte Schwarz, die Worte klarer und deren Sinn undurchsichtiger. Irgendwann entstand das Gefühl missbraucht zu werden, zugleich die fixe Idee bereits missbraucht worden zu sein. War es die einzig logische Erklärung, die ich damals finden konnte? Die einzige Möglichkeit, mein Verhalten und das gelebte Gefühlschaos zu interpretieren? Missbraucht, vom eigenen Körper und dessen Bedürfnissen. Die Sexualität (damals noch zu jung um Schlagseiten zu haben) das Feindbild und auch der Vergewaltiger. In den früheren Texten erschließt sich mir die Angst noch nicht. Doch dann kristallisiert sie sich Eintrag um Eintrag klarer heraus und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, was ich von mir selbst halten soll. Einbildung oder fehlgeleitete Erklärung? Die Vernachlässigungen, die Missachtungen; all das ist ein Ansatz. Doch warum krümmt sich mein Körper bei dem Gedanken an Körperlichkeit? Liegt es nur daran, dass ich ihn verabscheue? Es mich anwidert, ihn zu benutzen? Ist es diese Geschichte, die mir erzählt wurde, an die ich mich aber nicht erinnern kann und bei der es unklar ist, welchen Verlauf sie nahm?
Ich sehe nun nichts klarer, eigentlich bin ich noch verwirrter als zuvor. Bis auf diverse Stimmungstiefs schien doch alles in Ordnung. Was hat dich so ruiniert? Und die immer wiederkehrende Aussage: „Ich habe Angst, dass ich etwas weiß!“. Die Frage stelle ich mir seit langem eigentlich nicht mehr. Meine Ratio sagt, dass da nichts ist. Mein Erinnerungsvermögen pflichtet ihr bei. Einbildung. Billige und einfache Erklärungsversuche. Das Thema Geschlechtlichkeit wird einfach ausgeklammert, umgangen und wenn es nicht länger geht, stillschweigend durchlitten. Seien es Zärtlichkeiten, seien es Frauenarztbesuche. Doch wenn ich mir solche Situationen ins Gedächtnis rufe, zieht sich in mir alles zusammen und ein grausiger Ekelschauer läuft meinen Rücken hinab. Ich will das nicht!! Und die Panik, dass es im Laufe der Zeit zu einer fixen Idee wurde und ich einfach nicht mehr zwischen Trugbild und ernstzunehmender Ahnung unterscheiden kann, bestraft mich hart. Was ist schon echt? Es sollte mir eigentlich ohnehin schwer fallen, Hysterien dieser Art ernst zu nehmen. Nehme ich mich doch für gewöhnlich selbst nie ernst. Bin es nicht wert. Fast möchte ich mir selbst unterstellen, ich bräuchte auch einen massiven Grund der rechtfertigt, dass ich bin wie ich bin. Auf der Suche nach einer Ausrede, einem Totschlagargument? DU BIST SO SCHEISSE!!!


1. Februar, Freitagvormittag
Man konnte nur noch einen weißen Plüscharsch zu Boden plumpsen sehen… Unsre beiden Hausrehe liegen nun oben auf dem ersten Plateau und aasen vor sich hin. Schon als wir das Haus verließen rannten die beiden gemütlich direkt vor unsren Nasen vorüber und hielten nur einige Meter entfernt in den Jungerlen. Wir wechselten ein paar Worte, erkundigten uns nach dem Stand der Dinge auf Wiese und Flur. Auch das kein Grund zur Flucht. Sebastian nahm mich mit nach Jennersdorf. Unterwegs kamen uns so ein „Angeberjeep“ und ein Traktor mit Schaufel entgegen. Sebastian meinte nur: „Na? Fangen unsre neuen Nachbarn nun an mit dem alles zu bauen?“. Ich gab nur ein griesgrämiges Grummeln von mir.  Wieder zum Arzt und zur Krankenkasse um den Scheiß zu klären. „Wir dürfen pro Tag nur zweimal Kortison verschreiben.“. Sehr witzig. Für eine Stoßtherapie an drei unterschiedlichen Tagen zum Arzt rennen wegen einem Rezept? Verfluchte Bürokratie! Auf der Suche nach Verständnis für meine Verbitterung stieß ich nur auf „Da können wir nichts für!“ und „Das ist nun mal so!“. Und man fühlte sich angegriffen, wollte ich doch nur ein wenig Zustimmung. Nicht zugehört, nicht verstanden und weggestoßen. Ein „gutes“ Gefühl. Ich rannte nach Bereinigung fast aller Probleme nach Hause. Was für ein Kampf. Der Puls beinahe konstant bei 165, mir schwarz vor Augen und speiübel und dennoch getrieben von dem Zwang, die 6 km zu bezwingen. Ohja, ich habe sie bezwungen, aber wie? Nachdem ich endlich unsre Einfahrt erreicht hatte, hätte ich zusammenklappen können und nach kurzem Stehen fühlten sich meine Knie wieder an, als würde soeben die Gelenksschmiere auslaufen. Und als ich die Kopfhörer abnahm konnte ich tatsächlich Baulärm hören. Kopfschüttelnd kroch ich ins Haus, vorbei am Spiegel der mir die nächste Backpfeife verpasste. Hochrotes, hässliches Gesicht, das Wasser tropfte von Stirn und Kinn. Bäh! Kotzwürdig!
Nachdem ich gestern Abend mich noch ein zweites Mal verletzt hatte, sprach ich meine Ängste und Bedenken an. „Nicht dass du dich da in was verrennst. Das machst du ständig…“. Danke. Ich verrenne mich nicht, ich muss Dinge genauestens durchdenken und überprüfen um sie ad acta legen zu könne. Wachte heute mit dem Gefühl auf, wirklich zu spinnen, alles war plötzlich nicht mehr ernst zu nehmen. Selbst die Trauer und all der Schmerz in mir schienen unwichtig, bedeutungslos und von mir lediglich aufgebauscht. Ich weiß wieder nicht was ich denken soll, was ich von mir selbst halten soll. Viele Fragen, noch mehr Beschimpfungen und das pochende Gefühl, mickrig und schäbig zu sein.


2. Februar, Samstagmittag
Im Cafe heute Morgen musterte ich Sebastian und es fühlte sich an, als würde ich ihn gerade erst kennen lernen. So, als hätte ich ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Irgendwie habe ich das auch nicht. Als er gestern Nachmittag nach Hause kam, war ich bereits erneut zusammengebrochen. Zuerst festgefahren in dieser schrecklichen Langeweile und am Zittern, um die Spannung abzubauen. Da war dieses Bild, es wollte nach draußen. Ich bereitete alles vor, doch als ich mein Glas umkippte und der Orangensaft über den neuen, unbehandelten Tisch schwappte und sich in Strömen über die Tischkante ergoss, war das absolute Ende erreicht.  Erst noch mit lautem Fluchen, dann auf den Knien auf dem Boden rumrutschend. Das Lähmungsgefühl im rechten Bein noch massiver. Als ich mich aufstützte ein stechender Schmerz in der Handbeuge. Die Arterie, an der das Blut abgenommen worden war, trat förmlich hervor und war binnen Sekunden angeschwollen. Atemlos saß ich da und überlegte. Nicht lange. Dann ins Bad mit dem Plan sie aufzuschlitzen, egal welche Konsequenzen das haben würde. Es hatte keine, ich war zornig und verzweifelt zugleich. Und dann kam er. „Ach, ich liebe dich doch…“. Ich sah ihn nicht an, sagte nicht viel außer „Besser nicht…“ und „Ich bin eine Zumutung. Geh besser…“.  Erst hatte ich das Gefühl allein gelassen zu werden, doch als er da war nur noch die Gewissheit, dass ich untragbar bin. Jeden Tag dieses tote Gesicht, dieses unerträgliche Schweigen, das Ausweichen und auf Distanz gehen. Da muss ihm doch speiübel bei werden. Und ich frage mich ernsthaft, wann es ihm endlich reicht, er wirklich geht, sich selbst zu liebe und ich auch gehen darf. Kann man von den mittlerweile spärlich gesäten Momenten zähren, an denen ich lebe? Reicht das? Wäre ich nicht schon längst gegangen? „Du bist so weit weg, ich kann dich gar nicht mehr wahrnehmen…“. Einen weiteren Puffer geschaffen, doch wie lange hält er diesmal stand? „Du wirst mit jedem Bild besser!“. Ja, und wenn ich dann perfekt bin kann ich aufhören und mich umbringen. Diese ständigen Suizidankündigungen müssen schon so derart nerven. Doch wonach schreit das? Der Wunsch, ernst genommen zu werden?


3. Februar, Sonntagabend
Trinken als Bewältigungsstrategie gegen die erdrückende Langeweile. Ich besuchte meine alte Nachbarin, die sich große Sorgen um mich gemacht hatte. „Ich hab schon überall rumgefragt, ob jemand weiß was mit dir ist…“. Ich erklärte mich und sie erwiderte ernst, dass man es mir ansehen würde, wie schlecht es mir geht. Tatsächlich? Wieder zu Hause war sie dahin, die gute Laune und als ich dann noch meine kochendheiße Hühnersuppe über die Couch, Teppich und meine Klamotten kippte war wieder Schluss. Was war passiert? ICH war passiert! Tollpatschige Kuh! Mein Dachschaden am Brillieren. Bereits nach dem Morgenlauf kristallisierte sich eine Gangbildstörung heraus und aus dem Lähmungsgefühl im rechten Bein wird massiver Schwächeschmerz. Als würde sich die Muskulatur langsam Faser für Faser auflösen. Zumindest fühlt es sich so an. Und dann diese beschissene Langeweile, dieses Nichtstun, dieses auf der Couch Hocken und WARTEN, WARTEN, WARTEN. Morgen früh muss ich zum MRT antanzen und bei dem Gedanken etwas vorzuhaben, kommt die Unruhe und macht den Grundzustand noch unerträglicher. Wollte ich mich doch bereits nach dem „Unfall“ wieder aufschlitzen. Also trank ich Liter um Liter bis mir schlecht wurde. Und nun hat es sich ausgetrunken. Was kommt jetzt? Was passiert wenn die Worte versiegen und ich wieder hängen bleibe? Und was, wenn ich morgen von dem ganzen Flüssigkeitsexzessen mehr wiege?
Mir darüber klar werden, was für einen zwischenmenschlichen Autisten ich mittlerweile abgebe. Was hält dich?
Ich wünschte, ich könnte nun behaupten, dass ich mich besser fühle. Doch das tut es nicht und außer dem Auftauchen des Zwangs, noch tiefer schneiden zu müssen, hat sich auch nicht viel verändert. Die neue Klingenpackung anbrechen?


4. Februar, Montagvormittag
Mir bei der Hinfahrt komplett bescheuert vorkommen, allein wegen der Tatsache, den Gegenstand „Auto“ zu benutzen, der mir in Momenten wie diesen unwahrscheinlich befremdlich erscheint. Totale Verunsicherung. Erst recht, als ich mit mehreren Anläufen versuche rückwärts in eine Parklücke rein zu schieben und mir dabei auch noch der Motor abstirbt und ich letztendlich aufgeben muss weil die Kraft in meinen Armen einfach nicht ausreicht. Wut und Jährzorn, freigeworden in gezischten Flüchen, Tränen der Verzweiflung in den Augen und dann doch eine weitere Lücke entdeckt. Die massive Schwäche in den Beinen zwingt mich zum ständigen Einknicken beim kurzen Weg zum Haus des Radiologen. Gangbildstörung. Jetzt? Nach einer Therapie? Danke! Zettel ausfüllen, in die Kabine und schon in die Röhre. Die Assistentin ist beinahe mütterlich freundlich und umsorgend. Sehe ich schon wieder so fertig aus? Ratternd und klopfend kommt die Maschine in die Gänge. Nach geschätzten 10 Minuten fährt die Liege wieder halb heraus und der Arzt betritt die Bühne. „Warum sind sie hier, haben sie Kopfschmerzen?“. Nein, MS. „Oh, sind sie das, die keine Venen hat?“, und er schiebt den linken Ärmel hoch. „Danke, dass sie sich an mich erinnern.“. Er sucht diesmal nur kurz, sticht einmal um dann mit den Worten: „Gar nichts, aber auch wirklich KEINE einzige Vene….“, das Thema Kontrastmittel abzuschließen und gibt seiner Assistentin die Anweisung in diesem Falle eine „enge Diffusionsschichtung“ anzuwenden, das sei fast genau so gut wie Kontrastmittel. Wieder rein beginnt der Kasten aufs Neue zu Rattern und ich frage mich, ob das nun auch in die Kategorie „Warten“ fällt oder doch ein aktiv gestaltetes Geschehen ist. Etwa 25 bis 30 Minuten dauert das Spektakel und als ich vom Tisch plumpse meine ich nur noch, dass ich das nächste Mal Venen mitbringen würde, mir also irgendwo neue kaufen werde. Dann fahr ich nach Hause, um hier wieder zu Warten. Darauf, dass die Zeit vergeht, ich wieder ins Auto steigen kann um nach Jennersdorf zu fahren, einkaufen zu gehen, die Straßen laufend unsicher zu machen, das letzte Kortisonrezept zu holen und dann mit Sebastian in seiner Mittagspause wieder nach Hause zu fahren. In dem guten Wissen, am Nachmittag erneut zu stranden und abzustürzen, weil mich die Zeit auffrisst.
Nachmittag
Halb drei. Nun ist es soweit. Bereits vor einer Stunde begann ich wieder beim Fernsehen an den Wunden von gestern zu kratzen. Die Bilder im Flur umhängen, damit das Neue auch seinen Ehrenplatz bekommt. Und nun?

Nachdenken und in mir nach einem Bild suchen. Immer wieder zwingt sich mir die Vorstellung auf, wie es wohl ist tot zu sein. Blass, kalt und mit einem hübschen Pappschildchen am Fuß. Keine verlogenen Grimassen mehr auf dem Gesicht. Klingt befreiend. Doch lebe immer noch. Keiner überfährt mich, keiner erschießt mich. Und ich bin unfähig. Ich werde wohl auch kein Bild finden, bin im Moment ziemlich emotionslos. Und wenn ich ehrlich bin, hab ich doch schon längst eines gefunden. Aber die Thematik beginnt sich zu wiederholen und ich sehe keinen Sinn darin, es festzuhalten. Letztendlich würde es nur einen Rückschritt dokumentieren, dem ich nicht unbedingt zu viel Aufmerksamkeit beimessen möchte. Schlimm genug, dass es so ist denn ich funktioniere wieder.
„LAAAAANGWEILIG!!!“. Dann tu was dagegen! „Ich kann nicht…“.

Die neue Klingenpackung öffnen und mich rausschneiden.

Die im Krankenhaus im Laufe der Jahre erlernten Techniken anwenden, zweckentfremden, um aus dem Waschbecken ein Schlachtfeld zu machen. Der linke Arm brennt leicht und fühlt sich an, als wäre er gestaut. Blutleer. Es war auch viel Blut. Warum also kann ich nicht einfach zusammenklappen? WARUM???? Warum stehe ich immer noch? Warum werde ich bald wieder grinsen, schreckliche Witze reißen und mich erneut selbst verraten? Ist es egal, wies mir geht? Ich denke schon. Fühle mich an diesem Punkt wertlos. Liebesbeweis, Machtdemonstration oder mich selbst bespuckt? Mir gut tun indem ich mich abstelle, eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass mein Körper MIR gehört oder mich so behandeln, weil ich’s nicht anders verdient habe? Mich an die Stille in mir klammern und schweigen.
Abend
Mich dafür entschuldigen dass es mir schlecht geht. Schon wieder schlecht geht. Er meint, das sei Unfug, ich, dass ich ihm das schuldig bin. Wieder, eine Menschgewordene Zumutung. Und wieder die Frage: Wohin mit mir? Werden die Schnitte der neuen Klinge gerecht?

NEIN! Einfach nur dasitzen, zittern und keinen Ausweg sehen.

Komme zu keinem befriedigenden Schluss. Wie absurd und frustrierend zugleich. Das Blut durch den Verband sickern lassen, der rote Fleck wird immer größer. Es fühlt sich gut an, was in meinem Vokabular so viel bedeutet wie: Es tut weh. Im Spiegel dieses gleichgültige Gesicht. Tot und leer. Es wird wohl nicht hierbei bleiben dürfen…


5. Februar, Dienstagvormittag
Wenn ich versuche in Gedanken beschwichtigend auf mich selbst einzureden, so tu ich das indem ich mich selbst mit Vornamen anspreche: „Du musst heute nicht gleich zu Mittag laufen, Bianca. Es regnet, Bianca, und du weißt, der Tag kann wieder unendlich lang werden.“. Es hilft alles nichts und die Laufmontur liegt bereits wieder auf der Bank neben mir. Und das Suchtteufelchen flüstert: „Dann hast du es hinter dir, hast was geleistet.“.
Noch ein drittes Mal begab ich mich auf die Suche nach meinen Grenzen, die ich aber erneut nicht abzustecken vermochte. Doch die Verbände waren Blutgetränkt und schwimmen nun in einer dunkelbraunen Suppe aus heißem Wasser und Chlor. Ich wünschte nur meine Arme würden heute auch so spektakulär aussehen wie die Verbände. Es bleibt beim Wunschdenken, lediglich Kinderkacke, jämmerliche Kratzer, trotz neuer Klinge.

Von weiter Stoffhose zur Lauftight wechseln, startklar und erneut am Warten, dass die Zeit vergeht. Warum beginnen meine Tage fast immer noch so erträglich, fast harmonisch um dann gen Nachmittag zusammenzukrachen?

 

 

Nachmittag
Mir und dem Tag die Chance verwehren, das Fernsehprogramm nicht länger ertragen können, mich in mein Atelier verkriechen und dem Absturz in der gelebten Isolation Tür und Tor öffnen. Hielt ich es heute nur solange aus, weil ich nicht allein bin? Bei dem Gedanken an Verletzung wünschte ich aber, dass ich es wäre. Der Lauf war nicht befreiend, lediglich den ersten Kilometer durfte ich genießen. Ab dem dritten begann mein linkes Bein im Bewegungsablauf zu schlenkern um dann zwischen 4 und 5 in eine leichte Lähmung zu verfallen. Wunderbar. Das Bild ist immer noch in mir, vielleicht sollte ich es doch umsetzen. Oder wie immer hier hocken, festgefressen und starr und darauf warten, dass die erneute Verletzung unumgänglich scheint und ich nachgebe. Jetzt kommt auch noch die Sonne raus, was für mich beinahe wie Häme wirkt. Ich denke über Ausdruck nach, darüber, was es festzuhalten gilt, doch meine Gedanken sind wie paralysiert. Ich ertrinke erneut in der Langeweile und Wertlosigkeit, und das obwohl ich erst seit kurzem hier hocke. Immer dasselbe. „Los! Gib mir einen Grund!“. Spazierengehen, das wäre eine Option, doch nicht für mich. Meine Beine sind schwach und wie gelähmt, ich bin gefangen in meinem eigenen Körper. „Ich hasse dich!!!“. Es scheint ein mickriger Schritt vom Nichtstun bis hin zum ersten Bleistiftstrich. Doch ich kann nicht, denn allein der Gedanke strengt mich so sehr an, dass ich nur wieder geschwächt in mich zusammensinke. Vor- und zurückwippen. Stumpfsinniger geht es kaum noch. Der nächste Schritt ist dann das Zittern, was einem Freifahrtschein in eine darauf folgende Verletzung gleichkommt. Dasitzen und auf das Zittern warten.
Abend
Meine letzte Tagespflicht erfüllt, das Abendessen gekocht und verspachtelt. Wieder zurück an Ort und Stelle, wieder versinken und Warten. Darauf, dass aus dem wagen Gefühl Überzeugung wird. Und letztendlich bin ich von der fixen Idee so sehr geblendet, dass ich nichts andres mehr erkennen kann, jetzt, da alles erledigt ist. Noch festgefahrener als zuvor. Was soll ich tun? Nach vorne gehen und Sebastian die Ohren voll jammern? Der Weg ins Bad ist nicht nur von der Strecke her gesehen kürzer. Auch gefühlt. Einfacher. Blockiert nur noch von der Angst, dass es wieder nicht ausreicht. Hänge bewegungslos am Tisch. Lediglich die Vorstellung mir ins Gesicht zu schneiden, lässt meinen armseligen Körper immer wieder zusammenzucken. Ein gutes Gefühl.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal. Und alles umsonst.

Verwüstete Haut und ein Schmerz, der nur mir allein gehört. Es erscheint absurd sich nun wieder ins „normale Leben“ einzugliedern.


6. Februar, Mittwoch 7 Uhr
Wieder denke ich, es könnte meine letzte Fahrt sein. Der Tag tritt verschleiert in Erscheinung. Es ist mir egal, ob man die Schnitte und das weiße Pflaster unter dem schwarzen Ärmel hervorragen sieht. Vielleicht will ich es auch so. Krankhafte Geltungssucht? Aufmerksamkeit? Ach, weiß der Teufel was. Erst muss ich meine neuen MRT-Bilder holen und ich würde mich wahrlich kaputt lachen, wenn nun nach der Therapie weitere Läsionen aufgetreten sind. Und dann nach Oberwart zur Therapiebesprechung. Ich wäre gern gespannt, was sie mir an Giftgemischen anzubieten hat. Aber irgendwie ist alles egal, die Nacht hängt noch nach und verwirrt mich.
Mittag
Als er mich berührte und ich mich fallen ließ, versuchte ich verzweifelt herauszufinden was es ist, das mir so sehr Angst macht. Ich sortierte jedes einzelne Gefühl, das vorüber ging, inspizierte es, doch nichts. Keine Antworten. Und wieder lag ich danach da, mit Tränen in den Augen und einem Gefühl, dass das nicht richtig war. Schwere Seufzer und ein Klotz im Hals…

Erst zum Radiologen meine Bilder holen. Anscheinend aktive Herde und der Rest progredient. Von Fürstenfeld ging die Fahrt weiter nach Oberwart. Nebel, nichts als Nebel und hätte ich nicht gleich bei Fahrtantritt oben am Hügelkamm den blauen Himmel gesehen, ich hätte gedacht, die Welt wurde verschluckt. „Guten Morgen, das Elend ist da.“. Schwester Hedi sah mich deswegen ganz entsetzt an.

Ich musste nicht lange warten und da ich seit der Therapie eine weitere Verschlechterung erwähnte, wurde mir geraten noch eine orale Kortisontherapie hinten dran zu hängen. 8 Tage Tabletten schlucken und wenn es nicht wirkt, nochmals 3 Einheiten intravenös hinterher jagen. Die MRT- Bilder sehen auch nicht so toll aus und bei der Untersuchung stellte sie im Vergleich zu vor fast zwei Wochen eine Gangbildstörung fest. Als ich auf der Liege lag und sie den Vibrationstest machte ein kurzes: „Ah, da haben sie sich selbst gepflastert.“. Klar, Omnifix und drunter Klopapier. Und dann die alles entscheidende Frage: Betaferon oder Copaxone? Ich entschied mich für letzteres und Schwester Hedi packte mir einen Rucksack mit Informationsmaterial. Den Rucksack ließ ich dann wieder ausräumen und nahm den Krempel in einer Plastiktüte mit nach Hause. „So viele Idioten auf dieser Strecke, warum kann mich nicht einfach einer umkarren?“. Die ohnehin schon nicht vorhandene Stimmung sackte in den untersten Keller. Schwester Hedi sah mich besorgt an, stellte ein paar Fragen. Hatte sie letztes Jahr doch meine Wunden zur Genüge zu Gesicht bekommen. Zu Hause wieder zum Arzt, was ich gleich laufend erledigte. Doch mein linkes Bein scheint massiver in Mitleidenschaft gezogen, als mir lieb ist und es stellt sich mir die Frage, ob das nun noch zum „Doppelbildschub“ dazugehört oder als separate Katastrophe mit der Nummer 26 zu werten ist. Dann kam Sebastian aus der Firma und kaum saß er im Auto, wurde er mir schon zuviel. Er redete und ich konnte nicht zuhören. Ich kam mir so überflüssig vor. Ich schwieg und er fragte auch nicht nach. DU BIST SCHEISS EGAL!!! Im neuen Befund stehen unter dem Punkt „Medikation“ einige Sachen, die ich zur Zeit einnehme und am Schluss auch noch „Mit selbstschädigender Absicht mehrere Tabletten Mirtel“. „Doch nicht so egal?“. Ich kann nicht leugnen bei Hin- und Rückfahrt immer wieder darüber nachgedacht zu haben, den Sicherheitsgurt abzulegen und mit Tempo 100 von der Straße zu rasen.

Ich dachte, ich hätte es geschafft, WIEDER MAL hinter mich gebracht. Doch nun geht es weiter. Ich kann nicht mehr. Aus der stumpfen Stille werden Tränen und Verzweiflung.

Alles in mir schreit förmlich nach Verletzung, nach Bestrafung um mit mir selbst Frieden schließen zu können. Fürs erste. „Das Eisenpräparat sollten sie weiter nehmen, soviel Gemüse können sie gar nicht essen um das aufzufüllen.“, „Auf Dauer schadet es ihnen, wenn sie es nicht zusätzlich zuführen!“ und „Wenn sie es weglassen, haben sie ihr Ziel am Ende wirklich noch erreicht. Und das ist zynisch gemeint.“. Wie verlockend. Oder mich doch lieber gesund und fit halten für weitere Verletzungen? HAHA… Ist doch alles scheiß egal, ich bin wieder egal. Es gibt keinen Zweifel mehr, nur noch die Frage wo. Draußen, im Bad oder hier, wo ich mich noch mit ohrenbetäubender Musik zudröhnen kann bis ich wirklich nichts mehr spüre und mich von den Texten anheizen lassen in meinem Tun? Es tut mir leid, dass es mir scheiße geht. Wie unpraktisch, wo doch heute DAS Fußballspiel läuft. Gut, dass ich funktioniere.
Nachmittag
Da ist nichts und da wird auch nichts sein. Gib auf!

Erst der linke Arm, dann der rechte. Blutflecken auf dem Holzboden. Und dann scheinheilig den Ring wieder überstreifen. Vor mir am Boden ein blutgetränktes Tuch. LOS!! JETZT ERSTICK IN DEINER SCHEISSE!!!!

Der Körper sinkt in sich zusammen, als sei er traumatisiert. Schweres, tiefes Atmen und Stille. Als sei ich gefallen und hart auf dem Boden aufgeschlagen. Stille und Schwäche. Wieder viel Blut. Als ich damals das Tagebuch durchforschte entdeckte ich auf der Rückenklappe ein vergessenes Foto. Zu sehen mein Arm mit 3 bis 4 mickrigen Kratzern. Was für eine Entwicklung, man könnte fast meinen, ich sei „erwachsen“ geworden. Fragen nach dem Sinn. Suche ich die Konfrontation? Meine Grenzen? Mitleid oder Aufmerksamkeit? Beschissene Schlampe! Will nicht das Gegenteil hören, noch die Bestätigung. Irgendwie reicht es schon, wenn DAS mein Bild von mir selbst ist. Ums Überleben Zittern. Nein, ich will einfach nur ernst genommen werden. In allem was ich tue. Ertrage es nicht länger mit Sätzen, die mit „Aber Kindchen..“ beginnen, abgespeist zu werden. Und ertrage es aber auch nicht ignoriert zu werden. Ständig geht es um Wertschätzung und darum, dass ich trotz allem davon überzeugt bin, diese nicht wert zu sein. SCHEISSE!! Hast du gehört? Du bist SCHEISSE! Habe ich das Recht zu fordern? Strecke die Hand aus um sie sogleich wieder zurückzuziehen, nachdem ich mir selbst auf die Griffel geschlagen habe. Wenn man mich nicht mal in meiner Selbstverletzung ernst nimmt, ist mein Leben komplett verwirkt. Es hinausschreien und mir doch wieder nur den Mund verbieten. Was bleibt mir sonst als das hier? Armselig. Du bist nichts weiter als Dreck! Hin- und hergerissen zwischen „Lass mich nicht allein!“ und „Geh endlich und bring dich in Sicherheit!“. Was soll da noch Gutes bei rauskommen? Aus Scheiße kann nur Scheiße resultieren. Warum bin ich so wertlos? Was hab ich getan? Noch weiter in mich zusammensacken, zittern und tiefe Verbitterung: Der Schmerz ist verflogen.


7. Februar, Donnerstag 6 Uhr
Seit 5 wieder wach und mehr oder minder auf den Beinen. Jetzt bin ich wieder am selben Punkt wie vor zwei Wochen und das, obwohl es lediglich 80mg Urbason sind. Leichtes Herzrasen und Unruhe. Weiterschlafen? Vergiss es!
Als Sebastian nach Hause kam und alles in seinen Angeln erschien, sah ich keinen andren Ausweg mehr als ihn zwischen all dem erdrückenden Schweigen flüsternd zu fragen, ob er meinen Tag lesen will. Er tat es, ich saß betreten daneben um dann vollends zusammenzukrachen. Er suchte nach Lösungsansätzen, ich nach Gründen, mich endlich aus dem Weg zu räumen. „Wie wärs mit einem Rollenspiel? Oder kannst du nicht einfach onlinespielesüchtig sein?“ und „Ich WILL NICHT dass du das hier tust!!“. Als alles gesagt schien, fühlte ich nichts mehr. Nichts als Leere. Ich bat ihn die Vorhänge oben im alten Atelier abzumontieren, damit ich sie im neuen vor die Fenster hängen kann, wie es mir meine Therapeutin bereits geraten hatte. Sicherheit basteln. Sicherheit, die es zu missbrauchen gilt. So kann mich einfallender Besuch auf dem Weg zur Haustür nicht mehr von draußen dabei entdecken, wenn ich mich in meinem Zimmer abschlachte. Ja, wenn das nicht süße Sicherheit verheißt. Und als wäre nie alles gesagt worden, schlitzte ich mich unbehelligt noch ein drittes Mal auf. „Gehst du zuerst in die Wanne?“. Nein, ich kann nicht. Ich ertrage allein schon den Gedanken nicht, die liebevoll in die Haut gemeißelten Kerben ausschwemmen zu sehen.  Und es hat sich auch gelohnt, teils haben sie sich nicht geschlossen und sind beinahe schwarz unterlaufen. Auf die ungestüme linke Hand ist immer noch Verlass, zudem die Haut am rechten Arm noch so unversehrt und weich.

Meine Augen brennen jetzt, weil ich sie mir gestern aus dem Kopf geheult habe. Und von wach kann wahrlich keine Rede sein. Zu solch früher Stunde schon Stumpfsinn mit Tee. Schönes Leben. Klingt wie gutes Rentnerfernsehen. Eine Stunde noch bis ich fahren kann. 60 Minuten allein und Zeit um Scheiße zu bauen. Reichen doch schon 2 Minuten. Und es macht mir Angst, dass mein Vormittag wieder durchstrukturiert ist. Finde aber erneut keine Lösung für die Stunden danach. Zumindest keinen produktiven Ansatz. Mich mit Aufräumarbeiten über Wasser halten um dann im Bad wieder vorm Spiegel zu versteinern und mir in die Augen zu starren. Was ist da? Was verbirgt sich dahinter? Scheiß Puppengesicht! Schon wieder. Der Tag bricht an und dringt dank Vorhängen nur Portionsweise in den Raum.

8 und mir wird klar, dass ich mich geirrt habe und mir NOCH eine Stunde bevorsteht. Spätestens jetzt weiß ich: Ich kann nicht mehr…
Warum will die Zeit nicht vergehen? Einmal aufschlitzen. 15 Minuten später. Mir telefonisch das Freizeichen einholen, heute mit der Therapie beginnen zu dürfen. Immer noch nicht weiter. Ein zweites Mal aufschlitzen. Eine halbe Stunde später und immer noch kein Ende in Sicht. Und die Klinge ist wieder stumpf und mein Blut dick. Die Arme mit Wunden überzogen, kaum ein freies Fleckchen Haut mehr übrig. Und ohne es zu merken beginnt die rechte Hand zu zittern. Reicht es? Reich es dir? NEIN!

Dreimal.

"Fahr endlich, sonst drehst du noch komplett durch!".
Nachmittag
Es wird über den Selbstmord eines Jugendlichen berichtet. Der erste Gedanke ist: „Wie traurig…“, doch der zweite legt mein Leben erneut in die Waagschale: „Warum ich nicht?“. Nachdem ich in der Therapie meinen Lebensverdruss mehr als klar artikuliert hatte und ich erneut versprechen sollte, mir nichts anzutun, bzw. anzurufen, bevor ich etwas unternehme, versuchte ich Pläne für den Nachmittag zu finden. Mitzis Hosen kürzer nähen. Doch mit den Maßen stimmte irgendetwas nicht und so wanderten die 4 Teile wieder unangetastet in ihren Plastikbeutel. Dann begann ich meine eigenen Hosen zu flicken, doch die Frustrationsschwelle sitzt unendlich tief. Ein Fehler und ich gab auf. Und nun? Beide Arme brennen immer noch, die Haut ist mittlerweile wieder stark überreizt. Noch mehr Broschüren lesen? Der Impfstoff liegt nun unangetastet im Kühlschrank und ich weiß nicht, wann der beste Zeitpunkt dafür gegeben wäre. Also was tun? Meine Therapeutin meinte, sie würde versuchen für mich eine Aufgabe zu finden über eine Bekannte, die in der Integrationsarbeit tätig ist. Ich weiß nicht was schlimmer ist: Diese Trauer oder die Langeweile, die mich mit jedem Tag mehr verdummen und vereinsamen lässt.
Abend
Den Tag überstanden. Und was mach ich morgen? Zudem kommt Sebastian später und dann spätnachmittags wieder Psychosozialer Dienst, die ganze Scheiße noch mal durchkauen? Im Moment geht es mir eigentlich recht gut. Aber will ich das auch, bzw. darf ich das zulassen? Und sei die Kortisondosis noch so gering, die Aggressionen sind wieder mehr als präsent und versuche angestrengt mich zu zügeln. Wieder mehrere Nächte mit zu wenig Schlaf? Wieder austicken? Was soll ich denn noch zerschneiden? Meine Eltern waren kurz da und meine Mutter fragte doch tatsächlich als sie die Spritze sah, ob das ein Antidepressivum sei. Mein Vater setzte einen besorgten Dackelblick auf, als ob er genau wüsste, was alles schief gelaufen ist. Mittlerweile glaube ich auch nicht mehr, dass nur meine Mutter das Problem darstellt. Wie war das heute in der Therapie? „Ich kann nicht zulassen dass es mir gut geht, weil  sich dann keiner mehr Sorgen macht und ich in Vergessenheit gerate.“. Sebastians erster Kommentar lautete: „Nein, das klingt nicht nach dir!“ und dann: „Das klingt eher nach deiner Mutter, aber nicht nach dir.“. Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es in einem gewissen Maße sicherlich zutreffen mag. Aber Hauptgrund ist und bleibt, dass es einfacher ist „Nein“ zu sagen, wenn es mir schlecht geht und es so unkomplizierter ist Menschen von mir fernzuhalten. Was mir, ginge es mir gut, unmögliche wäre. Ich WILL, dass man mich in Ruhe lässt. Dennoch, das ist sicherlich nicht der einzige Grund. Die Selbstbestrafungskomponente ist so massiv, stellt sich nur die Frage: Woher rührt dieses Verhalten? Meine Mutter wollte Fragen stellen, doch ich ließ sie auflaufen. Meine Körpersprache und Mimik schrieen förmlich: HALT! Ich lege keinen Wert drauf, dass sie sich sorgen. Lege keinen Wert auf diese schrecklichen Leidvergleiche, auf die es zwangsläufig hinausläuft. Da könnten wir gleich Quartett spielen. Kein Gejammere, einfach nur NICHTS. Oder mache ich einfach einen Unterschied zwischen meinen Eltern und anderen? Allein bei dem Gedanken kommt erneut der Selbsthass in mir hoch und geißelt mich mit wüsten Beschimpfungen. Jämmerliche Schlampe!! und Aufmerksamkeitsgeiles Stück Scheiße!!! Und siehe da: Die Hand beginnt stark zu zittern. Ist es wirklich so? Bin ich so schlecht?

Den Tag beenden, wie er begonnen hat.


8. Februar, Freitagmorgen
Kurz nach 2 Uhr ging unten im Graben wieder dieser Radau los. Mittlerweile glaube ich, dass man danach die Uhr stellen kann, glaube aber nicht länger, dass es Füchse sind die da kreischen wie abgestochene Menschenkinder. Nun gut, ich war wach und die Maschinerie im Kopf kam im die Gänge. 3 Uhr, immer noch. 4 Uhr, Status wie gehabt. Um 5 schlief ich kurz ein um nach einem Alptraum wieder hochzufahren. Sebastian stand irgendwann nach 7 auf. Ich gab ihm noch einen Kuss, verschluckte aber das „Ich liebe dich“ und „Bitte fahr heute vorsichtig!“. Nach der Arbeit will er wieder direkt nach Slowenien, und ich würde mir gerne Sorgen machen. Doch wie meine Therapeutin gestern schon feststellte: Ich kann keine Verantwortung für mich selbst übernehmen. So ist die logische Schlussfolgerung, dass wenn ihm auf der langen Strecke, gesäumt von all den Kreuzen und Grabsteinen, etwas passiert, ich auch keine Verantwortung für meinen Selbstmord und mein Tun mehr übernehme. Als ich das Auto wegfahren hörte, schmiedete ich im Kopf einen Plan, wie ich es anstellen würde. Erst versuchen, die Pulsadern zu öffnen, woran ich wahrscheinlich kläglich scheitern würde, mich dann mit Mirtazapin betäuben und kurz bevor ich einschlafe noch eine Überdosis von irgendetwas aus meinem großen Repertoire an Schmerzmitteln, Krampflösern und Psychopharmaka einwerfen. Und dann ist endlich Schluss. Ohne nachdenken. Spring! Also sogar meinen Freitod in die Verantwortung eines andren legen. Da biste fein raus!
Wieder habe ich Angst, der Tag könne mich verschlucken. Zu wenig Schlaf, zu viele Stunden noch vor mir ohne Struktur und Plan, das Gewicht im Vergleich zu gestern viel zu hoch. Ich kann mir denken woran es liegt, aber das vermag mich nicht zu trösten. Also wie sieht der Plan aus? Erst mal hier hocken und kein Plan, dann irgendwann laufen gehen (die Strecke hab ich mir nachts bereits im Kopf zusammengebastelt und die Länge berechnet) und dann wäre da ja noch der Termin beim PSD. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, mich erneut zu wiederholen. Ich wünschte, ich würde dadurch noch mehr Überzeugung erhalten, doch stattdessen nehme ich mich selbst immer weniger ernst. Und dann am Schluss wieder die Frage: „Nun gut. Was machen wir?“. Wieder KEINE Tabletten. Und Tschüss! Alles wiederholt sich, alles dreht sich. Und ich frage mich nur noch, wann sich die Spirale endlich enger zieht.
„Es macht keinen Unterschied, wie sie das Kortison einnehmen. Die Nebenwirkungen bleiben dieselben.“. Mein Magen krümmt sich erbärmlich, das macht schon einen Unterschied. In mir ist ein Bild. Doch kann ich? Oder muss ich erst laufen, die wichtigen Dinge des Tages hinter mich gebracht haben?
Abend
Das Bild jetzt zu Ende bringen oder die restliche Arbeit für den Fall einer weiteren durchwachten Nacht aufheben? Ein Termin mit der Dame von „Vamos“, der Integrationsarbeitsvermittlerin, ist ausgemacht. Nun heißt es nur erneut warten. Beim PSD habe ich erneut klargestellt, dass ich nur noch auf einen triftigen Grund warte, um endlich zu gehen. Nein, ich fühle mich nicht gut und da so viele Leute anwesend waren und ich wieder Mal warten durfte, begann ich zu zittern, um die Spannung abzubauen und irgendwann sogar heimlich über meine Arme zu kratzen.


9. Februar, Samstag 4:30 Uhr
Als sei die Wirkung vom Kortison nicht schon belastend genug, legt meine Blasenentzündung, die ich mir vor Tagen zugezogen habe, nun auch noch Nachtschichten ein. Als ich um 7 nach 3 die Augen aufschlug und unten im Graben das Gekreische gerade ins große Finale überging, schien noch alles so klar: Zum Klo torkeln und dann gleich wieder erschöpft ins Bett sinken. Nix da! Kaum war ich zurück, war ich putzmunter und das Gefühlsleben meines Unterleibes erstickte allein den Gedanken an Weiterschlafen im Keim. Daliegen, mich umlagern, das penetrante Gefühl zulassen und wieder darüber nachdenken, ob es sich nun um Füchse handelt oder stimmbrüchige Teenagerehböcke. Eine Stunde später erlöste ich mich selbst und stand auf. Preiselbeertabletten einwerfen. Allein schon deswegen. Aber irgendwie fühlt es sich so an, als ob das diesmal nicht mit so einfachen Mittelchen kurierbar sei. ES NERVT!!! Mich durch den monströsen Tablettenberg kämpfen, den ich mir allein für die Morgenstunden bereit gelegt habe: Osteoporoseschutz (oder sollte man in meinem Falle eher von Schadensbegrenzung sprechen?), Magenschutz, Eisenpräparat, zwei Preiselbeerpresslinge und eine hübsche Blutverdünnung in Spritzenform. Lauter Sachen, die nüchtern und als einziges im Magen landen sollten. Sehr witzig und organisatorisch unmachbar. Was noch folgt sind 60mg Kortison und das war erst der Anfang. Ich hasse Wochenende und mir graut schon vor diesem unendlich langen Tag. Gut, der Anfang, abgesehen von der nicht eingeplanten Nachtschicht, ist durchstrukturiert. Richtung Fürstenfeld laufen, mich von Sebastian unterwegs einsammeln lassen, Frühstück in unsrem Lieblingscafe, im Ethnoladen Henna und Räucherstäbchen plündern und dann wohl wieder Leinwände kaufen. Und was kommt dann? Vielleicht noch ein Bild? Oder mich einfach scheiße fühlen, weil ich Geld ausgegeben habe.

Eine Stunde um und die Langeweile klopft an. Mit allmählichem Befüllen der Blase legt sich der Schmerzreiz um dann beim wieder entleeren um so doller zuzuschlagen, worauf ich mich bereits jetzt schon freue. Ich sollte noch nicht wach sein, sollte noch schlafen, lange schlafen. Stattdessen hocke ich hier startklar in Laufmontur und wippe stumpfsinnig und doch auch irgendwie beschwichtigend vor und zurück. Und schon ist die Kanne leer, jetzt bleibt mir nicht mal mehr Teetrinken. Fruchtfliegen jagen? Eine undankbare Beschäftigung. Kann nur noch darauf hoffen, dass Sebastian seine Drohung von gestern wahr macht und um 6 aufsteht.
Vormittag
Habe mich tausende Tode sterben lassen. Darf ich nun ein Stück leben? Der Lauf war „erträglich“ und die Lähmung im linken Bein trat erst nach 6km in Erscheinung. Und das, obwohl ich die gesamte Strecke von 6,7km ohne jegliche Pause durchgerannt bin, inkl. Bergabstrecken, die das Problem grundsätzlich gleich nach 100m auslösten. Also darf ich am Montag bei meinem Kontrollanruf im Krankenhaus angeben, dass die nachträgliche Kortisongabe eine Wirkung zeigt und KEINE weitere Stoßtherapie von Nöten ist? Ich bin erstaunlich gut gelaunt und fühle mich noch sehr unsicher in dieser Befindlichkeit. Mit neuer Kanne Tee und Henna im Haar auf das weitere Verstreichen der Zeit warten.


10. Februar, Sonntagvormittag
Und die Zeit kroch nur so vor sich hin. Irgendwann tat ich das, was ich für gewöhnlich meide: Mich über meinen Dachschaden informieren. Ich schnappte mir den dicken MS-Ratgeber, der mir mit all dem Informationsmaterial zu meinem neuen Impfstoff geschenkt wurde, und begann zu lesen. Teils kopfschüttelnd, teils erstaunt. WIEVIELE Kämpfe musste ich ausfechten, WIE OFT wurde ich nicht ernst genommen. Und nun wird so getan, als sei all das schon längst klar gewesen? Ich war mir nicht sicher ob ich lachen oder mich ärgern soll. Eigentlich war da wieder nur Verbitterung, aber was hilft das schon? Den Tag auf dem Sofa verbringen, bei beschissenem Fernsehprogramm und es nicht ertragen können, aber zu schwach, um eine Änderung des Zustandes herbei zu führen. Wie jämmerlich. Und ich ließ mich in den Sog des Buches hineinziehen, sodass ich mich beim Abendessen erneut fragte, ob es denn schlimm sei, wenn dies meine letzte Mahlzeit wäre. „Eine Plaques im Atemzentrum führt zum Tod“. Da war er wieder. Trotz allem wurde mir endlich eine Nacht geschenkt, die ich beinahe durchgängig schlafend verbringen durfte. Doch heute Morgen im Bett hatte ich wieder das Gefühl, dass der Tag schon jetzt im Voraus sinnlos erscheint. Der Lauf war wunderbar, das Kortison scheint ganze Arbeit zu leisten. Eine massive Steigerung in Geschwindigkeit und auch Streckenlänge. Und KEINE Lähmung, auch nach 7,5km nicht. Und als ich Richtung aufgehende Sonne rannte, die einsame Hauptstraße durch Jennersdorf hindurch und ein Windstoß eiskalt mein Gesicht streifte, fühlte ich so etwas wie Leben und doch zugleich die Gewissheit, dass es nicht schlimm wäre, jetzt zu gehen.  Und nun frisst sie mich wieder auf, die Zeit, und mein Körper ist nach dem kraftvollen Lauf komplett ausgelaugt und meine Beine schwach. Was, wenn alles gesagt ist?

 

(Spaziergang durch den Erlenwald. Sebastians Versuch, mich aus dem festgefressenen Zustand zu reißen und mein Kampf um jeden beschissenen Schritt)


11. Februar, Montagmorgen
Den Tag mit dem ausfüllenden Gefühl verbringen, deplaziert zu sein. Weder gut, noch schlecht, wieder einfach Nichts. Leer und sinnlos. Dann heute Morgen mehrere Anläufe, um in der Neuro endlich durchzukommen. Die Versuche verunsichern mich zusehends und als ich endlich meine Ärztin am andren Ende erreicht habe, fühle ich mich unwahrscheinlich lästig. Und das, obwohl ich ja nicht freiwillig anrufe, sondern angehalten wurde Rückmeldung zu geben. Lästig und aufdringlich. Und irgendwie egal. Gestern Nachmittag entstand bereits so ein beschissenes Gefühl, als ich meine Krankenakten durchforstete um diese unter Einbeziehung des soeben gelesenen zu entschlüsseln. Das Bild, das da von mir entstand, war: Eine lästige Patientin, die sich alles nur einbildet, selbst wenn die MRTs im Nachhinein immer das Gegenteil bestätigten und vor allem LÄSTIG (das scheint DAS Schlagwort des Tages zu werden). Und immer dieses „Sie hätte“ und „Sie würde“. Diese permanente Fallsform zeugt irgendwie von Misstrauen, als würde ich lügen und als dürfte man meinen Worten keinen all zu großen Glauben schenken. Arztjargon? Danke.
Ein armseliges Bild, eigentlich schon jämmerlich. Und je mehr Befunde ich durchlas, desto mehr hatte ich das Gefühl, ÜBERHAUPT nicht verstanden zu werden, geschweige denn ernst genommen zu werden. In mich sinken und mich selbst der dumpfen Stille zum Fraß vorwerfen. „Du bist hässlich, fett und aufdringlich!!!“. Mit mir kämpfen. Darum, die Arme komplett verheilen zu lassen um von neuem beginnen zu können. Wieder tabula rasa. Wieder eine neue Runde in diesem beschissenen Kreislauf, den ich so sehr liebe und anscheinend auch brauche. Ist all der Schmerz in mir so egal? Bin ich so egal? Bin ich es nur wert, dass man sich über all den Schmerz lustig macht?

Immer wieder zusammenzucken bei der Vorstellung mir in die Zunge zu schneiden. Mich mundtot machen. Kampflos aufgeben. Den Schorf von den Armen kratzen um den Prozess zu beschleunigen und mich der Erlösung näher zu bringen. Du bist kein guter Mensch!  Wieder eine neue Klinge? Ich gönne mir ja sonst nichts. Und es bleibt die Frage, wie viele irreparable Schäden mittlerweile auf das Konto des „Du kannst ja nicht schon wieder anrufen und lästig sein, sitz es aus!“ gehen. Der Spaziergang gestern Nachmittag gab dieser Frage nur noch mehr Berechtigung. Alles kaputt. Aber will ich es denn anders? Will ich es hergeben? Den Grund verlieren, der mich darin bestätigt, dass es legitim ist zu gehen? Lebe nur noch für den einen Gedanken, für den Plan. Und mich scheiße fühlen, weil ich zu offen bin, zu viel von mir preis gebe, zu viel von meiner Umwelt fordere. Wahrlich, du bist schlecht! Es ist nicht recht. Das Chaos in meinem Kopf in chaotischen Sätzen auskotzen wie Gift. Dreckschleuder!
Abend
Warum nicht auch mal die schönen Seiten dieses beschissenen Dachschadens erwähnen? Nach Jennersdorf laufen, lautete der Plan. Mein Körper zitterte davor schon wie wild. Ich kam auch nicht weit, vielleicht 1,8km bis ich mir in die Hose gemacht hatte. Die Welt, die Krankheit, all die Häuser am Straßenrand verfluchend, schlich ich mich am einzig abgelegenen Fleck in den Wald, den steilen Hang hoch um an unzähligen Brombeeren hängen zu bleiben. Und nun? Schadensbegrenzung irgendwo oben am Hügel hinter einem Holzhaufen. Nach Hause laufen um rechtzeitig vor 4 dort anzukommen, damit ich Sebastian noch anrufen kann um Bescheid zu sagen, dass ich zu Hause bin. Ich rannte. Schneller, immer schneller. Mein linkes Bein wurde zusehends gelähmter und die Schritte unkoordinierter. 300 Meter vor unsrem Haus und 5 vor 4 machte ich mir nochmals in die Hose. Die Abkürzung über die Wiese glich einer Katastrophe, das Bein war nicht mehr hebbar. Ich kroch förmlich Richtung Haus und schaffte es so noch gerade rechtzeitig vor Schluss in der Firma anzurufen. Sofort duschen! Beim Blick nach unten erschrak ich erst, ehe ich in ein lachendes und krampfhaftes Weinen verfiel. Ich hatte es nicht bemerkt. Alles mit Blut voll gespritzt, sogar die Schuhe und die Kniebandage war getränkt mit Blut. Ich kann nicht mehr…


12. Februar, Dienstagvormittag
Kam nicht aus dem Bett. Fühle mich zu schwach für den Tag. Zu schwach für die zu erfüllenden Aufgaben. Zu schwach für das Bild. Will nur noch sterben.

Abend
Meine Mutter anrufen, nachdem sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Während des Telefonats in Sprachlosigkeit versinken. Davor schien alles normal. Ich machte zwar meine Späßchen, aber eigentlich ist mir nur nach Heulen zumute. Ich fühle mich schlecht. Liegt es daran, dass ich mich satt gegessen habe und es unter den wieder eingetretenen Zuständen als unerträglich empfinde? Und wieder bin ich mit dem Bild nicht zufrieden.
Ich sehe erneut den Tod und wieder ist es nicht meiner. Scheiß Verlustsängste. Mich mit schwerer Musik noch weiter runter ziehen. Runter, tiefer, näher an den Verletzungsgedanken. Oder mir doch das Leben aus dem Leib kotzen. Die Tage vor der erneuten Kortisontherapie hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht dick zu sein. Mein Selbstbild war erträglich. Doch nun ist es zerschlagen. Blutige Scherben, mehr nicht. Und ich HASSE mich! FETTES DRECKSSTÜCK!!! Mich zu beschimpfen ist leichter zu ertragen als diese Trauer. Hass lebt, die Trauer hingegen ist tot. Nach außen hin wieder ein Bild abgeben, das nicht meinem Innenleben entspricht. Und ich beginne wieder all die „Wieder“ zu zählen und bin angewidert von mir selbst. Ich fühle mich schlecht, weil ich Lebenszeit verstreichen lasse. Kostbare Zeit wird vergeudet. Was, wenn wirklich etwas passiert? Hin- und hergerissen zwischen Funktionieren und dem Versinken in meinem schwarzen Seelenloch. Geh!!! Geh endlich!!! Vielleicht tut es allen andren ganz kurz weh, aber dann ist es vorbei. Warum soll ich noch länger die Qualen aller tragen? Still und alleine? Warum muss ich diese Bürde tragen? Was habe ich getan? WAS? Mein Leben besteht nur aus Angst. Und nun auch noch aus weiteren Scherben, die mit jedem Jahr mehr werden.


13. Februar, Mittwochvormittag
Eine Nacht voller Alpträume, Panikattacken, Realitätsverlust und absurderweise immer wieder das Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Mich durch einen Berg von Tabletten kämpfen, die letzte Urbason in einer Dosishöhe von 20mg runterwürgen. „Sag tschüss zum Kortison!“. Nach all den Schweißausbrüchen gestern ist auch mein Gewicht wieder etwas runter. Eigentlich sollte mir die Routine allmählich Sicherheit geben. Aber sie tut es nicht. Es kann keine Routine geben wenn ich mir einfach nichts merken kann. Ich brauche eine Ablaufsliste, detailliert jeden Tag dokumentiert und diese hänge ich mir dann im Bad auf, vor den Spiegel. Aber habe ich mir das nicht auch schon jedes Mal vorgenommen? Das Ausschleichen der Dosis macht sich in unkontrollierten Zuckungen bemerkbar, der Eiweißshake landete elegant in meinem Gesicht. Mein Körper zittert. Ich weiß zudem wieder nichts mit mir anzufangen, geschweige denn was ich fühlen soll und welchem Gedanken ich vertrauen kann. Tee trinken und abwarten. Wer hätte das gedacht. Ich weiß auch nicht, was mich im Moment von weiteren Verletzungen abhält. Die Hoffnung, dass sich nun endlich etwas ändert? Dass mein Leben eine Struktur bekommt? Zuviel Hoffnung in den Termin am Montag? Oder das Kortison? Hej, meine Arme sehen richtig schick aus, so weiß und lila gestreift, der Sommer kann kommen. Ich denke bei warmen Temperaturen nicht mehr an kurze Ärmel und nackte Haut. Der einzige Gedanke der mich bewegt ist, dass ich noch bevor es warm wird einen weiteren dünnen und vor allem langärmligen Laufpulli auftreiben muss. Und man sollte sich fragen, was kranker ist: Dass meine Haut zerschnitten ist oder dass die Gesellschaft glotzt? Wie dumme Schafe auf der grünen Wiese…
Nachmittag
Panik im Supermarkt. Wieder so unendlich fremd in diesem menschlichen System. Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass mir ein Fehler unterläuft, mir irgendetwas aus der Hand fällt und ich schreiend wegrenne. Der anschließende Lauf stabilisierte mich wieder etwas, sodass ich Sebastian gut gelaunt empfangen konnte. Doch nun? Die Zeit hat erneut begonnen mich aufzufressen. Die erste Sendung stand ich noch durch. Während der zweiten begann meine Hand zu zittern, ich zeichnete mit dem Zeigefinger unentwegt Quadrate auf die Decke. Es hätte nicht sein müssen, nicht deswegen. Denn selbst die Verletzung erscheint nur befremdlich. Doch ich tue, was ich immer tue. Was bleibt mir sonst? Ich muss mich ernsthaft damit auseinandersetzen, was sich an meiner Situation ändern kann, wenn ich nachmittags doch wieder nur in meinem eigenen Körper wie gefangen bin und eigentlich keine Optionen offen bleiben. Nachdenken über Auswege. Doch alles bleibt starr und festgefahren, Körper und Geist wie paralysiert. Und jetzt, da die erneute Katastrophe schon mal losgetreten ist, lasse ich die Lawine Lawine sein. Warum? Es frisst Zeit, die sonst mich fressen würde…

Die Krankenkasse will wissen, warum sie weiterhin einen Zuschuss zur Psychotherapie gewähren soll. Soll ich den beschissenen Fragebogen in meinem Blut tränken? Ich ertrage es nicht einfach nur da zu sein, um da zu sein. Der Himmel ist strahlend blau, die Vögel erfüllen die Stille mit ihrem Gesang und ich weiß nicht mal warum ich mich zum zweiten Mal aufschlitze. Die Klinge ist wertlos. Würde mich jemand vermissen? Würde irgendjemand nach mir fragen? Was für einen gravierenden Unterschied macht es ob man lebt oder tot ist? Welchen in meinem Falle? Die Rehe toben durch den Wald, oben auf dem Hügel und die sich senkende Sonne scheint mir auf den schwarzen, ausgeleierten Pulli. Ist da Leben? Ich kann nichts fühlen. Lediglich der Geruch meines Blutes wirkt besänftigend auf mein Gemüt. Darauf warten, dass die Sonne versinkt, der Tag im Dunkeln in die Verlängerung geht um dann endlich sein Ende zu finden.
Abend
Wie schnell doch alles wieder in geordneten Bahnen verlaufen kann. Ist es traurig, dass es sich um meine Definition von „geordnet“ handelt? Schmierölgeruch einer neuen, unendlich scharfen Klinge klebt an meinen Fingern. Ich konnte es nicht ertragen, als das Blut beim Duschen meinen Arm hinab lief, nicht, dass die Wunden verblassen könnten. Zurück in meinem Spiel, gefangen in diesem Körper, geknebelt von betäubender Stille. Es tut so weh, dass die Schnitte wieder nur Kratzern gleichkommen und dem kostbaren Werkzeug nicht gerecht werden. 3 Mal. 4 Mal. Es reicht nicht. Ich sollte herausfinden, was mir vor dem Akt durch den Kopf geht. Nichts? Denn es ist egal weil ich egal bin. Zittern und verschluckte Tränen. Atemlosigkeit, angepeitscht durch den brennenden Schmerz und der bittere Nachgeschmack des Versagens. Und nun? Glotze anschmeißen und versuchen, mich mit den wenigen Schmerzreizen am Arm zufrieden zu geben? Versager!!! Ich glaube, ich kann das nicht… Will es nicht können…

Und Sebastian hatte am Abend eine Schachtel Pralineherzen für mich mitgebracht: „Damit du nicht immer so hilflos bei der Werbung dahinschmachten musst!“. Da ist er wieder, der Tod und die Angst vor dem Verlust. Los! Tu es!

5 Mal. Der linke Unterarm zur Hälfte zerschnitten. Ein starkes Brennen. „Kannst du dich jetzt endlich spüren???“. Langsam verhärtet sich der Verdacht, dass sich eine Parästhesie entwickelt hat. Umso besser, denn umso massiver ist der Schmerz. „Wie ein Verbrecher…“. Zitternd auf meine Erlösung warten…


14. Februar, Donnerstag 8 Uhr
Bin schon viel zu lange wach, will aber noch nicht wach sein. Ist es die Angst davor, dass mich die nächsten Stunden wieder verschlucken könnten? Die Befürchtung wird beim Anblick der Reste des gestrigen Spektakels zur Erwartung. Bin nicht stark genug für diesen Tag, will es auch nicht sein. Selbst die Dinge des Alltags langsam zu vollführen, reißt auch keine Löcher in die Zeit. Warum kann ich nicht noch schlafen? Warum darf ich nicht? Mein Leben eine Tag für Tag wiederkehrende Beerdigung. Sei es ein Teil meiner Gesundheit, eine Fähigkeit, mich selbst oder all die Menschen, die mir nahe stehen; es gibt immer etwas zu Grabe zu tragen. Die Spuren, die Sebastian hinterlässt wenn er morgens geht, schmerzen. Die Krümel unter dem Tisch ein Mahnmal und ich tagein tagaus im Trauerflor. Was für ein Leben! Der linke Arm ist leicht angeschwollen und die Wunden reißen beim Abziehen des schäbigen Strumpfes wieder auf und bluten. Was ist da? Schweres Atmen? Sehnsucht? „Warum ist es jetzt so schlimm geworden mit dir???“. Warum… Keine Alternativen, kein Ausweg. Die Ressourcen müssen genauestens kalkuliert werden, um irgendwie über den Tag zu kommen. Entweder Laufen oder etwas anderes. Das Angebot schrumpft und die Kombinationsmöglichkeiten machen sich ebenfalls rar. „Typische Tagesschwankungen“; so ein Scheiß! Selbst die große, glänzende „Freiheitsstatue“, das Laufen, bröckelt seit nunmehr einem Jahr. „Es geht zu Ende, wie?“. Im „Freitodaktenordner“ summieren sich allmählich die Anträge, immer klarer werden die Gründe artikuliert, immer eindringlicher und logischer erscheinen diese. Gehen, bevor jemand anders geht. Ein tröstlicher Gedanke. Die Welt vorm Fenster erstarrt unter einem weißen Mantel aus Eiskristallen, hier drinnen künstliches Licht und schwere, traurige Musik. Mein Kerker ist hübsch mit den Vorhängen.

Zwei Stunden noch und schon festgefressen.

Ich beginne mich zu verlieren, mich aufzulösen in befremdliche Einzelteile. Und alles um mich rum zerlegt sich ebenfalls in noch nie erkannte Fragmente. Muss mich erden…

Im Spiegel eine hässliche, alte Fratze. Könnte mir selbst vor lauter Jähzorn ins Gesicht spucken. Letztendlich hatte das ganze nur einen Effekt: Unzufriedenheit. Es reicht nicht. Es reicht nie. Es ist nie massiv und tief genug. Gebe ich erst Ruhe, wenn ich mir bis in die Muskeln schneide? Meine Mutter kommt heute Nachmittag. An diesem Punkt kann ich noch nicht sagen, ob ich bis dahin in der Lage bin zu funktionieren. Zittern und mich selbst ankotzen. Es noch mal versuchen? Versuchen, versuchen, nichts als versuchen!! und Du feige Schlampe!!!
Nachmittag
Alle faseln immer von den bösen Nebenwirkungen des Kortisons. Und was ist mit dem Entzug? Zitternd nach Jennersdorf fahren. Beim Lauf stellt sich erst nach Ewigkeiten so etwas wie Ruhe ein. Und dann wieder das Gefühl, eine Zumutung zu sein, entschuldige mich wieder. Fliegender Abklatsch: Sebastian geht, meine Mutter kommt. Ich bin nicht in der Lage ihr zuzuhören. Und nun kann ich nicht mal sagen, was sie mir alles erzählt hat. Auch das mitunter ein Grund, mich nun schlecht zu fühlen und ins nächste Loch zu fallen. Sebastian kommt um 4. Bis 4 ist noch viel Zeit, zuviel Zeit. Zittern…


15. Februar, Freitagvormittag
Der Tag verlief sich in den folgenden Stunden in Unendlichkeit und ich spürte nur, dass nicht mal Aufschlitzen mich retten würde. Aus Angst, wieder nur zu kurz zu schlafen und vor dem Absaufen in einem viel zu langen Vormittag, entschloss ich mich abends Mirtazapin erneut für meine Zwecke zu nutzen. Diesmal aber in der für mich verschriebenen Dosis von nur 15mg und nach etwa 20 Minuten fiel ich in einen tiefen Schlaf, gegen den es keine Gegenwehr gab. Bis nach 10 hielt er an. Und nun? Massive Zuckungen und das Gefühl, betäubt zu sein. Der Lauf steht erst am Nachmittag an und ich kann nur hoffen, dass sich die Ausartungen meines Körpers bis dahin gelegt haben. Sonst ist da nicht viel in mir. Müdigkeit? Ein ausfüllendes Nichts?

Martha erbricht sich im Flur, nachdem ich sie erst vor 5 Minuten rein gelassen habe, wie immer auf einem der drei Flurteppiche. Danke, jetzt ist mir auch noch schlecht. Und schwindelig. Das Mittel ist wohl ein Symptomverstärker, so wie Fieber. Und ich muss mich ernsthaft fragen, ob so eine kurze Zeit ausreicht, um erneut zu straucheln. Zumindest fühlt es sich nun nach Verstreichen einiger Minuten so an.


16. Februar, Samstagnachmittag
Wo willst du hin?? Mich raus schneiden, aus diesem beschissenen Körper raus schneiden. Nichts geht mehr. Kein Gehen, noch Stehen, denn selbst aufrecht Sitzen fällt ungemein schwer. Und dieser Zustand wird sich nun wie bereits gestern auf den gesamten Tag verteilen und unverändert anhalten. Ich lache zwar, wirke lebendig und denke doch unentwegt daran, dass ich das hier NICHT ertragen will. Wie machen das andere? Bin einfach zu unruhig, innerlich zu stark getrieben, als dass ich es einfach hinnehmen und aussitzen könnte. Der Lauf gestern war eine Katastrophe. Der Lauf heute war zwar etwas besser, aber mit massiveren Folgen. Hier hocken, trinken und essen und nichts tun. Ich ertrage es nicht. Ertrage diese Körpergefühl nicht. Mag sein, dass ich jämmerlich wirke. Aber unter diesen Umständen kann ich einfach nicht. Vielleicht sollte ich mich wirklich raus schneiden. Mir ist nur noch nach Heulen, unterdrücke es wie immer und gebe nur mit spitzen Bemerkungen mein kaputtes Innenleben preis. Es ist keine Trauer, die mir das Wasser in die Augen treibt. Es ist purer Zorn und Hass, die ich kaum noch zu bändigen vermag. „Du musst dich abfinden!“. Ich denke nicht dran. Und irgendwie macht das alles keinen Sinn, kotze mich selbst nur noch an.


18. Februar, Montagvormittag
Während der Hausbau unsrer neuen Nachbarn in die Gänge kommt, frage ich mich, warum ich überhaupt da bin. Alles ist vergänglich, alles geht kaputt, selbst ich. Warum bin ich dann noch hier? Und es macht wahrlich keinen Unterschied, ob ich beschäftigt bin oder in Langeweile und Nutzlosigkeit versinke. Ich war beschäftigt, und dennoch drängte sich mir erneut die Frage auf. Ich werde selbstgerecht und hasse mich dafür. Aber die Entartungen meines Körpers scheinen nichts andres zuzulassen. Selbstmitleid? Warum nicht? Und noch mehr Jähzorn. Ich weiß nicht, wie ich den gestrigen Tag ohne Laufen überstehen konnte. Sebastian gab sich redlich Mühe mich aufzumuntern. Trotz allem fand ich mich irgendwann im Bad wieder und versetzte meinem Arm noch an die zwanzig flache Schnitte. Wertlosigkeit gehört untermauert. Selbstmitleid dort, wo die Kraft zu Kämpfen versiegt. Ich bin ein schlechter Mensch.

Die Musik des Kammerchors „Accentus“ so laut aufdrehen, bis sie mich zu Tränen rührt, mich noch mehr aufwühlt und verwirrt zurücklässt, wenn der letzte Ton verklingt. Die Musik in diesem beinahe ohrenbetäubenden Zustand belassen um den beschissenen Bagger nicht zu hören. Natürlich ist das ein wunderschönes Fleckchen Erde. Aber es wird nicht zwangläufig schöner, wenn alle hier hin ziehen. Unser schöner Graben geht den Bach runter. Woran noch klammern? Die Minuten zählen und daran zweifeln, dass der geplante Lauf heute Nachmittag „entspannend“ wird.
Abend
Den Hausbau weiter verurteilen. Doch als ich dann unsre Einfahrt runtergehe und mir Resi, die alte Mutter der zukünftigen Hausbesitzerin, freundlich lächelnd zugrüßt, fühle ich mich scheiße. Es folgt der Lauf bei Frühlingstemperaturen. Starker Schwindel, Schlagseite und Torkeln. Es fühlt sich so an, als würde ich neben mir her laufen. Nichtsdestotrotz schaffe ich 6km. Bin gut gelaunt, doch habe keine Lust mehr diesen Zustand weiterhin aufrecht zu erhalten. Die Wertlosigkeit schleicht sich soeben wieder ein und ich ertrage es nicht länger, tatenlos vor der Glotze zu hocken.

Mit dem brennenden Schmerz unterm langen Ärmel fühle ich mich gleich viel wohler. Wertlos, wortlos. Gib es auf!…


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