8. Januar 2008, Freitagvormittag
Wieder eine Erkältung eingefangen. Zum Kotzen. Und wieder rotiert es
in meinem Kopf und die Angst, damit den nächsten Schub loszutreten,
ist nach all den Erfahrungen die ich machen „durfte“, mehr als
berechtigt. Sebastian kommt heute viel später nach Hause, da er direkt
nach der Arbeit wieder nach Slowenien fährt. Viel Zeit für Unsinn.
Eigentlich wollte ich dem vorbeugen. Eine der Schranktüren in der
Küche müsste auseinander- und wieder zusammengebaut werden. Doch ich
finde den Bohrer nicht und mit dem Schraubenzieher bekomme ich die
Schrauben einfach nicht gelöst. Doppeltes Fiasko: Erstens der Frust,
es nicht machen zu können und zweitens die Unordnung, die sich unter
diesen Umständen nicht beseitigen lässt und die Unruhe in mir nur noch
anpeitscht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich einen
lauffreien Tag einfach nicht ertrage.
„Das Leben ist der kostbarste Schatz den wir besitzen!“. Ich beginne
daran zu zweifeln. Was macht mein Leben aus? Erinnerungen, die wehtun.
Erinnerungen, die verblasst sind, gelöscht wenn man so will, und mich
mit dem Gefühl zurücklassen, keinen Hintergrund zu haben. Neuigkeiten,
die wie Erinnerungen erscheinen und keinen Tag mehr spannend machen.
Ich sehe nicht die Dinge, die ich noch machen will. Habe keine Ziele,
noch Pläne. Bin einfach da, wie eine überflüssige Randerscheinung. Es
gibt keine Annehmlichkeiten im Leben, zumindest scheint es so. Der
Blick auf die schönen Dinge ist getrübt von all den Situationen, die
ich bereits hinter mich gebracht habe. Und ich weiß zu gut, dass es
genau so weiter gehen wird. Ich zähle nicht in angenehmen Dingen, ich
sehe mein Leben als eine Summe aus Beerdigungen,
Falten, Gebrechen, Kilos,
Erkältungen, Krankenhausbesuchen, Krankenhausaufenthalten, Schüben,
Kortisontherapien, Chemotherapien, Zahnarztbesuchen, Zusammenbrüchen
und wieder Aufrappeln. Und ich sehe in der Zukunft nicht mehr als die
Erhöhung der Summe und dann fragt man mich, warum ich keinen Sinn in
meinem Leben sehe? Bin
einfach da. Warum? Wir besprachen mein vorletztes Bild. „Der Vogel
dahinter… das hat was von Auferstehung, auch wenn unten absolut der
Tod ist.“, und sie lächelte mich hoffnungsvoll an. Was aber, wenn es
nicht das Symbol für Auferstehung und einen Neubeginn ist sondern die
endlich vom Leben befreite Seele?
Nachmittag
Nun ist wenigstens auf meinem
Körper ein Gleichgewicht eingekehrt und beide Arme sozusagen
symmetrisch. Meine Mutter rief an, hinterließ wieder einen dieser
gepressten Sprüche auf dem AB. Ich rief zurück, sie wiederholte den
Satz und ich machte ihr klar, dass sie das lassen soll und dass ich
das einfach nicht ertrage. „Mir ist ohnehin nicht nach lachen…“. Ihre
alte Nachbarin ist verstorben. Ich hatte es bereits vorausgeahnt,
hatte sogar davon geträumt. Sie redete wieder wie ein alles
überflutender Wassersturz über Dinge, die in so einer Situation
überflüssig sind. Einfach nur, um ihr Weinen zu unterdrücken. Was
sollte ich sagen? Ihr Tonfall beinahe vorwurfsvoll. „Ich weiß, dass
das schlimm für dich ist, aber ich kann nichts dran ändern…“ und ein
hilfloses „Was soll ich machen?“. Sie begann zu weinen und legte auf.
Nun hatte ich endlich meinen Grund. Mir kamen die Tränen, doch nicht
weil die alte Frau tot ist, sondern weil meine Mutter weinte und auch
weil sie mich mit einer gewissen Restschuld am andern Ende der
Telefonleitung zurückließ. Um mir ein besseres Gefühl zu geben, werde
ich heute Abend nochmals anrufen.
Über die frischen Schnitte kratzend hing ich über dem Blutbesudelten
Waschbecken. An der Menge der Blessuren ist der seelische Druck wie an
einer Messuhr ablesbar. Links mehr Wunden als rechts. Die Sonne kommt
hinter den Wolken hervor, im Schlepptau strahlendes Blau. Raus gehen
und vor mir selbst wegrennen?
19. Januar, Samstagabend
Ich habe mich geschnitten,
immer und immer wieder. Beim vierten Mal langsam, um jeden
Schmerzimpuls zu fühlen und um zu sehen, wie tief es geht. Doch die
Wunden schlossen sich wieder, obwohl sie erst auseinanderklafften.
Also 5 Mal insgesamt und dann noch zweimal gekotzt. Glanzleistung.
Nachts war ich schon nicht mehr in der Lage vernünftig das Fernsehbild
zu erkennen. Und dann heute Morgen? Als ich die Augen aufschlug
baumelten zwei Lampen über mir an der Decke. Was für eine
überdimensionale Kacke!! Denn eigentlich hängt dort nur eine. Und als
ich aufstand war da eine Schwäche, diesmal in der rechten
Körperhälfte. Von den Warnschüssen meiner Krankheit in Form von paroxysmalen Symptomen rein in ein waschechtes Schubsymtpom, wie? Ich
HASSE ES!!! Und warum kommt so was eigentlich IMMER direkt vorm
Wochenende? Und warum belächelt man mich, wenn ich sage, dass man mich
bloß nicht anstecken soll? Meine Lebensanalyse bekommt noch mehr
Schlagseiten und Gründe, mich gegen dieses zu entscheiden. Ich HASSE
diesen Zustand, in dem nichts passiert und an dem ich nichts ändern
kann. Ich hasse MICH und meinen beschissenen fetten, hässlichen
Körper. Den gesamten Tag entweder auf den Boden starren oder
verzweifelt ein Auge zukneifen. Zu schwach, irgendetwas in Angriff zu
nehmen. Zu unruhig um einfach nur auszuharren der Dinge, die da kommen
mögen. Beten, dass es aufhört. Zu was oder wem? Als ob die Wochenenden
nicht so schon unerträglich und öde genug wären. Was tun? Meine Mutter
rief an und fragte, ob ich meine Patennichte schminken würde für den
Kinderfaschingsball. Auf meine Aussage, dass ich seit heute Morgen
Doppelbilder hätte, riss sie einen dämlichen Witz: „Dann schminkst du
mich eben auch gleich in einem Abwasch mit!“. Ist das witzig? Reicht
es denn nicht schon dass ich mich ständig über mich selbst lustig
mache, obwohl mir in all den Situationen GAR NICHT nach lachen ist? Wer
gibt allen andern das Recht einfach mitzumachen? Mit NULL Ahnung im
Gepäck? Diese sarkastischen Bemerkungen enden jetzt! SCHLUSS! Da
gibt’s nichts zu lachen. Das ist zum HEULEN! Und da die Maske kaputt
ist, habe ich auch nicht vor sie wieder zusammenleimen und mir
behelfsmäßig aufs Gesicht zu tackern. Allmählich sollte auch in meinem
näheren Umfeld angekommen sein, dass mir schon seit langem nicht mehr
nach Spaßen zumute ist. Selbstmitleid oder nicht, letztendlich ist es
genau das, was von mir immer und immer wieder in der Therapie
gefordert wird: Mir selbst und meinen Problemen Respekt zollen.
20. Januar, Sonntagnachmittag
Die „Aussicht“ ist heute noch
trüber als gestern. Wenn ich mal nicht ein Auge zukneife packt mich
nun auch noch der Drehschwindel und mir wird schlecht. „Wenn du
glaubst es geht nichts mehr, kommt von irgendwo NOCH eine Ohrfeige
her!“. Ich hätte das Faschingsangebot gestern in den Läden nutzen und
mir eine Augenklappe kaufen sollen. Nichtsdestotrotz, meine Nichte hab
ich in ein Schneehäschen verwandelt, obwohl das mit „Doppelbildmodus“
gar nicht so einfach war. Vorm Frühstück versuchte ich einen kleinen,
schonenden Lauf. Es wäre eine Schande gewesen, die
Frühlingstemperaturen nicht zu nutzen. So trippelte ich vor mich hin,
die Hose ständig am Hochziehen und abwechselnd das eine und dann das
andere Auge zukneifend. Torkelnd, in Schlangenlinien, unsicher und
doch erstaunlich kraftvoll. So fällt wenigstens die Angst vor der
gestrigen Schwäche im rechten Bein weg. Sebastian hat es nun auch
erwischt und während er drinnen auf dem Sofa kränklich vor sich
hindöst, sitz ich vorm Haus auf der Terrassentreppe und halte meine
bloßen Füße in die warme Sonne. Von drinnen schallt gedämpft der
Wintersportkommentator durch die offene Tür und berichtet von diversen
Wettbewerben im Schnee, dabei hat es hier im Schatten 16° C und direkt
in der Sonne komme ich aus dem Schwitzen nicht mehr raus. Der
Entnervungsgrad steigt explosionsartig als unten im Erlenwald ein
Auto stehen bleibt, ein Mann aussteigt und die Wiese hinter unsrem
Elektrozaun hochgeht. Nun rennt er schon seit einer Ewigkeit oben im
Wald links über dem Haus rum und ich fühle mich in meiner Privatsphäre
sehr beschnitten. Endlich, er verpisst sich und ich darf nur noch dem
Klang von Meisen, Mäusebussard, tratschenden „Wochenendnordicwalkerinnen“
und zeternden Eichhörnchen lauschen.
Also, wie ist der Plan? Morgen in Oberwart anrufen? Irgendwie taucht
in mir das Gefühl auf, ich würde mittlerweile nerven. Als ob ich sie
ständig um unentgeltliche Gefallen bitten würde. Aber tue ich das denn
nicht, wenn ich telefonisch um Rat bitte? Und was ist am
wahrscheinlichsten? Neues MRT und dann weitersehen? Oder nur abwarten?
Mit ein Grund Wochenenden zu hassen. Viel zu viel Zeit um
nachzudenken, anstatt prompt zu handeln. Zu viel Zeit um mich zu
verunsichern. Ich habe Angst davor, dass ich erneut den Stempel
„Psychischer Auslöser“ und „ In diesem Fall unbehandelbar!“
aufgedrückt bekomme, wenn ich die Überdosis von vor einer Woche
erwähne. Nichts aus der Luft Gegriffenes, alles schon da gewesen. Und
ich habe Angst mit dem Scheiß im Stich gelassen zu werden.
21. Januar, Montagvormittag
Allein schon die Stimme meiner
Neurologin zu hören, beruhigt und gibt das Gefühl, etwas kommt in die
Gänge. Sie wusste sofort dass es meine dritte Überdosis war. Ob sie
die Akte so rasch vorliegen hatte oder hat sie sich das tatsächlich
gemerkt? Erkältung UND Überdosis; kein Wunder, dass mein Körper
abdreht. Ich solle zuwarten und erst Mal die Erkältung auskurieren.
„Und wie lange soll ich warten bis ich wieder anrufen darf um sie zu
nerven?“. Sie musste lachen. „Bei einem Entzündungsprozess im Körper
kann es vorkommen, dass alte Herde aufflammen und alte Beschwerden
kurzfristig wieder auftreten. Das wissen sie ja schon.“. Klar, sonst
würde ich nicht so einen Terz machen, wenn man es drauf anlegt mich
anzustecken. „Legen sie sich hin, tun sie sich was Gutes, kurieren sie
die Erkältung aus und lesen im Bett zum Beispiel ein Buch.“. Ich gab
ein abschätziges „HA HA“ von mir woraufhin sie sich der Unsinnigkeit
ihrer Worte bewusst wurde und lachen musste. Mir was Gutes tun; das
bekomme ich jede Woche in der Therapie zu hören. Aber ich kann nicht.
So schlüpfte ich in meine Laufsachen und ging vors Haus, um zu dehnen.
Da stand das Auto und ich war etwas verwirrt. Nach über 2km beendete
ich den Morgensport, um mich nicht wirklich zu überanstrengen. Zudem
war es ohnehin nicht witzig, schon gar nicht als mir die Müllabfuhr
auf der schmalen Straße entgegendonnerte und ich mehr taumelte als
lief. Wieder zu Hause fühlte ich mich schlagartig wieder krank. Ich
rief Sebastian an: „Sag mal, wie kommst du eigentlich nach Hause?“.
„Kannst du nicht fahren?“. Schön, wie „mann“ mir zuhört bzw. wie „mann“
mich ernst nimmt. Es ist nicht die Angst um mich, sondern eher ums
Auto oder dass ich einem andren schaden könnte. Die komplette
Tagesordnung wird über den Haufen geworfen, Sebastian bleibt zu Mittag
drin, der Tag allein wird noch länger. Viel Zeit um meinen eventuell
eintretenden Selbsthass auszuleben. Sollte es doch ein Feiertag sein:
Ich bekomme heute eine neue Nähmaschine. Obwohl, unter diesen
Umständen, macht sie das Leben auch nicht bunter. Gestern fragte ich
schon total frustriert und beinahe provozierend: „Warum ist es denn
nicht gleich zappenduster geworden? NA???!!“. Was bleibt? Musik hören.
Nachmittag
Und was bleibt noch? Dem Telefon
beim Klingeln zusehen und irgendwann den Zustand des auf dem Sofa
Liegens nicht länger ertragen und nach draußen auf die Terrasse
flüchten. Mit den letzten Kräften den kleinen Tisch und einen Stuhl
aus der Autoscheune nach vorne schleppen. Mit Tee und Notebook
erschöpft die Sitzgelegenheit nutzen und abkotzen, weil die Sonne so
grell ist, dass am Bildschirm nichts zu erkennen ist. So viel ist zu
tun, so viele Mails im Posteingang, so viele Wochen zwischen jetzt und
dem letzten Besuch bei meiner Nachbarin. Gesellschaftliche Zwänge,
mehr nicht. Ich kann einfach nicht, depressive Festgefressenheit. Es
ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, warum ich mich komplett
zurückziehe und warum ich nicht mehr ans Telefon gehen kann. Irgendwie
ist mir alles egal und andrerseits fühle ich sehr viel Schuld. Lasst
mich in Ruhe!!! Einerseits ist es schön hier in der Sonne zu sitzen,
andrerseits will ich aber nicht, dass etwas schön oder angenehm für
mich ist. Das Gefühl, es nicht verdient zu haben, steht im
Vordergrund. Wo will ich hin bzw. will ich überhaupt etwas? Ein
ignorierter Anruf und ich fühle mich scheiße. Einmal nicht ran gehen
und die Ruhe und die mickrigen Happen Ausgeglichenheit sind
Vergangenheit. Die Klinge und den Verband holen, wieder hier rumhocken
und auf ein Wunder warten. Doch es gibt keine Wunder und das Warten
beschränkt sich auf das Eintreten des Moments, wenn mich die Sehnsucht
und auch die Gier nach Schmerz übermannen. Ein Eichelhäher schlägt
Alarm denn der Mäusebussard dreht seine Runden über unsrem kahlen
Wäldchen. „Und psychisch geht’s ihnen wahrscheinlich auch nicht gut,
oder?“. Es kann mir nicht gut gehen denn ich will nicht dass es mir
gut geht. Sei es die Angst nicht gewappnet zu sein, wenn etwas
passiert oder die Befürchtung mich wieder zu verlieren in einem
zerrissenen Zustand der mir den Blick auf mein wahres Ich unmöglich
macht. Aber eigentlich habe ich dafür keine plausible Erklärung.
„Indoktrinierte Mechanismen.“. Wer weiß. Bzw. wen interessiert es?
Sonnenschein, Glockengeläut und ich allein mit noch einer scharfen
Kante an meiner Klinge.
Ich weiß nicht worauf ich warte. Hör auf zu warten!
Mein Gesicht spiegelt sich in der
Oberfläche des Bildschirms wieder. Du bist so unendlich hässlich!
„Ei, was ist bloß mit unserem Tierchen los? Es hat doch alles: Einen
goldenen Käfig, genug zu fressen und zu trinken, zwischen den
Gitterstäben kann es nach draußen sehen. Fliegen? Für was? Es hat doch
so eine nette Stange, da kann es bequem drauf sitzen. Es hat doch
ALLES. Warum nur rupft es sich die Federn aus?“. Während die Frau
gegenüber auf der andren Hügelkette mit einer albern klingenden hohen
Stimme mit ihrem Kind spricht, gehe ich vom Schneiden zum Hacken über.
Die Haut über den Pulsadern ist so dünn, doch ich schaffe es nicht.
Und während sie sich laut quakend mit ihrem Vater zu unterhalten
scheint, nehme ich es in Kauf beim dritten Mal ansetzen einem
„Missgeschick“ zum Opfer zu fallen. Aber nichts! GARNICHTS! Und der
Frust steigt während die fragilen und doch leicht auseinander
klaffenden Schnitte sich erneut schließen und sich auch mit Gewalt
nicht mehr auseinander reißen lassen. Gescheitert, wie immer.
Für alles zu blöd, wie?!
22. Januar, Dienstagvormittag
Sebastian rutschte nachts im
Bett zu nah an mich ran und im Endeffekt lag ich wieder mit
aufgerissenen Augen und schweißgebadet auf der Kante meiner Bettseite.
Als ich aufstand und ins Bad floh, schien nur noch aufschlitzen zu
helfen. Ich ließ es sein, und dieser Kommandoabbruch hängt mir nun
noch nach. Die Aussicht ist immer noch nicht besser und ich werde
gleich nach draußen gehen um nachzusehen, ob das Auto da ist oder
nicht. Wenn ja, habe ich ja noch Zeit einen neuen Versuch zu starten.
Ich sollte eigentlich für die Therapiestunde morgen eine Liste
aufsetzen mit Dingen, die ich nicht mehr machen kann. Vielleicht
sollte ganz oben als erster und zugleich letzter Eintrag stehen: Ich
kann die Liste nicht schreiben. Auch dieser Tag beginnt wie jeder
andere unter der Woche: Zähneputzen, Eiweißshake, Medikamente,
Injektion und dann Tee. Dazwischen das Wohnzimmer auf Vordermann
bringen, das Bett machen und andre Kleinigkeiten, über die ich
stolpere. Man könnte eigentlich die Uhr nach mir stellen, so sicher
ist es dass ich das tue, was ich immer tue. Langweilig.
Das Auto ist da, der Himmel grau und ich allein mit mir selbst. Die
Wunden sahen gestern noch so schön aus, waren dunkelviolett
unterlaufen, der ganze Arm war angeschwollen. Man beginnt das
eigentlich essentiellste zu hassen: Die Selbstheilung. In meinem
kranken Hirn kommt es als fieser Schachzug meines Körpers an. Wer weiß,
wie lange das Spiel noch dauert, ich weiß nur, der erste Zug ist
Ewigkeiten her. Kampf oder Spiel mit blutigem Ernst, egal. Die
Bluttropfen auf den Steinen unter meiner Hand glänzten im
Sonnenuntergang. Ich wusste wieder, dass es richtig war und all die
Zweifel und das Zögern tropften aus den ersten 10 Schnitten. Danach
gab es nur noch ein Ziel: Tiefer, viel tiefer! Bin ich besessen? Eines
steht zumindest fest: Ich sehe keinen Sinn, denn ich habe keinen Sinn.
Und es macht mir Spaß mich schon morgens nach dem Aufstehen runter zu
ziehen, denn dort unten ist nur das blanke Überleben Lebensaufgabe
genug.
Wieder eine unvorhersehbare Zuckung
und der Tee landet auf Tisch und Hose. Und plötzlich wird mir klar,
was Sebastian alles erdulden und tolerieren muss. Wäre es andersrum,
würde ich es können? Nein. Ich bin eine Zumutung!!!!
Nachmittag
Die Sonne kam raus und ich saß
kurz neben dem Haus, zu meinen Füßen die Blutspritzer von gestern auf
dem Boden. Der Lichteinfall, die Geräusche und Gerüche… Alles wie eine
Erinnerung, als sei ich schon da gewesen. Erinnern an den Tag, an dem
ich mich umgebracht habe. Ich versuche einen klaren Gedanken zu
fassen, doch bin wie blockiert, meine Ratio macht die Schotten dicht
und lässt mich allein mit dem Gefühlschaos. Die Klinge zu meiner
Rechten, doch ich kann nur spüren dass es sinnlos ist. Ich kann nicht
sehen, was mich noch weiter in das Dunkel meines Käfigs zurückdrängt.
Was soll ich tun? Bin noch mehr beschnitten in meinem Alltag, noch
gelähmter als zuvor. Ist es ein guter Tag zu sterben? Andre können es
auch, warum ich nicht? Mich lediglich zu verletzen macht den Braten
nicht fett. Es scheint sinnlos und doch werde ich es tun. Was bleibt
mir sonst?
Drücke die Klinge
tief ins Fleisch, doch es bleibt ohne Effekt. Die Zeit bleibt stehen
und zerbricht in Milliarden Scherben mit jedem Tropfen Blut, der auf
dem Boden aufschlägt, wird zu Staub und somit wertlos. Bleibe im
Nichts hängen und kann nicht mehr atmen.
Abend
Spätestens nach dem 3 Mal
aufschlitzen driftete die ganze Angelegenheit ins Absurde ab. Zudem
war die Klinge mittlerweile stumpf und nicht mehr zu gebrauchen. Ich
weiß nicht, was ich nun fühle. Immer noch den Tod und das Bedürfnis
endlich aufzugeben? Nein, eher so, als sei ich bereits gestorben. Tot,
gefühlsarm und leer.
23. Januar,
Mittwochvormittag
Nochmals im Krankenhaus anrufen,
auf Drängen meiner Therapeutin und nun auf den Rückruf warten. Ich
hadere mit mir, ob ich jetzt vorm Mittagessen noch laufen gehe oder es
mir für den Nachmittag aufhebe, für den Fall, dass ich wieder in ein
Loch falle. Warten, warten, warten. Ist dies mein einziger Lebenssinn?
Und komme mir wieder unwahrscheinlich nervig vor.
Morgen wieder ins
Krankenhaus.
Nachmittag
Laufen, laufen, laufen. Laufen, als sei es meine letzte Chance.
Doch um die Erkältung nicht erneut herauszufordern, nur 3 Kilometer.
Morgen erst ein Gespräch samt Untersuchung und Blutbildkontrolle und
dann wahrscheinlich Kortison. Noch mehr Tage ohne Laufen. Das halte
ich nicht aus. „Bei ihrem mittlerweile hochgradig schlechten
Zustand…“. Ich musste schlucken, so habe ich es noch nie betrachtet.
Ist mein Verlauf im Vergleich zu andren Kranken so drastisch?
Der Lauf war wunderschön, trotz diverser Steinsichtungsproblemen, doch
dann erspähte ich den Wagen der Amtsärztin (zumindest glaube ich es)
und sah zu, dass ich mich aus dem Staub mache. Wollte ich doch noch an
der Straßengabelung in die andre Richtung und noch einen Kilometer
dran hängen. Irgendwie bereue ich es, es nicht getan zu haben und ich
spiele mit dem Gedanken, während der eventuellen Thera vorsichtig
weiterzulaufen. Gemacht hab ich es ja schon mal, wäre also keine
Premiere und so große Überraschungen wird es wohl nicht zu erwarten
geben, oder? Und dann noch die Bedenken, WIEDER mit einer
Kortisonstoßtherapie klar kommen zu müssen. Hat mich die letzte doch
ziemlich mitgenommen. Und in meiner derzeitigen Grundverfassung? Es
ist mir jetzt schon peinlich, dass wieder irgendein armer Turnusarzt
morgen Blut abnehmen „darf“ und zwangsläufig an meinen
Schnittverletzungen nicht vorbeikommen wird.
Abend
Wieder ein Selbstmord in den Medien. Wieder im selben Alter wie
wir. Der erste Gedanke ist: „Der Glückliche hat’s hinter sich.“, und
der zweite nur, wie traurig es eigentlich ist, dass er alleine
gestorben ist. Sollte es nicht so was wie eine Suizidbegleitung geben?
In der Wanne musste ich beinahe zwanghaft den rechten Arm über Wasser
halten, zu groß die Angst, die Wunden könnten verblassen. Will oder
muss ich etwas darstellen? Oder tu ich es nur für mich um fürs Erste
weitere Schnitte zu verhindern? Nichtsdestotrotz habe ich mir nach dem
Baden die Packung mit der letzten Klinge bereitgelegt und den Verband
daneben gepackt. Wer weiß, was kommt. Um dann noch wie besessen an den
Blessuren mehr als brachial gekratzt, schon eher auf diese
eingeprügelt. Ich bekomme massiv zu spüren, was für eine Kluft sich
erneut zwischen meinem Lachen und der tatsächlichen Gemütslage auftut.
Vor meinem Werkzeug stehen, doch vorerst einen Rückzieher machen. Die
Musik so laut aufdrehen, dass sie durch meinen Schädel hindurch
donnert. Die Augen schließen und mich auf das besinnen, was ich
eigentlich will. Ohne ständig darüber nachzudenken, was andre denken
könnten oder ob ich es wert bin oder nicht. Einfach nur für mich.
Was willst du?
24. Januar, Donnerstag 4:45
Was wollte ich? Einen Grund? Missbrauche
ich mittlerweile Situationen für meine Zwecke? Zweckentfremdung von irrelevanten
Spannungen? Sebastian reagierte entnervt, als ich ihn etwas fragte. Wie auf
einem goldenen Tablett wurde mir ein Trigger serviert und die Klinge war scharf,
unendlich scharf. Ich konnte die Spannung förmlich knistern hören, als ich sie
aus ihrem weißen Schutzpanzer zog. Und auch ohne über die Wunden zu kratzen war
innerhalb von wenigen Minuten das weiße Waschbecken zur Hälfte mit Blut
besudelt. Wunderschön. Vor allem die Schnitte direkt in der Handbeuge bluteten
stark. Klein und doch klaffend. „Liebeserklärung an eine Sucht“. Schweigend
kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Sebastian muss den Braten gerochen haben, denn
er entschuldigte sich gleich zweimal hintereinander dafür, dass er mich so
angepflaumt hatte. Nach 10 war ich wieder die Erste im Bett. Ich riss den
Verband vom Arm um so letztendlich auch die Wunden wieder aufzureißen. Als auch
Sebastian kam und dann irgendwann das Licht ausmachte, verdrehte ich meinen Arm
derart, dass ich die Spannung in den Schnitten brennend zu spüren bekam und das
bisschen, welches Sebastians Rücken berührte, pulsierte massiv und ich fragte
mich, ob er es auch fühlen kann. Und heute? Zum 4. Mal hintereinander konnte ich
nicht schlafen, und als ich es tat, träumte ich, dass Fine elendig in meinen
Armen starb. Heulend wachte ich auf, um in der Verwirrung eines Halbschlafs
Sebastian neben mir im Bett sterben zu sehen. Der Mond erleuchtete das
Schlafzimmer trotz halbgeschlossener Balken und ich sah die Umrisse seines
Kopfes und war davon überzeugt, dass er sich krampfhaft krümmen würde.
Nun gut, schöne Grundvoraussetzung für den heutigen Tag. Allein schon die
Tatsache, dass ich seit 3 wach bin und seit 4 auf den Beinen. Die Doppelbilder
schienen sich bereits gestern Abend wieder leicht gebessert zu haben. Klassiker.
Und mir bleibt noch so viel Zeit und ich denke, dass es nun auch keinen
Unterschied mehr macht, ob noch mehr Schnitte die Arme zieren oder nicht.
Entschuldigen werde ich mich ohnehin, dass ich es dem jeweiligen Arzt zumute,
die zerschnittene Haut anfassen zu müssen. Da ist es wieder, dieses Gefühl eine
Last und eine Zumutung für andere zu bedeuten. Nicht mehr und erst recht nicht
weniger. Passiver Selbsthass, wie? Je länger ich meine Unterarme betrachte,
desto klarer artikuliert die Seele ihren Wunsch nach mehr. Und wieder ist der
Tod da und fragt mich, ob ich mit ihm gehen will. Die letzten Zusammenbrüche
distanzierten mich von all jenen, die so gesehen nur im Weg stehen, weil ich es
ihnen nicht antun kann. Da war nichts mehr, weder letzte Woche noch vorgestern.
Bin ich suizidgefährdet? Und die beschwichtigenden Worte meiner Therapeutin,
dass der letzte Schritt nicht von Stärke sondern von Schwäche zeugt, sind auch
nur Schall und Rauch. Reden gegen eine Wand. Ich sollte doch noch schlafen, aber
ich bin wach und ich glaube, ich mag mich nicht. Und während ich diesen Satz zu
Ende denke, bekommt mein Gesicht wieder diesen todernsten und auch leicht
verbiesterten Ausdruck auf die Züge gezeichnet.
Schmierölgeruch an den Fingern und das wehmütige Gefühl, dass es nicht reicht.
Beginne zu zittern und versuche einen klaren Gedanken zu fassen.
8:00 Uhr
Das elendige Warten nimmt seinen Lauf. Schlagartig reges Treiben und die Unruhe
lässt mich zittern. Die Verletzungen hallen immer noch nach. Wieder Schweigen.
9:00 Uhr
Vorerst ist alles klar. Blutabnahme, an den Kortisontropf, MRTs durchforsten
wegen einem erneuten Langzeittherapiebeginn, die dazugehörige Besprechung.
Wieder Warten.
Beinahe eine Stunde das alte
Venendrama. Nach 4 Stichen kapitulierte die erste Ärztin, verschwand und kam mit
einer Nachfolgerin wieder. Als diese direkt in Pulsadern stach und versuchte tröpfchenweise Blut in eins der unzähligen Röhrchen kriechen ließ, zwang sich
mir eine Bemerkung auf: „ Darf ich einen makaberen Witz machen?“. Zweistimmiges
„Nein!“, doch ich konnte es mir nicht verkneifen, jetzt, da meine Seelenventile
ohnehin öffentlich gemacht wurden: „Also wird das nix mit dem Selbstmord,
wie“. Betretenes Lachen, aber auch Bestätigung meiner Theorie. Beim dritten
Stich wurden die Röhrchen mehr oder minder „voll“ und der 4. verschaffte mir
endlich den sehnlichst herbei gehofften Zugang. Mit viel Improvisieren und noch
mehr Festkleben.
Und nun läuft das Solumedrol, ich habe mich samt Walter in die Kinderecke
zurückgezogen und verkrieche mich unter den Kopfhörern. Nach diversen Aussetzern
sehe ich Schwarz für die Beziehung zwischen Venflon und meiner Wenigkeit.
15 Minuten später war Schluss.
Ich bot der Ärztin ein Reset der Stichzählung an, was sie für mehr als
angebracht hielt. Und nach einem Komplettbad war auch bereits Stich Zwei von
Erfolg gekrönt. Sie strahlte und ich gab ein erbauendes „ Mensch, gleich beim
zweiten Mal getroffen!“ von mir. Nun läuft es. Und ich hadere immer noch mit
mir, ob ich laufen gehe oder nicht und ob ich den hart erkämpften Venflon
riskiere. Bin nur noch müde, will nicht mehr denken noch handeln.
Abend
Meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, mich anzurufen. Obwohl ich im Voraus
klargestellt hatte, dass ich das nicht möchte. Ich ging ran und
erstaunlicherweise entschuldigte und bedankte sie sich mehrfach, dass ich ihr
zuhöre. War sie doch heute bei der Beerdigung ihrer Nachbarin, die ihr doch so
viel bedeutet hat. Ich hörte zu, obwohl mir eigentlich nach nichts ist. Die
Festgefressenheit wird von der übermäßigen Müdigkeit nur noch gefüttert. Und das
Kortison ist letztendlich depressionstechnisch auch nur zusätzlicher Puderzucker
auf einer ohnehin schon klebenden Süßspeise. Zudem habe ich wohl noch nicht
erwähnt wie sehr mich all die „wieder“ und „erneut“ in meinen Einträgen
ankotzen. Vorm 10. Stich, als ich seufzend im Waschbecken versank, fragte mich
die Ärztin, ob das nicht langsam frustrierend sei. Hätte ich ihr von meiner
Lebensanalyse in eiskalten, leblosen Zahlen erzählen sollen? Und dass in der
Zukunft nicht mehr als eine Summierung möglich ist und somit für mich Grund
genug ist, auszuticken und nicht mehr leben zu wollen? Pff… Ich weiß noch
nicht, wie der Abend verlaufen wird. Und nebenbei erwähnt: Gratulation zum 25.
Schub und zur 19 Kortisonstoßtherapie in 9 ½ Jahren! Sebastian meinte zu meiner
Zeichnung, dass sie vielleicht für all jene lustig sein mag, die den bitteren
Ernst dahinter nicht kennen. Wie wahr. Der Venflon war mir dann auch egal, ich
viel zu getrieben und von Unruhe aufgefressen, ich musste laufen gehen. Ein Auge
zusammengekniffen ging es den Hügel hoch bis zur Kreuzung und dann wieder
zurück. Mit lächerlichen 3 Kilometern im Gepäck kam ich wieder zu Hause an. Der
Plan, die Therapie durchzutrainieren, steht nun fest. Selbst wenn ich dafür in
Kauf nehmen muss, nun wieder grottenschlecht zu sehen. Doch letztendlich war
auch die Infusion und der lange und anstrengende Vormittag mit Schuld dran. 5
Tage soll ich durchziehen, das volle Programm also und ich weiß im Moment nicht,
ob ich es kann. Klar, ich werde es tun, beinahe „über mich ergehen lassen“, doch
von wollen und von Kraft für einen Kampf, kann wahrlich nicht die Rede sein.
„…Bis ich mich erneut nach deiner Berührung
verzehre
Mit pochendem Herzen zu dir zurückkehre
Dann werden wir Eins sein, du und ich
Nimm Alles! Meine Liebe, mein Leben, nimm mich!
Und hebe mir auf den innigsten Kuss
Für den Tag an dem ich endgültig gehen muss…“
Die Gefühle in mir sind verwirrend. Ist er etwa gekommen?
25. Jänner, Freitag 6:45 Uhr
Dunkle Graupelwolken ziehen donnergrollend durch meinen
Schädel. Seit 4 wach, seit 6 auf den Beinen. Die Kleine mit dem treudoofen
Dackelblick ist wieder da. Obwohl ich im Laufe des gestrigen Tages eher zum
kleinen, hässlichen Pekinesen übergegangen war. Sobald mein Hirn im Bett beim
Nachdenken in ausgetüftelten und niederschreibbaren Sätzen formuliert, ist es
Zeit aufzustehen. Auf Magenschutz verzichte ich diesmal genauso wie auf eine
Laufpause, was ich im Moment mit einem flauen Gefühl im Bauch zu spüren bekomme.
Doch mein Gewicht ist wieder runter auf unter 65 und hat den Körperfettgehalt
gleich mit auf seine Reise in den Keller genommen. Das gibt mir ein gutes und
sicheres Gefühl, zudem ist mein Geschmacksinn nicht so sehr beeinträchtigt,
womit sich meine Theorie bestätigt, dass die Tabletten für gewöhnlich
die.Hauptschuld an der Veränderung tragen. Noch sitzt der Venflon, tut nicht weh,
noch juckt es. Grund zu hoffen? Der Tag heute verspricht noch hektischer zu
werden als der gestrige. Zuerst zum Bäcker um mich mit Fressalien einzudecken,
dann zum Hausarzt Rezepte und 3 Transportscheine für heute und zwei weitere Tage
besorgen um mich dann hochoffiziell von der Rettung abholen zu lassen. Den
Selbstkostenbeitrag von 10 € pro Fahrt trage ich gern, das Benzin fürs Auto
hätte pro Fahrt auch so viel gekostet. Und wenn meine Mutter heute Abend den
Anruf getätigt hat um Sebastian abzukommandieren, mache ich Telefon und auch AB
aus. Irgend ein „Unbekannt“ ruft täglich an und ich geh nicht ran, zudem
hinterlässt die Pappnase keine Nachricht. Und ich will und brauche meine Ruhe um
mich auf mich besinnen zu können. Es
dämmert und wird Zeit, mich allmählich ins Chaos zu stürzen. Hoffentlich geht
alles gut mit dem Transportschein sonst kann ich die 40km nach Oberwart laufen.
Haha! Und unterwegs den „Laufclub der Versehrten“ gründen.
10:00
Eine schweigsame Fahrt mit dem Krankenwagen. Ich dachte so sehr
darüber nach, ob ich versuchen sollte ein Gespräch zu beginnen, dass
ich das Gespräch wenn man so will eigentlich bereits im Kopf führte.
Ich merkte zusehends dass ich darauf keine Lust habe, mir die Kraft
fehlt, so verkroch ich mich wieder schweigend unter meinen Kopfhörern.
Diese Dinger können zu Lebensrettern werden. Allein als ich im 12m²
Warteraum meines Hausarztes irgendwo meinen Platz im Menschenpulk
gefunden hatte, und alles hustete und rotzte, ließ mich meine Musik
die Zeit und die beengende Umgebung vergessen und auch dass der Mann
vor mir sich zum Husten extra umdrehte. So verschonte er seinen
Vormann, aber schleuderte mir alles direkt entgegen. Lecker. Schwester
Elisabeth sagt zum Rettungsmann: „Bei ihr weiß man nie wie lange das
dauern kann…“, und: „Gestern erst, pfoah!“. Ich sank auf meinen Stuhl,
warf den MP3-Player wieder an und versank in mich selbst bis ich mit
dem Oberkörper schon fast auf meinem eigenen Schoß lag. Als die Musik
von Korn zu einem lauffreundlichen Technostück wechselte, begann die
Frau neben mir auf dem nächsten Stuhl im Takt des Basses mit dem Fuß
zu wippen. Ich musste schmunzeln, obwohl mir gar nicht danach war, wie
man auch als Nichteingeweihte an meiner zitternden Hand erkennen
konnte. Dann wurde die Flasche endlich nach gut 25 Minuten
angeschlossen von einem jungen Arzt, der mich mit den Worten: „16
Stiche ist der Rekord?“, begrüßte. „Hat sich das schon
herumgesprochen?“; ich fühlte mich sogleich zu Hause. „Es ist für uns
Ärzte auch sehr, sehr frustrierend..“. Worauf ich mit meinen „Es tut
mir wirklich ehrlich leid“ und „Ich bin eine Zumutung!“ konterte. Nach
einer Spülung hing das gute Stück und ich verabschiedete mich in
weiser Voraussicht erstmal nur vorläufig. Dann fiel mir noch die
Tasche beim Einparken in die Kinderecke runter und ich konnte es mir
nicht verkneifen ein paar ausgelesen Flüche durch den Flur zu zischen.
Doch wie man sieht, HansPeter läuft noch. Tropfen lassen und
weiterwarten.
Der Flur leert sich, um sich sogleich wieder mit Patienten zu füllen. Momentaufnahme mit Bleistift zu Papier bringen. Kritzeln ums Überleben. Gelungen und deswegen deprimierend. Die Musik füllt mich aus, kein Platz mehr für Worte. Gelebtes und verinnerlichtes Schweigen.
11:45
Über 1 ½ Stunden für die Infusion und nun noch etwa eine halbe
Stunde auf die Rettung warten. Solange der Akku das noch packt, ist es
ja in Ordnung. Ich fühle tiefe Stille in mir, meine Wangen sind
errötet und eigentlich ist mir nicht nach Denken. Dem Venflon wurde
noch eine dritte Chance gewährt, dieser wurde ordnungsgemäß mit einer
Spülung reisefertig gemacht. Mal sehen ob er noch einen Tag, noch
einen Lauf und vor allem noch eine Nacht überlebt. Fühle mich umsorgt
und doch überflüssig. Wie ein Schatten auf der pfirsichfarbenen Bank,
der nicht sein müsste. Wie ein Schandfleck, wie eine detonierte Bombe,
auf Bank und Tisch liegt alles voll mit meinem Krempel. Hab Spuren
hinterlassen in Form von Krümeln unter dem Tisch. Überflüssig. Als ich
vorhin zitternd und zusammengekauert auf dem Stuhl ausharrte, wünschte
ich mir nichts sehnlicher als meine Klinge. Nun wieder. Meine
„Pflicht“ ist getan, warum mich noch länger zusammenreißen? Sollte
auch ich damit anfangen mein Werkzeug überall mithin zu schleppen um
gewappnet zu sein? Jetzt aufs Klo zu verschwinden um das belastende
Gefühl des „wieder Wartens“ abzuschlachten und mich mit absoluter
Stille wieder in die Gesellschaft eingliedern? Eine tröstende
Vorstellung. 13% Akkuleistung, ob das noch ausreicht?
Spätnachmittag
Da denkt man, man lebt in der Pampa und der plötzliche Einfall
meines Körpers austreten zu wollen, sollte mit einem kleinen Umweg
durchs Grüne kein Problem sein. Denkste! Sitzt da so ein Jägerarsch
mit seiner Flinte in seinem Hochsitz und mir bleibt nicht mal die
kleinste Hecke unbeobachtet. Beinahe wäre es erneut zu einer
Katastrophe gekommen, zum Glück hab ich’s diesmal noch rechtzeitig
nach Hause geschafft. Ich HASSE Jäger! Dennoch, der Lauf war schön und
ich bin unendlich dankbar mal einen Schub zu haben, der nicht die
Beine in Mitleidenschaft zieht. Auf Sparflamme und doch voller Energie
durchs Abendlicht, mit Augenklappe, zerschnittenen Armen und Venflon
am rechten Handrücken. Wahrlich, es wird Zeit für den „Laufclub der
Versehrten“ in Kombination mit „Die Jägerhasser“.
Nacht
Ich bin tot
26. Januar, Samstagvormittag
Schweigend auf dem Sofa hocken. „Kommst du zu mir unter die
Decke?“. Kopfschütteln. Der Film ist an diesem Punkt der Therapie unerträglich.
Ich flüchte. Angeblich ins Bett, doch eigentlich zu meiner neuen Klinge. Dreimal
insgesamt, wenn es denn genau interessiert. Nach dem dritten Mal sickert so viel
Blut durch den Verband, sodass es an der Oberfläche zu gerinnen beginnt. Der
Anblick betört, bringt mich durcheinander um mich letztendlich zusammenbrechen
zu lassen. Weinend, flehend, flüsternd halbnackt vorm offenen Fenster stehen.
Wie von Sinnen mit meinen Fäusten auf meinen Kopf einschlagen: „Hör auf! Hör
auf! Hör auf!“. Die Atemfrequenz steigt bis ich beinahe hyperventiliere und sinkt
erst wieder als ich den Verband vom Arm ziehe um die tiefen Schnitte erneut
auseinander zu reißen. Ertrinke in meinen Tränen und der einzig klare Gedanke
den ich zu fassen im Stande bin ist, dass zwei Monate zwischen zwei
Stoßtherapien einfach zu kurz sind. Und nachträglich das Gefühl, wieder
gescheitert zu sein. Als ich um 7 wieder im Bad am Waschbecken stehe und mir
dessen bewusst werde, schlitze ich meine Handbeuge wieder auf und bestrafe mich
selbst dafür, weil ich Situationen wie diese gestern nicht einfach nutze, um
mich aus dem Weg zu räumen. Und die blöde Kuh steht immer noch und kämpft
und kämpft. Für was bzw. um was? Ja, warum nur.
Dann abgeladen in diesem schrecklichen Aufenthaltsraum, der doch früher das
„Sterbesammelzimmer“ war, und warte und warte. Zusammenbrechend, massiv zitternd,
mit toter Miene. Irgendwann eine junge Ärztin, die versucht die Infusion in Gang
zu bringen, doch der Venflon ist hinüber. „Da brauchen wir einen Neuen…“, ein
kurzer Blick unter meinen Ärmel und dann: „Mir wäre lieber, wir machen das nicht
hier.“. Mir auch. Andere Patienten im Raum und eine große Glasfront zum Flur
hinaus mit direktem Blick zum Aufnahmepult, wo reges Treiben herrscht. Ab in die
Ambulanz in eins der Behandlungszimmer. Sie stellt ein paar Fragen, ich erzähle
zu viel und fühle mich nun schäbig, weil ich sie in meinen Sumpf hineingezogen
habe und sie zu einer Mitwisserin meines Lebensüberdrusses gemacht habe.
Scheiße! Du bist SO UNENDLICH SCHEISSE!
Spätnachmittag
Einäugig läuft es sich auch irgendwie nur halb.
Abend
Leidiges Thema: Entwässerung. Die Kartoffeln schmecken
beschissen, der Sauerrahm erst recht. Jetzt ist mir schlecht und ich werde mich
wohl an die ungesunden Sachen halten. Fett und hässlich bin ich ohnehin, mein
Gesicht wieder leicht aufgedunsen. Lebende Wasserleiche, die längst tot sein
müsste. Der Venflon schmerzt immer noch. Schwester Bianca (wie verwirrend)
wollte mich befreien von dem Mistding, doch da sprang die junge Ärztin in die
Presche und verhinderte es mit einem entsetzten: „Nein! Der bleibt drin!!“.
Meine Schlussfolgerung darauf: „Ah, ich sehe, sie haben morgen Dienst…“.
Bejahendes Grinsen ihrerseits. Und wieder frage ich mich, wo Ärzte ihre „Ach, an
der Position tut es immer etwas weh! Das ist normal.“ –Floskeln herhaben.
Sicherlich nicht aus einem vom Leben vorgegeben Erfahrungsschatz. Ich mag
Schmerzen, aber nicht diese Sorte, die zu dem keinen Sinn zu machen scheint. Und
wenn er morgen nicht funktioniert und der Mist sich wieder unter der Haut staut,
dann weiß ich, dass ich Recht hatte. Wieder. Um auch den Entwicklungsstatus der
Therapie am Rande zu erwähnen: Wie immer unter Kortison sind die Augen stark
getrübt, in Mitleidenschaft gezogen und diesmal hat sich das Thema Doppelbilder
nicht wie beim letzten Mal nach drei Tagen Therapie gelegt. Eigentlich wird es
eher wieder schlimmer.
Vor mich hinschielen wie ein treudoofes Meerschweinchen. Geschmacksinn verlieren, Haltung verlieren, Fassung verlieren. Was übrig bleibt bin Ich, authentisch und ungeschönt. Mich an den Anblick der langen, tiefen Schnitte klammern um so etwas wie Trost zu erheischen. Weiß nicht, wie der Abend verlaufen wird. Weiß nur, dass ich außer Musik nichts ertrage. Und irgendwie habe ich auch nichts mehr zu sagen. Doch die Bilder sprechen ohnehin für sich.
27. Januar, Sonntag 7:30
Ein sich krümmender Magen, ein ungesund süßlicher Geschmack im Mund und die
Augen haben sich immer noch nicht gebessert. Schwarzlila Striche auf der Haut
und doch nur Kinderkacke. Mit jeder Klingenseite die ich verbrauche, hab ich
mich noch mehr von meinem Ziel entfernt. „Wie oft denn noch versuchen?“. Mutiere
dank Kortison wieder zum Ekelpaket, gereizt und unausstehlich, weil ich selbst
nichts ertrage. Bin widerlich, weil alles um mich rum und vor allem in mir
widerlich ist. Sollte ich mich allmählich daran gewöhnen, dass die Therapie
nicht mehr wie früher sofort anschlägt? Nachts war wieder diese Angst da, dass
sie diesmal überhaupt nichts bewirkt, die Angst davor, dass sich der Zustand nun
manifestiert und bleibt. Was ist fataler für mich? Die Augen oder die Beine?
Muss ich mich denn entscheiden? Du bist so hässlich!, zischt es
unentwegt durch meinen Schädel. Schielende Kortisonfresse! Warum nett zu mir sein? Sebastian liegt noch im Bett und ich
bin zu unentschlossen und auch irgendwie zu antriebslos etwas zu unternehmen.
Und das, was sich mir heute unter dem Verband präsentierte, ist eigentlich auch
nur peinlich. Da könnte man gleich fragen, ob ich hingefallen bin. Sind es
Schnitte oder eher peinliche Schürfwunden? Und mich dann heute wieder im
Aufenthaltsraum abstellen, an die Decke glotzen um all die ruhelosen Seelen die
da kleben, zu zählen und mich wie schon gestern alle 10 Minuten von einer im
Rollstuhl an den Tisch geparkten Oma ansprechen zu lassen, die ich nicht
verstehe, ich nicht adäquat zu reagieren weiß, es eigentlich auch nicht will
noch kann und mich so noch schuldiger und beschissener fühle. Die Ärmel meines
Hemdes bedecken nur ein Drittel meiner Unterarme. Weste oder saubere
Verbandsstrümpfe? „Kortison
hat eine Gemütserhellende Wirkung!“. Wer hat diesen Scheiß verzapft? Teils hatte
ich das Gefühl, dieser Satz wurde als Vorwurf missbraucht um mir vorzuhalten,
ich würde es doch genau aus dem Grund unbedingt haben wollen und nicht der
Beschwerden wegen. Erhellt? Wer? Ich? Wann? Kortison wirkt
persönlichkeitsverändernd, sonst nichts, und da ich nun mal nicht zur „HappyHippo-Fraktion“
gehöre, ist diese Veränderung auch alles andere als erhellend. Wie schon gesagt,
nur Puderzucker auf einem klebrigen Stück Schokolade. Süß, zu süß.
Bittersüß. Fast zärtlich über meine Blessuren streichen. Oh Wehmut, sie tun
nicht mehr weh!
Nach 11 Uhr
Ich stapfte die Einfahrt runter und der Rettungswagen
machte eine Kehrtwendung in unsrer Einfahrt und fuhr mir vor der Nase davon.
Wieder warten, wann bzw. ob er wieder zurückkommt. 4 Minuten im Wind stehen, zum
Glück war das Fahrzeug nur mit dem Fahrer besetzt, so waren alle unnötigen
Gespräche hinfällig. Ich war so wütend und auch enttäuscht von mir selbst, dass
ich mich nicht aufgeschlitzt habe. Wieder war da der Gedanke, die Klinge in der
Tasche zu verstauen. Ich beließ es bei dem Plan, die langen Furchen
aufzukratzen, wenn es unerträglich werden sollte.
11:20 und die Infusion läuft tatsächlich noch. Die Worte sterben, ich fühle mich tot und will nicht mehr, nicht schon wieder. „Wieder“, immer diese „wieder“. Kotzt du dich selbst nicht allmählich gewaltig an?
Vor mir auf dem Tisch stehen mittlerweile zwei Tabletts mit jeweils vier Schüsseln in denen diverse Sorten Brei vor sich hinziehen. Das eine Tablett ist total voll gekleckert, es wurde gefüttert und aus dem Raum, aus dem die Essensreste stammen, wurde vorhin ein leeres Bett geschoben und ein liegender, alter Patient wieder hinein verfrachtet. Wie deprimierend. Auf der Bank wie ein nasser Sack hängen, über meinen Skizzenblock gebeugt und alles was ich sehe ist eine sich krümmende Frauengestalt in einer dunklen Schachtel. Der Zugang schmerzt, der pulsierende Schmerz zieht sich allmählich den Unterarm hoch. Ich bin so müde, kann es nicht ertragen, will wegrennen, den Schlauch aus meiner Haut reißen und fliehen. Der Essensgeruch hängt so schwer im Flur, mir ist ohnehin schon speiübel und der Anblick der beiden Tabletts macht es auch nicht unbedingt angenehmer. Und eigentlich weiß ich doch nicht was ich will. Der Gedanke ans Laufen, der mir eigentlich immer noch eine klitzekleine Tagesperspektive geliefert hat, ist tot. Ich kann nicht ans Laufen denken, ich will gar nichts. Mir ist alles so scheiß egal. Ich wünschte nur, jemand würde endlich die Essensreste entfernen. Und als hätte man mich erhört kommt eine Schwester mit dem Essenstrolli angefahren. Ich möchte etwas ausdrücken, doch ich kann nicht. Nicht mal in Worten.
Es tropft und tropft und mich beschleicht erneut das Gefühl, dass das alles nicht echt ist, ich gar nicht hier sein dürfte und es vielleicht auch gar nicht bin. Hier, mit diesem pulsierenden Schmerz der mir den Mageninhalt hoch holt, in diesem schrecklichen Flur mit der vollkommen abstrus wirkenden Faschingsdekoration an den Wänden. Diese geheuchelte Lustigkeit ist irgendwie pervers. Um mein Leben zittern, auf dass die Zeit vergehen möge. Doch wozu? Zu Hause ist es nicht anders als hier, genau so unerträglich, dasselbe Gefängnis, denn ich bin mein eigener Kerker. Ja, ja, stimmungsaufhellend…
Abend
Bin durcheinander, hab Hunger und kann doch nichts essen. Eine riesige
Schüssel Obstsalat zubereiten um sie dann zu verschmähen. Die letzten beiden
Scheiben Toastbrot aus der hintersten Ecke des Gefrierschranks bergen und
toasten. Ekel, einfach nur Ekel. „Schauen sie mal nach links.“, kommandierte
meine zuständige Neurologin als ich mich am Pult zum Abhängen der Infusion
einfand: „Na, das sieht doch schon viel besser aus!“. Und sie warf der jungen
Ärztin von gestern ein „Das Auge blieb letztens noch stecken“ zu. Irgendwie
beruhigte mich das, doch einen Unterschied kann ich kaum bemerken. Um halb drei
war ich zu Hause und der restliche Tag blubberte so vor sich hin, ohne
großartige Ausschläge zu machen. Schlitz dich auf! Warum sitze ich
immer noch hier? Warum mich verletzen, habe ich einen Grund? Die Hand
zittert! Nichts
ist in Ordnung, ich weiß es. Doch ich versuche gegen das Chaos im Chaos
anzukämpfen. Kämpfen; pah! Aussitzen, phlegmatisch dahindümpeln. Irgendwie ist
da Nichts und irgendwie doch die Sehnsucht nach einem massiven Einschnitt, der
wenigstens für einen Augenblick den Fokus von der Krankheit nimmt. Zurück zu
mir, zu meinen Ängsten, meiner Trauer und meinen Schmerzen tief in der
schwarzen, verkümmerten Seele.
28. Januar, Montag 4:30
Mit einem schweigsamen „Ich geh ins Bett“ und dem
Heizstrahler unterm Arm, verschwand ich im Bad. So viel Blut, wie unser
Waschbecken in den letzten Monaten schlucken musste, bekommt kein andres
handelsübliches Badezimmerwaschbecken in seinem ganzen Waschbeckendasein zu
Gesicht. Zwei flächendeckende Ausraster, nicht tief, aber sie brannten stark und
betäubten alles, was noch an Chaos da war. Und als die Stille nachließ und ich
immer noch allein im Schlafzimmer war, kratzte ich wie besessen die Wunden auf,
prügelte auf den Arm ein bis der Schmerz allumfassend war. Zarter Eisengeruch in
der kalten Luft, die rechte Hand blutbesudelt und am Zittern. Ich konnte nicht
einschlafen und dann um dreiviertel 3 war ich schon wieder wach. Trotz Sturm,
dieser scheiß Gockel ist nicht zu überhören und irgendwann hetze ich ihm die
Fuchsbande aufs Gefieder oder dreh ihm höchstpersönlich die Gurgel um. Von da
drüben auf der andren Hügelkette kommt nichts Gutes: Nur Nachtschichthähne,
Jäger, lautstark quietschende Mütter und schreiende Hunde…
Noch drei Stunden bis ich meinen letzten Gang nach Kanossa antreten darf; graut
mir doch mittlerweile allein schon von der einstündigen Fahrt hin und dann
wieder zurück. Stilles und unbemerktes Kopfschütteln, was bleibt mir sonst? Die
Blessuren sind nicht blutunterlaufen, fühle mich schäbig und feige. „Dem Anlass
nicht gebührend!“. Noch mal? Sebastian bezeichnete zutiefst erschüttert das
stillschweigende Wegsehen der Ärzte als Armutszeugnis und fatal. Doch was sollen
sie tun? Klar, auf Sprüche wie: „Was ist denn da passiert?“, kann ich wahrlich
verzichten. Dennoch. Mit mir hadern, auch in Anbetracht der noch abzusitzenden
Zeit die vor mir liegt, ob das leichte Brennen reicht oder nicht. Und die Zeit
und das Warten beginnen mich erneut aufzufressen.
Nein, es macht keinen Sinn und der Gedanke, auf einen passenden Moment zu warten, in Ruhe und Stille, scheint tröstlicher als mich jetzt aus Langeweile heraus zu massakrieren. Und wenn aus dem Warten Spannung wird?
6:30
Gefällst du dir in der Rolle des selbstvernichtenden Monsters? Ja! Hab ich es anders verdient? Ich glaube nicht. Wo kommt all der
Selbsthass her? Zu viel Zeit, zu durcheinander und untragbare
Stimmungsschwankungen, um alles um mich rum mitzuvergiften. Müll! Wie stinkender,
zäher Teer fließen die Worte aus meinem Munde und ich merke, was ich anrichte,
doch kann es nicht beeinflussen. Unter Kortison bin ich wohl doch Borderliner.
Vielleicht bin das tatsächlich ich: Ungezügelt, unkontrolliert, voller Jähzorn,
Hass und Verzweiflung, einen Hieb nach den andren austeilend, ohne eine
Retourkutsche zu kassieren, weil ich mich rechtzeitig selbst dafür bestrafe und
mich fertig mache und meinem Gegenüber somit die Schmutzarbeit abnehme.
Sebastian hustet drüben im Schlafzimmer und ich wünschte, er wäre nicht hier.
Plötzlich scheint es kein Fenster mehr zu geben, aus dem ich türmen könnte,
keine Zeit mehr, mich gegen die Selbstkontrolle zu entscheiden. Scheiß
Puppenfresse! Zittern muss reichen und die Tasse scheppert auf dem
Untersetzter in meinen Händen. So eine kaputte Persönlichkeit… Doch keiner sieht
es. Und sie wird wieder funktionieren, sich eingliedern in dieses
verlogene Spiel! Was tun? Die Ärmel hochkrempeln, mit offenen Karten
spielen und die Illusion von einer witzigen, jungen Frau mitten im Leben
klirrend zu Bruch gehen lassen? „Ja! Seht her!!!“. Abschreckend wirken, um in
Ruhe gelassen zu werden? Alles im Keim ersticken. Was willst du???? Zu
lange in diesem Körper, befreit von jugendlicher Infantilität und zu alt, um mit
meinen Verletzungen wie früher umzugehen. Da ist kein weltfremdes Gefühl mehr,
keine Mystifizierung, kein Verbergen oder gar Scham. Wer hat jemals behauptet,
dass die Realität schön ist? Bezaubernde Dinge gehören ins Märchenland!
8:20
Ein intensives und interessantes Gespräch mit dem
Praktikanten hinten im Rettungswagen führen. Erst über lästige Nachbarshunde und
Hähne und dann über Musik. Dann angekommen. Am Klo das Toilettenpapier
nachfüllen, als würde ich hier wohnen. Vielleicht tu ich das mittlerweile auch
schon. Vor ein paar Sekunden war der Flur noch leer, jetzt ist er wieder gut
bestückt und ich verkrieche mich unter meinen Kopfhörern und hinter HansPeter in
der Kinderecke. Ich fühle nach: Nichts. Außer ein leichtes Brennen unter dem
neuen, noch blütenweißen Verbandsstrumpf. Warten, warten, warten…
Um 9 hing die Flasche, unter dem Verband zeichnet sich allmählich ein roter Fleck auf der Haut ab. Zeit, dass die Leitung rauskommt. Will nur noch weg, raus. Ein wenig kritzeln, mehr weiß ich auch schon nicht mehr mit mir anzufangen. Dabei ist mit noch mindestens einer dreiviertel Stunde zu rechnen. Wie lange hält es an, wann bin ich wieder da und darf mir auf die Schulter klopfen um mir zum 26. Schub zu gratulieren? Ich bin es leid… Und das schimpft sich Leben?
Nachmittag
Ich fühle mich wertlos, wie weggeworfen. In einer nicht
vorhandenen Situation abgestellt, haltlos, leblos und ohne Bezug zu irgendetwas.
Sitze zwar bereits in Laufklamotten auf dem Sofa und warte wieder, dass die Zeit
vergeht. Aber sonst ist da nichts, alles ist sinnlos, farblos, ich bin leblos.
Abend
Beim Lauf konnte ich meinen Körper nicht mehr spüren. Alles
war wattig taub. So lief es sich eigentlich auch schon wieder ziemlich
problemlos und geschmeidig. Die massiven Muskel- und Knieschmerzen setzten erst
ein, als die Bewegung stoppte. Ich hasste mich bereits nach dem Mittagessen und
nun nach dem Abendessen erst recht, da es erneut die falsche Wahl war und ich
nicht satt sondern lediglich angeekelt bin. Hass, Hass, Hass! Fettes
Schwein!!! Ertrage mich nicht, ertrage meine Umwelt nicht, musste
Geschirrspülen und nun sehe ich nach dieser klitzekleinen Anstrengung so gut wie
gar nichts mehr. Ich wünschte, ich würde umkippen und endlich schlafen. Ich
wünschte, jemand würde eine Waffe auf mich richten und mich vor die Wahl
stellen. Wie schon letztens beim Jäger, dem ich im Vorbeilaufen ein „Schieß
doch!“ zuzischte, da nur seine Flinte und sein Hut im Hochsitz zu erkennen waren.
Ich kann nicht mehr und komme doch wieder nicht zu Ruhe. Wohin mit mir???
29. Januar, Dienstagmittag
Als ich um 4 durch das grausige Gekreisch im Graben wieder
wach wurde und Richtung Bad torkelte, sank ich mit einem tiefen Seufzer aufs Klo
und dachte nur noch: „Es ist vorbei!“. Wieder ins Bett und endlich wieder
weiterschlafen. Der Tag begann sehr langsam, bin wieder wie ausgebremst und
bewege mich nur in Zeitlupe voran. Egal, ich habe dennoch viel geschafft, den
Vormittag mit Putzen und Räumen zugebracht. Und irgendwie kam ich mir dabei wie
eine vorprogrammierte Maschine vor, weil ich nach einer Therapie immer dasselbe
tue. Wie schon das letzte Mal stand ich auch gestern Abend im Supermarkt
vollkommen orientierungslos zwischen den Regalen rum um den klassischen
Therapieabschlusseinkauf zu tätigen. Ich kam nicht voran, weil ich wusste, dass
ich den Laden verlassen würde ohne das gefunden zu haben, wonach mir war. Und
hätte ich irgendetwas genommen, wäre es das falsche gewesen und hätte mich nur
unglücklich gemacht. So dauerte es eine Ewigkeit und ich ging mit leeren Händen
und einer unerträglichen Unzufriedenheit. Und heute musste ich die Bettwäsche
abziehen, wie nach jeder Therapie, weil ich den Geruch nicht ertragen konnte.
Und musste Putzen, weil ich auch das nicht mehr ertrug.
Die Schnitte jucken denn sie heilen. Auch das ist unerträglich.
Abend
Kaum ist das Telefon zumindest per Anrufbeantworter wieder
zu erreichen, geht der Terror wieder los. Erst war mir alles egal, jetzt fühle
ich mich gestresst, gefordert, zu schwach dafür und möchte mich erneut nur noch
aufschlitzen.
Bin ich schlecht?
30. Januar,
Mittwochvormittag
1:44 Uhr, die Sirene ertönt dreimal und schallt unheimlich in den Graben
hinein. Nach 7 schon wieder aufstehen, zu viel ist zu erledigen. Einen Termin
für ein neues MRT besorgen, mich mit kochendem Wasser übergießen, drei Mal
umziehen, heiß, kalt, heiß. Fühle mich unwohl, schäbig, der Lebensberechtigung
beraubt. Verstehe die Welt um mich rum nicht mehr, alles verzerrt sich. Hab mir
so meine Gedanken gemacht, wie die Sitzung heute ablaufen soll, doch nun bin ich
mir nicht mehr sicher, bin eigentlich nur noch verunsichert, komme mir
unwahrscheinlich albern und peinlich vor. In mir keimt die Befürchtung auf, man
könne mich auslachen. Wieso auch immer. Zudem sehe ich total scheiße aus,
Kortison sei Dank. Scheiß Hitzewallungen! Irgendwie scheinen die Worte wichtig
und irgendwie will ich sie gleich wieder löschen, da sie doch überflüssig sind.
Habe nichts zu sagen, nichts auszudrücken. Weiß nicht wer ich bin, wieso ich
bin. Und es erscheint eine Anmaßung überhaupt bei der Therapie anzutanzen.
DU BIST UNWICHTIG!!! Lebe ich? Ich kann nichts fühlen. Und alles
was in den letzten Tagen so unendlich wichtig war, erwähnenswert für die
Sitzung, ist nun wertlos. Schrott, Müll, Dreck! Es ist egal. Als sei es mir nie
schlecht gegangen. Wieso auch, es hat ja keine Spuren hinterlassen. Allein wenn
ich den zusammenhangslosen Kauderwelsch betrachte, komm ich mir noch
bescheuerter vor. Da ist keine Linie, kein Bezug zu etwas. Ich bin nicht.
Gequirlte Kacke; ich sollte wahrlich noch im Bett liegen.
Ich schwitze obwohl das Fenster im Rücken geöffnet ist.
Ich suche nach etwas, doch da ist nichts. Ich wage es nicht das große Pflaster
abzureißen. Was, wenn die Wunden zu mickrig sind? Wieder eine Klinge vergeudet
für NICHTS. Ich suche weiter. Nach irgendeiner Emotion. Irgendetwas. Wut, Hass,
Trauer. Aber nichts. Nicht leben noch sterben.
Nachmittag
Strukturloses Vokabeln Ausspucken. Richtungswechsel in der Therapie, den
Hauptfokus vom „Hier und Jetzt“ auf die Vergangenheit umlenken. Auf der Suche
nach „meinem bösen Gespenst“. Ob ich das eventuelle Auftauchen einer verdrängten
Geschichte verkraften würde? Was soll man in dem Chaos noch chaotischer machen?
Doch da wird nichts sein und die Angst, mich zu verrennen ist übermäßig groß.
Wünschte ich mittlerweile doch, es gäbe dieses Gespenst und hätte somit meinen
Erzfeind gefunden. Zu Hause wieder das Gefühl, sterben zu wollen, unbedingt ein
Ende finden zu müssen. STIRB!! Schweigende
Verabschiedung nach Sebastians Mittagspause. Spannungszustände, innerlich
ausgefochtene Kämpfe, hadern und massives Zittern. Kurz blitzte wieder die Idee
auf mich mit einer weiteren Überdosis abzuschießen. Wie nett, denn genauso gut
hätte ich mich auch umbringen können. Was wäre ich ohne mein Laufen? Tot. Haha.
4 Kilometer durch den kalten Wind. Bezug zur Umwelt und den Boden unter meinen
Füßen wieder erahnen können. Wieder zurück kamen die Tränen. Ich weiß nicht
woher. Und nun ist da wieder nichts. Meine Hände sind stark angeschwollen und
ich fühle mich fett und unglaublich hässlich.
31. Januar,
Donnerstagvormittag
Tagesplanung, Struktur erfinden und wie gelähmt beim
erneuten Zusammenfall zusehen. Die Frage nach dem „Wann gehe ich laufen?“ reicht
aus, um mir den Tag schon im Voraus zu versauen. Gehe ich jetzt, habe ich das
gute Gefühl mein Tagessoll erfüllt zu haben. Doch die Nachmittage sind lang.
Hebe ich es auf, wird mich die Unruhe bis dahin auffressen. Egal, wie ich’s auch
dreh und wende, ich bin zum Scheitern verdammt. Es ist ein grauer Tag,
nichtsdestotrotz proben die Meisen in den Jungerlen den Frühling. Das gehortete
Wasser spuckt mein Körper im Moment über Schweißausbrüche wieder aus, was sich
elend anfühlt. Ich habe irgendwie das Bedürfnis mich auf die Suche nach mir
selbst zu begeben. Mit Skizzenblock, Bleistift und schweigsamer Stille.
Vielleicht sollte ich doch erst laufen gehen…
Nachmittag
Beim Lauf begann mein Magen sich selbst zu verdauen und als
ich dann im Supermarkt mit den Vollkornbrötchen an der Kasse stand, waren meine
Hände blutrot und massiv angeschwollen. Ich legte die 1,20€ aufs Laufband, da es
mir unter diesen Umständen schwer fiel die mickrigen Münzen zu halten. Ich
fühlte mich ohnehin schon schrecklich unwohl, meine Sachen stanken für meinen
Geschmack wie Sau, das Wasser lief mein Gesicht runter, das gerade Stehen fiel
mir schwer und dann der Hinweis, niemals Münzen aufs Laufband zu legen.
Plötzlich krachte ich zusammen, wurde ganz klein, fast unsichtbar und fühlte
mich unendlich scheiße. Eine „Rüge“ in einem instabilen Gefüge, wie ein Stein
ins Glashaus geschleudert. Verunsicherung, mir albern vorkommen und erneut der
Lebensberechtigung entzogen. Wie albern das auch klingen mag, doch dieses Gefühl
ist immer noch präsent. Stehe wieder vorm Spiegel und suche nach mir. Doch ich
finde mich nicht, nur einen elendigen kleinen Haufen Dreck. Wertlos und
hässlich.
Und noch bevor ich nach Jennersdorf fuhr, stand meine Mutter vor der Tür. Mit beinahe schuldbewusst gesenktem Haupt, da sie meine „Auszeit“ wieder nicht respektiert. Es war aber irgendwie auch egal, die Kortisonstimmung ohnehin am Ausschwitzen und sie tat mir leid. Es gibt nur entweder Ekel oder Mitleid und die Angst vor ihrem Tod. Wo letzteres herrührt lässt sich noch relativ einfach erklären, aber das Ekelgefühl? Ich wollte etwas versuchen, mich suchen, doch im Moment stecke ich wie eigentlich immer in dieser Langeweile fest und kann den Antrieb nicht finden. Gelähmt. Möchte mich selbst irgendeinem starken Reiz aussetzen, um in mich fallen zu können. Auch wenn das der falsche Weg sei, wie meine Therapeutin gestern zu Bedenken gab. Aber Bezug zu meiner Umwelt hab ich ohnehin nicht mehr. Nichts außer befremdlichen Eindrücken und Dejavues am laufenden Band. Mich aufschlitzen? Nicht massiv genug weil zu feige. Nach draußen gehen? Sinnlos. Mein altes Tagebuch lesen? Ich versuche schon krampfhaft mich zu erinnern, an irgendetwas. Aber alles scheint ausradiert, ich scheine ohne Vergangenheit, gefangen in diesem sich täglich wiederholenden Trauerspiel.
Abend
Anruf von der Apotheke. Nun stimmt schon wieder was mit den
Rezepten fürs Kortison nicht. Und ich denke zurecht: „JEDESMAL die selbe
SCHEISSE!!“, und: „Warum kann es nicht EINMAL glatt laufen???“. Es setzt mich
unter Druck, rein in absoluten Stress. Aufschlitzen, kein Zweifel mehr. Zudem
mein rechtes Bein taub. Danke.
Mich durchs Tagebuch kämpfen.
Angewidert von soviel „Himmelhochjauchzend“ und „Zu Tode betrübt“, angeekelt und
peinlichst berührt von derart jugendlicher Dummheit. Doch irgendwann wurde die
Tinte Schwarz, die Worte klarer und deren Sinn undurchsichtiger. Irgendwann
entstand das Gefühl missbraucht zu werden, zugleich die fixe Idee bereits
missbraucht worden zu sein. War es die einzig logische Erklärung, die ich damals
finden konnte? Die einzige Möglichkeit, mein Verhalten und das gelebte
Gefühlschaos zu interpretieren? Missbraucht, vom eigenen Körper und dessen
Bedürfnissen. Die Sexualität (damals noch zu jung um Schlagseiten zu haben) das
Feindbild und auch der Vergewaltiger. In den früheren Texten erschließt sich mir
die Angst noch nicht. Doch dann kristallisiert sie sich Eintrag um Eintrag
klarer heraus und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, was ich von mir
selbst halten soll. Einbildung oder fehlgeleitete Erklärung? Die
Vernachlässigungen, die Missachtungen; all das ist ein Ansatz. Doch warum krümmt
sich mein Körper bei dem Gedanken an Körperlichkeit? Liegt es nur daran, dass
ich ihn verabscheue? Es mich anwidert, ihn zu benutzen? Ist es diese Geschichte,
die mir erzählt wurde, an die ich mich aber nicht erinnern kann und bei der es
unklar ist, welchen Verlauf sie nahm?
Ich sehe nun nichts klarer, eigentlich bin ich noch verwirrter als zuvor. Bis
auf diverse Stimmungstiefs schien doch alles in Ordnung. Was hat dich so
ruiniert? Und die immer wiederkehrende Aussage: „Ich habe Angst, dass ich
etwas weiß!“. Die Frage stelle ich mir seit langem eigentlich nicht mehr. Meine
Ratio sagt, dass da nichts ist. Mein Erinnerungsvermögen pflichtet ihr bei.
Einbildung. Billige und einfache Erklärungsversuche. Das Thema
Geschlechtlichkeit wird einfach ausgeklammert, umgangen und wenn es nicht länger
geht, stillschweigend durchlitten. Seien es Zärtlichkeiten, seien es
Frauenarztbesuche. Doch wenn ich mir solche Situationen ins Gedächtnis rufe,
zieht sich in mir alles zusammen und ein grausiger Ekelschauer läuft meinen
Rücken hinab. Ich will das nicht!! Und
die Panik, dass es im Laufe der Zeit zu einer fixen Idee wurde und ich einfach
nicht mehr zwischen Trugbild und ernstzunehmender Ahnung unterscheiden kann,
bestraft mich hart. Was ist schon echt? Es sollte mir eigentlich ohnehin schwer
fallen, Hysterien dieser Art ernst zu nehmen. Nehme ich mich doch für gewöhnlich
selbst nie ernst. Bin es nicht wert. Fast möchte ich mir selbst unterstellen,
ich bräuchte auch einen massiven Grund der rechtfertigt, dass ich bin wie ich
bin. Auf der Suche nach einer Ausrede, einem Totschlagargument? DU BIST SO
SCHEISSE!!!
1. Februar, Freitagvormittag
Man konnte nur noch einen weißen Plüscharsch zu Boden plumpsen sehen… Unsre
beiden Hausrehe liegen nun oben auf dem ersten Plateau und aasen vor sich hin.
Schon als wir das Haus verließen rannten die beiden gemütlich direkt vor unsren
Nasen vorüber und hielten nur einige Meter entfernt in den Jungerlen. Wir
wechselten ein paar Worte, erkundigten uns nach dem Stand der Dinge auf Wiese
und Flur. Auch das kein Grund zur Flucht. Sebastian nahm mich mit nach
Jennersdorf. Unterwegs kamen uns so ein „Angeberjeep“ und ein Traktor mit
Schaufel entgegen. Sebastian meinte nur: „Na? Fangen unsre neuen Nachbarn nun an
mit dem alles zu bauen?“. Ich gab nur ein griesgrämiges Grummeln von mir.
Wieder zum Arzt und zur Krankenkasse um den Scheiß zu klären. „Wir dürfen pro
Tag nur zweimal Kortison verschreiben.“. Sehr witzig. Für eine Stoßtherapie an
drei unterschiedlichen Tagen zum Arzt rennen wegen einem Rezept? Verfluchte
Bürokratie! Auf der Suche nach Verständnis für meine Verbitterung stieß ich nur
auf „Da können wir nichts für!“ und „Das ist nun mal so!“. Und man fühlte sich
angegriffen, wollte ich doch nur ein wenig Zustimmung. Nicht zugehört, nicht
verstanden und weggestoßen. Ein „gutes“ Gefühl. Ich rannte nach Bereinigung fast
aller Probleme nach Hause. Was für ein Kampf. Der Puls beinahe konstant bei 165,
mir schwarz vor Augen und speiübel und dennoch getrieben von dem Zwang, die 6 km
zu bezwingen. Ohja, ich habe sie bezwungen, aber wie? Nachdem ich endlich unsre
Einfahrt erreicht hatte, hätte ich zusammenklappen können und nach kurzem Stehen
fühlten sich meine Knie wieder an, als würde soeben die Gelenksschmiere
auslaufen. Und als ich die Kopfhörer abnahm konnte ich tatsächlich Baulärm
hören. Kopfschüttelnd kroch ich ins Haus, vorbei am Spiegel der mir die nächste
Backpfeife verpasste. Hochrotes, hässliches Gesicht, das Wasser tropfte von
Stirn und Kinn. Bäh! Kotzwürdig!
Nachdem ich gestern Abend mich noch ein zweites Mal verletzt hatte, sprach ich
meine Ängste und Bedenken an. „Nicht dass du dich da in was verrennst. Das
machst du ständig…“. Danke. Ich verrenne mich nicht, ich muss Dinge genauestens
durchdenken und überprüfen um sie ad acta legen zu könne. Wachte heute mit dem
Gefühl auf, wirklich zu spinnen, alles war plötzlich nicht mehr ernst zu nehmen.
Selbst die Trauer und all der Schmerz in mir schienen unwichtig, bedeutungslos
und von mir lediglich aufgebauscht. Ich weiß wieder nicht was ich denken soll,
was ich von mir selbst halten soll. Viele Fragen, noch mehr Beschimpfungen und
das pochende Gefühl, mickrig und schäbig zu sein.
2. Februar, Samstagmittag
Im Cafe heute Morgen musterte ich Sebastian und es fühlte
sich an, als würde ich ihn gerade erst kennen lernen. So, als hätte ich ihn seit
Monaten nicht mehr gesehen. Irgendwie habe ich das auch nicht. Als er gestern
Nachmittag nach Hause kam, war ich bereits erneut zusammengebrochen. Zuerst
festgefahren in dieser schrecklichen Langeweile und am Zittern, um die Spannung
abzubauen. Da war dieses Bild, es wollte nach draußen. Ich bereitete alles vor,
doch als ich mein Glas umkippte und der Orangensaft über den neuen,
unbehandelten Tisch schwappte und sich in Strömen über die Tischkante ergoss,
war das absolute Ende erreicht. Erst noch mit lautem Fluchen, dann auf den
Knien auf dem Boden rumrutschend. Das Lähmungsgefühl im rechten Bein noch
massiver. Als ich mich aufstützte ein stechender Schmerz in der Handbeuge. Die
Arterie, an der das Blut abgenommen worden war, trat förmlich hervor und war
binnen Sekunden angeschwollen. Atemlos saß ich da und überlegte. Nicht lange.
Dann ins Bad mit dem Plan sie aufzuschlitzen, egal welche Konsequenzen das haben
würde. Es hatte keine, ich war zornig und verzweifelt zugleich. Und dann kam er.
„Ach, ich liebe dich doch…“. Ich sah ihn nicht an, sagte nicht viel außer
„Besser nicht…“ und „Ich bin eine Zumutung. Geh besser…“. Erst hatte ich
das Gefühl allein gelassen zu werden, doch als er da war nur noch die
Gewissheit, dass ich untragbar bin. Jeden Tag dieses tote Gesicht, dieses
unerträgliche Schweigen, das Ausweichen und auf Distanz gehen. Da muss ihm doch
speiübel bei werden. Und ich frage mich ernsthaft, wann es ihm endlich reicht,
er wirklich geht, sich selbst zu liebe und ich auch gehen darf. Kann man von den
mittlerweile spärlich gesäten Momenten zähren, an denen ich lebe? Reicht das?
Wäre ich nicht schon längst gegangen? „Du bist so weit weg, ich kann dich gar
nicht mehr wahrnehmen…“. Einen weiteren Puffer geschaffen, doch wie lange hält
er diesmal stand? „Du wirst mit jedem Bild besser!“. Ja, und wenn ich dann
perfekt bin kann ich aufhören und mich umbringen. Diese ständigen
Suizidankündigungen müssen schon so derart nerven. Doch wonach schreit das? Der
Wunsch, ernst genommen zu werden?
3. Februar, Sonntagabend
Trinken als Bewältigungsstrategie gegen die erdrückende Langeweile. Ich
besuchte meine alte Nachbarin, die sich große Sorgen um mich gemacht hatte. „Ich
hab schon überall rumgefragt, ob jemand weiß was mit dir ist…“. Ich erklärte
mich und sie erwiderte ernst, dass man es mir ansehen würde, wie schlecht es mir
geht. Tatsächlich? Wieder zu Hause war sie dahin, die gute Laune und als ich
dann noch meine kochendheiße Hühnersuppe über die Couch, Teppich und meine
Klamotten kippte war wieder Schluss. Was war passiert? ICH war passiert!
Tollpatschige Kuh! Mein Dachschaden am Brillieren. Bereits nach dem
Morgenlauf kristallisierte sich eine Gangbildstörung heraus und aus dem
Lähmungsgefühl im rechten Bein wird massiver Schwächeschmerz. Als würde sich die
Muskulatur langsam Faser für Faser auflösen. Zumindest fühlt es sich so an. Und
dann diese beschissene Langeweile, dieses Nichtstun, dieses auf der Couch Hocken
und WARTEN, WARTEN, WARTEN. Morgen früh muss ich zum MRT antanzen und bei dem
Gedanken etwas vorzuhaben, kommt die Unruhe und macht den Grundzustand noch
unerträglicher. Wollte ich mich doch bereits nach dem „Unfall“ wieder
aufschlitzen. Also trank ich Liter um Liter bis mir schlecht wurde. Und nun hat
es sich ausgetrunken. Was kommt jetzt? Was passiert wenn die Worte versiegen und
ich wieder hängen bleibe? Und was, wenn ich morgen von dem ganzen
Flüssigkeitsexzessen mehr wiege?
Mir darüber klar werden, was für einen zwischenmenschlichen
Autisten ich mittlerweile abgebe. Was hält dich?
Ich wünschte, ich könnte nun behaupten, dass ich mich
besser fühle. Doch das tut es nicht und außer dem Auftauchen des Zwangs, noch
tiefer schneiden zu müssen, hat sich auch nicht viel verändert. Die neue
Klingenpackung anbrechen?
4. Februar, Montagvormittag
Mir bei der Hinfahrt komplett bescheuert vorkommen, allein
wegen der Tatsache, den Gegenstand „Auto“ zu benutzen, der mir in Momenten wie
diesen unwahrscheinlich befremdlich erscheint. Totale Verunsicherung. Erst
recht, als ich mit mehreren Anläufen versuche rückwärts in eine Parklücke rein
zu schieben und mir dabei auch noch der Motor abstirbt und ich letztendlich
aufgeben muss weil die Kraft in meinen Armen einfach nicht ausreicht. Wut und
Jährzorn, freigeworden in gezischten Flüchen, Tränen der Verzweiflung in den
Augen und dann doch eine weitere Lücke entdeckt. Die massive Schwäche in den
Beinen zwingt mich zum ständigen Einknicken beim kurzen Weg zum Haus des
Radiologen. Gangbildstörung. Jetzt? Nach einer Therapie? Danke! Zettel
ausfüllen, in die Kabine und schon in die Röhre. Die Assistentin ist beinahe
mütterlich freundlich und umsorgend. Sehe ich schon wieder so fertig aus?
Ratternd und klopfend kommt die Maschine in die Gänge. Nach geschätzten 10
Minuten fährt die Liege wieder halb heraus und der Arzt betritt die Bühne.
„Warum sind sie hier, haben sie Kopfschmerzen?“. Nein, MS. „Oh, sind sie das,
die keine Venen hat?“, und er schiebt den linken Ärmel hoch. „Danke, dass sie
sich an mich erinnern.“. Er sucht diesmal nur kurz, sticht einmal um dann mit
den Worten: „Gar nichts, aber auch wirklich KEINE einzige Vene….“, das Thema
Kontrastmittel abzuschließen und gibt seiner Assistentin die Anweisung in diesem
Falle eine „enge Diffusionsschichtung“ anzuwenden, das sei fast genau so gut wie
Kontrastmittel. Wieder rein beginnt der Kasten aufs Neue zu Rattern und ich
frage mich, ob das nun auch in die Kategorie „Warten“ fällt oder doch ein aktiv
gestaltetes Geschehen ist. Etwa 25 bis 30 Minuten dauert das Spektakel und als
ich vom Tisch plumpse meine ich nur noch, dass ich das nächste Mal Venen
mitbringen würde, mir also irgendwo neue kaufen werde. Dann fahr ich nach Hause,
um hier wieder zu Warten. Darauf, dass die Zeit vergeht, ich wieder ins Auto
steigen kann um nach Jennersdorf zu fahren, einkaufen zu gehen, die Straßen
laufend unsicher zu machen, das letzte Kortisonrezept zu holen und dann mit
Sebastian in seiner Mittagspause wieder nach Hause zu fahren. In dem guten
Wissen, am Nachmittag erneut zu stranden und abzustürzen, weil mich die Zeit
auffrisst.
Nachmittag
Halb drei. Nun ist es soweit. Bereits vor einer Stunde
begann ich wieder beim Fernsehen an den Wunden von gestern zu kratzen. Die
Bilder im Flur umhängen, damit das Neue auch seinen Ehrenplatz bekommt. Und nun?
Nachdenken und in
mir nach einem Bild suchen. Immer wieder zwingt sich mir die Vorstellung auf,
wie es wohl ist tot zu sein. Blass, kalt und mit einem hübschen Pappschildchen
am Fuß. Keine verlogenen Grimassen mehr auf dem Gesicht. Klingt befreiend. Doch
lebe immer noch. Keiner überfährt mich, keiner erschießt mich. Und ich bin
unfähig. Ich werde wohl auch kein Bild finden, bin im Moment ziemlich
emotionslos. Und wenn ich ehrlich bin, hab ich doch schon längst eines gefunden.
Aber die Thematik beginnt sich zu wiederholen und ich sehe keinen Sinn darin, es
festzuhalten. Letztendlich würde es nur einen Rückschritt dokumentieren, dem ich
nicht unbedingt zu viel Aufmerksamkeit beimessen möchte. Schlimm genug, dass es
so ist denn ich funktioniere wieder.
„LAAAAANGWEILIG!!!“. Dann tu was dagegen! „Ich kann
nicht…“.
Die neue Klingenpackung öffnen und mich rausschneiden.
Die im Krankenhaus im Laufe der Jahre erlernten Techniken anwenden,
zweckentfremden, um aus dem Waschbecken ein Schlachtfeld zu machen. Der linke
Arm brennt leicht und fühlt sich an, als wäre er gestaut. Blutleer. Es war auch
viel Blut. Warum also kann ich nicht einfach zusammenklappen? WARUM???? Warum
stehe ich immer noch? Warum werde ich bald wieder grinsen, schreckliche Witze
reißen und mich erneut selbst verraten? Ist
es egal, wies mir geht? Ich denke schon. Fühle mich an diesem Punkt wertlos.
Liebesbeweis, Machtdemonstration oder mich selbst bespuckt? Mir gut tun indem
ich mich abstelle, eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass mein Körper MIR
gehört oder mich so behandeln, weil ich’s nicht anders verdient habe? Mich an
die Stille in mir klammern und schweigen.
Abend
Mich dafür
entschuldigen dass es mir schlecht geht. Schon wieder schlecht geht. Er meint,
das sei Unfug, ich, dass ich ihm das schuldig bin. Wieder, eine Menschgewordene
Zumutung. Und wieder die Frage: Wohin mit mir? Werden die Schnitte der neuen
Klinge gerecht?
NEIN! Einfach nur dasitzen, zittern und keinen Ausweg sehen.
Komme zu keinem befriedigenden Schluss. Wie absurd und frustrierend zugleich. Das Blut durch den Verband sickern lassen, der rote Fleck wird immer größer. Es fühlt sich gut an, was in meinem Vokabular so viel bedeutet wie: Es tut weh. Im Spiegel dieses gleichgültige Gesicht. Tot und leer. Es wird wohl nicht hierbei bleiben dürfen…
5. Februar, Dienstagvormittag
Wenn ich
versuche in Gedanken beschwichtigend auf mich selbst einzureden, so tu ich das
indem ich mich selbst mit Vornamen anspreche: „Du musst heute nicht gleich zu
Mittag laufen, Bianca. Es regnet, Bianca, und du weißt, der Tag kann wieder
unendlich lang werden.“. Es hilft alles nichts und die Laufmontur liegt bereits
wieder auf der Bank neben mir. Und das Suchtteufelchen flüstert: „Dann hast du
es hinter dir, hast was geleistet.“.
Noch ein drittes Mal begab ich mich auf die Suche nach meinen Grenzen, die ich
aber erneut nicht abzustecken vermochte. Doch die Verbände waren Blutgetränkt
und schwimmen nun in einer dunkelbraunen Suppe aus heißem Wasser und Chlor. Ich
wünschte nur meine Arme würden heute auch so spektakulär aussehen wie die
Verbände. Es bleibt beim Wunschdenken, lediglich Kinderkacke, jämmerliche
Kratzer, trotz neuer Klinge.
Von weiter Stoffhose zur Lauftight wechseln, startklar und erneut am Warten, dass die Zeit vergeht. Warum beginnen meine Tage fast immer noch so erträglich, fast harmonisch um dann gen Nachmittag zusammenzukrachen?
Nachmittag
Mir und dem Tag die Chance
verwehren, das Fernsehprogramm nicht länger ertragen können, mich in mein
Atelier verkriechen und dem Absturz in der gelebten Isolation Tür und Tor
öffnen. Hielt ich es heute nur solange aus, weil ich nicht allein bin? Bei dem
Gedanken an Verletzung wünschte ich aber, dass ich es wäre. Der Lauf war nicht
befreiend, lediglich den ersten Kilometer durfte ich genießen. Ab dem dritten
begann mein linkes Bein im Bewegungsablauf zu schlenkern um dann zwischen 4 und
5 in eine leichte Lähmung zu verfallen. Wunderbar. Das Bild ist immer noch in
mir, vielleicht sollte ich es doch umsetzen. Oder wie immer hier hocken,
festgefressen und starr und darauf warten, dass die erneute Verletzung
unumgänglich scheint und ich nachgebe. Jetzt
kommt auch noch die Sonne raus, was für mich beinahe wie Häme wirkt. Ich denke
über Ausdruck nach, darüber, was es festzuhalten gilt, doch meine Gedanken sind
wie paralysiert. Ich ertrinke erneut in der Langeweile und Wertlosigkeit, und
das obwohl ich erst seit kurzem hier hocke. Immer dasselbe. „Los! Gib mir einen
Grund!“. Spazierengehen, das wäre eine Option, doch nicht für mich. Meine Beine
sind schwach und wie gelähmt, ich bin gefangen in meinem eigenen Körper. „Ich
hasse dich!!!“. Es scheint ein mickriger Schritt vom Nichtstun bis hin zum
ersten Bleistiftstrich. Doch ich kann nicht, denn allein der Gedanke strengt
mich so sehr an, dass ich nur wieder geschwächt in mich zusammensinke. Vor- und
zurückwippen. Stumpfsinniger geht es kaum noch. Der nächste Schritt ist dann das
Zittern, was einem Freifahrtschein in eine darauf folgende Verletzung
gleichkommt. Dasitzen und auf das Zittern warten.
Abend
Meine letzte Tagespflicht
erfüllt, das Abendessen gekocht und verspachtelt. Wieder zurück an Ort und
Stelle, wieder versinken und Warten. Darauf, dass aus dem wagen Gefühl
Überzeugung wird. Und letztendlich bin ich von der fixen Idee so sehr geblendet,
dass ich nichts andres mehr erkennen kann, jetzt, da alles erledigt ist. Noch
festgefahrener als zuvor. Was soll ich tun? Nach vorne gehen und Sebastian die
Ohren voll jammern? Der Weg ins Bad ist nicht nur von der Strecke her gesehen
kürzer. Auch gefühlt. Einfacher. Blockiert nur noch von der Angst, dass es
wieder nicht ausreicht. Hänge bewegungslos am Tisch. Lediglich die Vorstellung
mir ins Gesicht zu schneiden, lässt meinen armseligen Körper immer wieder
zusammenzucken. Ein gutes Gefühl.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal. Und alles umsonst.
Verwüstete Haut und ein Schmerz, der nur mir allein gehört. Es erscheint absurd sich nun wieder ins „normale Leben“ einzugliedern.
6. Februar, Mittwoch 7 Uhr
Wieder denke ich, es könnte meine
letzte Fahrt sein. Der Tag tritt verschleiert in Erscheinung. Es ist mir egal,
ob man die Schnitte und das weiße Pflaster unter dem schwarzen Ärmel hervorragen
sieht. Vielleicht will ich es auch so. Krankhafte Geltungssucht? Aufmerksamkeit?
Ach, weiß der Teufel was. Erst muss ich meine neuen MRT-Bilder holen und ich
würde mich wahrlich kaputt lachen, wenn nun nach der Therapie weitere Läsionen
aufgetreten sind. Und dann nach Oberwart zur Therapiebesprechung. Ich wäre gern
gespannt, was sie mir an Giftgemischen anzubieten hat. Aber irgendwie ist alles
egal, die Nacht hängt noch nach und verwirrt mich.
Mittag
Als er mich berührte und ich mich
fallen ließ, versuchte ich verzweifelt herauszufinden was es ist, das mir so
sehr Angst macht. Ich sortierte jedes einzelne Gefühl, das vorüber ging,
inspizierte es, doch nichts. Keine Antworten. Und wieder lag ich danach da, mit
Tränen in den Augen und einem Gefühl, dass das nicht richtig war. Schwere
Seufzer und ein Klotz im Hals…
Erst zum Radiologen meine Bilder holen. Anscheinend aktive Herde und der Rest progredient. Von Fürstenfeld ging die Fahrt weiter nach Oberwart. Nebel, nichts als Nebel und hätte ich nicht gleich bei Fahrtantritt oben am Hügelkamm den blauen Himmel gesehen, ich hätte gedacht, die Welt wurde verschluckt. „Guten Morgen, das Elend ist da.“. Schwester Hedi sah mich deswegen ganz entsetzt an.
Ich musste nicht lange warten und da ich seit der Therapie eine weitere Verschlechterung erwähnte, wurde mir geraten noch eine orale Kortisontherapie hinten dran zu hängen. 8 Tage Tabletten schlucken und wenn es nicht wirkt, nochmals 3 Einheiten intravenös hinterher jagen. Die MRT- Bilder sehen auch nicht so toll aus und bei der Untersuchung stellte sie im Vergleich zu vor fast zwei Wochen eine Gangbildstörung fest. Als ich auf der Liege lag und sie den Vibrationstest machte ein kurzes: „Ah, da haben sie sich selbst gepflastert.“. Klar, Omnifix und drunter Klopapier. Und dann die alles entscheidende Frage: Betaferon oder Copaxone? Ich entschied mich für letzteres und Schwester Hedi packte mir einen Rucksack mit Informationsmaterial. Den Rucksack ließ ich dann wieder ausräumen und nahm den Krempel in einer Plastiktüte mit nach Hause. „So viele Idioten auf dieser Strecke, warum kann mich nicht einfach einer umkarren?“. Die ohnehin schon nicht vorhandene Stimmung sackte in den untersten Keller. Schwester Hedi sah mich besorgt an, stellte ein paar Fragen. Hatte sie letztes Jahr doch meine Wunden zur Genüge zu Gesicht bekommen. Zu Hause wieder zum Arzt, was ich gleich laufend erledigte. Doch mein linkes Bein scheint massiver in Mitleidenschaft gezogen, als mir lieb ist und es stellt sich mir die Frage, ob das nun noch zum „Doppelbildschub“ dazugehört oder als separate Katastrophe mit der Nummer 26 zu werten ist. Dann kam Sebastian aus der Firma und kaum saß er im Auto, wurde er mir schon zuviel. Er redete und ich konnte nicht zuhören. Ich kam mir so überflüssig vor. Ich schwieg und er fragte auch nicht nach. DU BIST SCHEISS EGAL!!! Im neuen Befund stehen unter dem Punkt „Medikation“ einige Sachen, die ich zur Zeit einnehme und am Schluss auch noch „Mit selbstschädigender Absicht mehrere Tabletten Mirtel“. „Doch nicht so egal?“. Ich kann nicht leugnen bei Hin- und Rückfahrt immer wieder darüber nachgedacht zu haben, den Sicherheitsgurt abzulegen und mit Tempo 100 von der Straße zu rasen.
Ich dachte, ich hätte es geschafft, WIEDER MAL hinter mich gebracht. Doch nun geht es weiter. Ich kann nicht mehr. Aus der stumpfen Stille werden Tränen und Verzweiflung.
Alles in mir schreit förmlich
nach Verletzung, nach Bestrafung um mit mir selbst Frieden schließen zu können.
Fürs erste. „Das Eisenpräparat sollten sie weiter nehmen, soviel Gemüse können
sie gar nicht essen um das aufzufüllen.“, „Auf Dauer schadet es ihnen, wenn sie
es nicht zusätzlich zuführen!“ und „Wenn sie es weglassen, haben sie ihr Ziel am
Ende wirklich noch erreicht. Und das ist zynisch gemeint.“. Wie verlockend. Oder
mich doch lieber gesund und fit halten für weitere Verletzungen? HAHA… Ist doch
alles scheiß egal, ich bin wieder egal. Es gibt keinen Zweifel mehr, nur noch
die Frage wo. Draußen, im Bad oder hier, wo ich mich noch mit ohrenbetäubender
Musik zudröhnen kann bis ich wirklich nichts mehr spüre und mich von den Texten
anheizen lassen in meinem Tun? Es tut mir leid, dass es mir scheiße geht. Wie
unpraktisch, wo doch heute DAS Fußballspiel läuft. Gut, dass ich funktioniere.
Nachmittag
Da ist nichts und da wird auch nichts sein. Gib auf!
Erst der linke Arm, dann der rechte. Blutflecken auf dem Holzboden. Und dann scheinheilig den Ring wieder überstreifen. Vor mir am Boden ein blutgetränktes Tuch. LOS!! JETZT ERSTICK IN DEINER SCHEISSE!!!!
Der Körper sinkt in sich zusammen, als sei er traumatisiert. Schweres, tiefes Atmen und Stille. Als sei ich gefallen und hart auf dem Boden aufgeschlagen. Stille und Schwäche. Wieder viel Blut. Als ich damals das Tagebuch durchforschte entdeckte ich auf der Rückenklappe ein vergessenes Foto. Zu sehen mein Arm mit 3 bis 4 mickrigen Kratzern. Was für eine Entwicklung, man könnte fast meinen, ich sei „erwachsen“ geworden. Fragen nach dem Sinn. Suche ich die Konfrontation? Meine Grenzen? Mitleid oder Aufmerksamkeit? Beschissene Schlampe! Will nicht das Gegenteil hören, noch die Bestätigung. Irgendwie reicht es schon, wenn DAS mein Bild von mir selbst ist. Ums Überleben Zittern. Nein, ich will einfach nur ernst genommen werden. In allem was ich tue. Ertrage es nicht länger mit Sätzen, die mit „Aber Kindchen..“ beginnen, abgespeist zu werden. Und ertrage es aber auch nicht ignoriert zu werden. Ständig geht es um Wertschätzung und darum, dass ich trotz allem davon überzeugt bin, diese nicht wert zu sein. SCHEISSE!! Hast du gehört? Du bist SCHEISSE! Habe ich das Recht zu fordern? Strecke die Hand aus um sie sogleich wieder zurückzuziehen, nachdem ich mir selbst auf die Griffel geschlagen habe. Wenn man mich nicht mal in meiner Selbstverletzung ernst nimmt, ist mein Leben komplett verwirkt. Es hinausschreien und mir doch wieder nur den Mund verbieten. Was bleibt mir sonst als das hier? Armselig. Du bist nichts weiter als Dreck! Hin- und hergerissen zwischen „Lass mich nicht allein!“ und „Geh endlich und bring dich in Sicherheit!“. Was soll da noch Gutes bei rauskommen? Aus Scheiße kann nur Scheiße resultieren. Warum bin ich so wertlos? Was hab ich getan? Noch weiter in mich zusammensacken, zittern und tiefe Verbitterung: Der Schmerz ist verflogen.
7. Februar, Donnerstag 6 Uhr
Seit 5 wieder wach und mehr oder
minder auf den Beinen. Jetzt bin ich wieder am selben Punkt wie vor zwei Wochen
und das, obwohl es lediglich 80mg Urbason sind. Leichtes Herzrasen und Unruhe.
Weiterschlafen? Vergiss es!
Als Sebastian nach Hause kam und alles in seinen Angeln erschien, sah ich keinen
andren Ausweg mehr als ihn zwischen all dem erdrückenden Schweigen flüsternd zu
fragen, ob er meinen Tag lesen will. Er tat es, ich saß betreten daneben um dann
vollends zusammenzukrachen. Er suchte nach Lösungsansätzen, ich nach Gründen,
mich endlich aus dem Weg zu räumen. „Wie wärs mit einem Rollenspiel? Oder kannst
du nicht einfach onlinespielesüchtig sein?“ und „Ich WILL NICHT dass du das hier
tust!!“. Als alles gesagt schien, fühlte ich nichts mehr. Nichts als Leere. Ich
bat ihn die Vorhänge oben im alten Atelier abzumontieren, damit ich sie im neuen
vor die Fenster hängen kann, wie es mir meine Therapeutin bereits geraten hatte.
Sicherheit basteln. Sicherheit, die es zu missbrauchen gilt. So kann mich
einfallender Besuch auf dem Weg zur Haustür nicht mehr von draußen dabei
entdecken, wenn ich mich in meinem Zimmer abschlachte. Ja, wenn das nicht süße
Sicherheit verheißt. Und als wäre nie alles gesagt worden, schlitzte ich mich
unbehelligt noch ein drittes Mal auf. „Gehst du zuerst in die Wanne?“. Nein, ich
kann nicht. Ich ertrage allein schon den Gedanken nicht, die liebevoll in die
Haut gemeißelten Kerben ausschwemmen zu sehen. Und es hat sich auch gelohnt,
teils haben sie sich nicht geschlossen und sind beinahe schwarz unterlaufen. Auf
die ungestüme linke Hand ist immer noch Verlass, zudem die Haut am rechten Arm
noch so unversehrt und weich.
Meine Augen brennen jetzt, weil ich sie mir gestern aus dem Kopf geheult habe. Und von wach kann wahrlich keine Rede sein. Zu solch früher Stunde schon Stumpfsinn mit Tee. Schönes Leben. Klingt wie gutes Rentnerfernsehen. Eine Stunde noch bis ich fahren kann. 60 Minuten allein und Zeit um Scheiße zu bauen. Reichen doch schon 2 Minuten. Und es macht mir Angst, dass mein Vormittag wieder durchstrukturiert ist. Finde aber erneut keine Lösung für die Stunden danach. Zumindest keinen produktiven Ansatz. Mich mit Aufräumarbeiten über Wasser halten um dann im Bad wieder vorm Spiegel zu versteinern und mir in die Augen zu starren. Was ist da? Was verbirgt sich dahinter? Scheiß Puppengesicht! Schon wieder. Der Tag bricht an und dringt dank Vorhängen nur Portionsweise in den Raum.
8 und mir wird
klar, dass ich mich geirrt habe und mir NOCH eine Stunde bevorsteht. Spätestens
jetzt weiß ich: Ich kann nicht mehr…
Warum will die Zeit nicht vergehen? Einmal aufschlitzen. 15 Minuten später. Mir
telefonisch das Freizeichen einholen, heute mit der Therapie beginnen zu dürfen.
Immer noch nicht weiter. Ein zweites Mal aufschlitzen. Eine halbe Stunde später
und immer noch kein Ende in Sicht. Und die Klinge ist wieder stumpf und mein
Blut dick. Die Arme mit Wunden überzogen, kaum ein freies Fleckchen Haut mehr
übrig. Und ohne es zu merken beginnt die rechte Hand zu zittern. Reicht
es? Reich es dir? NEIN!
Dreimal.
"Fahr endlich, sonst drehst du
noch komplett durch!".
Nachmittag
Es wird über den Selbstmord eines
Jugendlichen berichtet. Der erste Gedanke ist: „Wie traurig…“, doch der zweite
legt mein Leben erneut in die Waagschale: „Warum ich nicht?“. Nachdem ich in der
Therapie meinen Lebensverdruss mehr als klar artikuliert hatte und ich erneut
versprechen sollte, mir nichts anzutun, bzw. anzurufen, bevor ich etwas
unternehme, versuchte ich Pläne für den Nachmittag zu finden. Mitzis Hosen
kürzer nähen. Doch mit den Maßen stimmte irgendetwas nicht und so wanderten die
4 Teile wieder unangetastet in ihren Plastikbeutel. Dann begann ich meine
eigenen Hosen zu flicken, doch die Frustrationsschwelle sitzt unendlich tief.
Ein Fehler und ich gab auf. Und nun? Beide Arme brennen immer noch, die Haut ist
mittlerweile wieder stark überreizt. Noch mehr Broschüren lesen? Der Impfstoff
liegt nun unangetastet im Kühlschrank und ich weiß nicht, wann der beste
Zeitpunkt dafür gegeben wäre. Also was tun? Meine Therapeutin meinte, sie würde
versuchen für mich eine Aufgabe zu finden über eine Bekannte, die in der
Integrationsarbeit tätig ist. Ich weiß nicht was schlimmer ist: Diese Trauer
oder die Langeweile, die mich mit jedem Tag mehr verdummen und vereinsamen
lässt.
Abend
Den Tag überstanden. Und was mach
ich morgen? Zudem kommt Sebastian später und dann spätnachmittags wieder
Psychosozialer Dienst, die ganze Scheiße noch mal durchkauen? Im Moment geht es
mir eigentlich recht gut. Aber will ich das auch, bzw. darf ich das zulassen? Und
sei die Kortisondosis noch so gering, die Aggressionen sind wieder mehr als
präsent und versuche angestrengt mich zu zügeln. Wieder mehrere Nächte mit zu
wenig Schlaf? Wieder austicken? Was soll ich denn noch zerschneiden? Meine
Eltern waren kurz da und meine Mutter fragte doch tatsächlich als sie die
Spritze sah, ob das ein Antidepressivum sei. Mein Vater setzte einen besorgten
Dackelblick auf, als ob er genau wüsste, was alles schief gelaufen ist.
Mittlerweile glaube ich auch nicht mehr, dass nur meine Mutter das Problem
darstellt. Wie war das heute in der Therapie? „Ich kann nicht zulassen dass es
mir gut geht, weil sich dann keiner mehr Sorgen macht und ich in Vergessenheit
gerate.“. Sebastians erster Kommentar lautete: „Nein, das klingt nicht nach
dir!“ und dann: „Das klingt eher nach deiner Mutter, aber nicht nach dir.“. Ich
habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es in einem
gewissen Maße sicherlich zutreffen mag. Aber Hauptgrund ist und bleibt, dass es
einfacher ist „Nein“ zu sagen, wenn es mir schlecht geht und es so
unkomplizierter ist Menschen von mir fernzuhalten. Was mir, ginge es mir gut,
unmögliche wäre. Ich WILL, dass man mich in Ruhe lässt. Dennoch, das ist
sicherlich nicht der einzige Grund. Die Selbstbestrafungskomponente ist so
massiv, stellt sich nur die Frage: Woher rührt dieses Verhalten? Meine Mutter
wollte Fragen stellen, doch ich ließ sie auflaufen. Meine Körpersprache und
Mimik schrieen förmlich: HALT! Ich lege keinen Wert drauf, dass sie sich sorgen.
Lege keinen Wert auf diese schrecklichen Leidvergleiche, auf die es zwangsläufig
hinausläuft. Da könnten wir gleich Quartett spielen. Kein Gejammere, einfach nur
NICHTS. Oder mache ich einfach einen Unterschied zwischen meinen Eltern und
anderen? Allein bei dem Gedanken kommt erneut der Selbsthass in mir hoch und
geißelt mich mit wüsten Beschimpfungen. Jämmerliche Schlampe!! und
Aufmerksamkeitsgeiles Stück Scheiße!!! Und siehe da: Die Hand beginnt stark
zu zittern. Ist es wirklich so? Bin ich so schlecht?
Den Tag beenden, wie er begonnen hat.
8. Februar, Freitagmorgen
Kurz nach 2 Uhr ging unten im
Graben wieder dieser Radau los. Mittlerweile glaube ich, dass man danach die Uhr
stellen kann, glaube aber nicht länger, dass es Füchse sind die da kreischen wie
abgestochene Menschenkinder. Nun gut, ich war wach und die Maschinerie im Kopf
kam im die Gänge. 3 Uhr, immer noch. 4 Uhr, Status wie gehabt. Um 5 schlief ich
kurz ein um nach einem Alptraum wieder hochzufahren. Sebastian stand irgendwann
nach 7 auf. Ich gab ihm noch einen Kuss, verschluckte aber das „Ich liebe dich“
und „Bitte fahr heute vorsichtig!“. Nach der Arbeit will er wieder direkt nach
Slowenien, und ich würde mir gerne Sorgen machen. Doch wie meine Therapeutin
gestern schon feststellte: Ich kann keine Verantwortung für mich selbst
übernehmen. So ist die logische Schlussfolgerung, dass wenn ihm auf der langen
Strecke, gesäumt von all den Kreuzen und Grabsteinen, etwas passiert, ich auch
keine Verantwortung für meinen Selbstmord und mein Tun mehr übernehme. Als ich
das Auto wegfahren hörte, schmiedete ich im Kopf einen Plan, wie ich es
anstellen würde. Erst versuchen, die Pulsadern zu öffnen, woran ich
wahrscheinlich kläglich scheitern würde, mich dann mit Mirtazapin betäuben und
kurz bevor ich einschlafe noch eine Überdosis von irgendetwas aus meinem großen
Repertoire an Schmerzmitteln, Krampflösern und Psychopharmaka einwerfen. Und
dann ist endlich Schluss. Ohne nachdenken. Spring! Also sogar
meinen Freitod in die Verantwortung eines andren legen. Da biste fein
raus!
Wieder habe ich Angst, der Tag
könne mich verschlucken. Zu wenig Schlaf, zu viele Stunden noch vor mir ohne
Struktur und Plan, das Gewicht im Vergleich zu gestern viel zu hoch. Ich kann
mir denken woran es liegt, aber das vermag mich nicht zu trösten. Also wie sieht
der Plan aus? Erst mal hier hocken und kein Plan, dann irgendwann laufen gehen
(die Strecke hab ich mir nachts bereits im Kopf zusammengebastelt und die Länge
berechnet) und dann wäre da ja noch der Termin beim PSD. Mir wird schlecht bei
dem Gedanken, mich erneut zu wiederholen. Ich wünschte, ich würde dadurch noch
mehr Überzeugung erhalten, doch stattdessen nehme ich mich selbst immer weniger
ernst. Und dann am Schluss wieder die Frage: „Nun gut. Was machen wir?“. Wieder
KEINE Tabletten. Und Tschüss! Alles
wiederholt sich, alles dreht sich. Und ich frage mich nur noch, wann sich die
Spirale endlich enger zieht.
„Es macht keinen Unterschied, wie
sie das Kortison einnehmen. Die Nebenwirkungen bleiben dieselben.“. Mein Magen
krümmt sich erbärmlich, das macht schon einen Unterschied. In mir ist ein Bild.
Doch kann ich? Oder muss ich erst laufen, die wichtigen Dinge des Tages hinter
mich gebracht haben?
Abend
Das Bild jetzt zu Ende bringen
oder die restliche Arbeit für den Fall einer weiteren durchwachten Nacht
aufheben? Ein Termin mit der Dame von „Vamos“, der
Integrationsarbeitsvermittlerin, ist ausgemacht. Nun heißt es nur erneut warten.
Beim PSD habe ich erneut klargestellt, dass ich nur noch auf einen triftigen
Grund warte, um endlich zu gehen. Nein, ich fühle mich nicht gut und da so viele
Leute anwesend waren und ich wieder Mal warten durfte, begann ich zu zittern, um
die Spannung abzubauen und irgendwann sogar heimlich über meine Arme zu kratzen.
9. Februar, Samstag 4:30 Uhr
Als sei die Wirkung vom Kortison
nicht schon belastend genug, legt meine Blasenentzündung, die ich mir vor Tagen
zugezogen habe, nun auch noch Nachtschichten ein. Als ich um 7 nach 3 die Augen
aufschlug und unten im Graben das Gekreische gerade ins große Finale überging,
schien noch alles so klar: Zum Klo torkeln und dann gleich wieder erschöpft ins
Bett sinken. Nix da! Kaum war ich zurück, war ich putzmunter und das
Gefühlsleben meines Unterleibes erstickte allein den Gedanken an Weiterschlafen
im Keim. Daliegen, mich umlagern, das penetrante Gefühl zulassen und wieder
darüber nachdenken, ob es sich nun um Füchse handelt oder stimmbrüchige
Teenagerehböcke. Eine Stunde später erlöste ich mich selbst und stand auf.
Preiselbeertabletten einwerfen. Allein schon deswegen. Aber irgendwie fühlt es
sich so an, als ob das diesmal nicht mit so einfachen Mittelchen kurierbar sei.
ES NERVT!!! Mich durch den monströsen Tablettenberg kämpfen, den ich mir allein
für die Morgenstunden bereit gelegt habe: Osteoporoseschutz (oder sollte man in
meinem Falle eher von Schadensbegrenzung sprechen?), Magenschutz, Eisenpräparat,
zwei Preiselbeerpresslinge und eine hübsche Blutverdünnung in Spritzenform.
Lauter Sachen, die nüchtern und als einziges im Magen landen sollten. Sehr
witzig und organisatorisch unmachbar. Was noch folgt sind 60mg Kortison und das
war erst der Anfang. Ich hasse Wochenende und mir graut schon vor diesem
unendlich langen Tag. Gut, der Anfang, abgesehen von der nicht eingeplanten
Nachtschicht, ist durchstrukturiert. Richtung Fürstenfeld laufen, mich von
Sebastian unterwegs einsammeln lassen, Frühstück in unsrem Lieblingscafe, im
Ethnoladen Henna und Räucherstäbchen plündern und dann wohl wieder Leinwände
kaufen. Und was kommt dann? Vielleicht noch ein Bild?
Oder mich einfach
scheiße fühlen, weil ich Geld ausgegeben habe.
Eine Stunde um und
die Langeweile klopft an. Mit allmählichem Befüllen der Blase legt sich der
Schmerzreiz um dann beim wieder entleeren um so doller zuzuschlagen, worauf ich
mich bereits jetzt schon freue. Ich sollte noch nicht wach sein, sollte noch
schlafen, lange schlafen. Stattdessen hocke ich hier startklar in Laufmontur und
wippe stumpfsinnig und doch auch irgendwie beschwichtigend vor und zurück. Und
schon ist die Kanne leer, jetzt bleibt mir nicht mal mehr Teetrinken.
Fruchtfliegen jagen? Eine undankbare Beschäftigung. Kann nur noch darauf hoffen,
dass Sebastian seine Drohung von gestern wahr macht und um 6 aufsteht.
Vormittag
Habe mich tausende Tode sterben
lassen. Darf ich nun ein Stück leben? Der Lauf war „erträglich“ und die Lähmung
im linken Bein trat erst nach 6km in Erscheinung. Und das, obwohl ich die
gesamte Strecke von 6,7km ohne jegliche Pause durchgerannt bin, inkl.
Bergabstrecken, die das Problem grundsätzlich gleich nach 100m auslösten. Also
darf ich am Montag bei meinem Kontrollanruf im Krankenhaus angeben, dass die
nachträgliche Kortisongabe eine Wirkung zeigt und KEINE weitere Stoßtherapie von
Nöten ist? Ich bin erstaunlich gut gelaunt und fühle mich noch sehr unsicher in
dieser Befindlichkeit. Mit neuer Kanne Tee und Henna im Haar auf das weitere
Verstreichen der Zeit warten.
10. Februar, Sonntagvormittag
Und die Zeit kroch nur so vor
sich hin. Irgendwann tat ich das, was ich für gewöhnlich meide: Mich über meinen
Dachschaden informieren. Ich schnappte mir den dicken MS-Ratgeber, der mir mit
all dem Informationsmaterial zu meinem neuen Impfstoff geschenkt wurde, und
begann zu lesen. Teils kopfschüttelnd, teils erstaunt. WIEVIELE Kämpfe musste
ich ausfechten, WIE OFT wurde ich nicht ernst genommen. Und nun wird so getan,
als sei all das schon längst klar gewesen? Ich war mir nicht sicher ob ich
lachen oder mich ärgern soll. Eigentlich war da wieder nur Verbitterung, aber
was hilft das schon? Den Tag auf dem Sofa verbringen, bei beschissenem
Fernsehprogramm und es nicht ertragen können, aber zu schwach, um eine Änderung
des Zustandes herbei zu führen. Wie jämmerlich. Und ich ließ mich in den Sog des
Buches hineinziehen, sodass ich mich beim Abendessen erneut fragte, ob es denn
schlimm sei, wenn dies meine letzte Mahlzeit wäre. „Eine Plaques im Atemzentrum
führt zum Tod“. Da war er wieder. Trotz allem wurde mir endlich eine Nacht
geschenkt, die ich beinahe durchgängig schlafend verbringen durfte. Doch heute
Morgen im Bett hatte ich wieder das Gefühl, dass der Tag schon jetzt im Voraus
sinnlos erscheint. Der Lauf war wunderbar, das Kortison scheint ganze Arbeit zu
leisten. Eine massive Steigerung in Geschwindigkeit und auch Streckenlänge. Und
KEINE Lähmung, auch nach 7,5km nicht. Und als ich Richtung aufgehende Sonne
rannte, die einsame Hauptstraße durch Jennersdorf hindurch und ein Windstoß
eiskalt mein Gesicht streifte, fühlte ich so etwas wie Leben und doch zugleich
die Gewissheit, dass es nicht schlimm wäre, jetzt zu gehen. Und nun frisst sie
mich wieder auf, die Zeit, und mein Körper ist nach dem kraftvollen Lauf
komplett ausgelaugt und meine Beine schwach. Was, wenn alles gesagt ist?
(Spaziergang durch den Erlenwald. Sebastians Versuch, mich aus dem festgefressenen Zustand zu reißen und mein Kampf um jeden beschissenen Schritt)
11. Februar, Montagmorgen
Den Tag mit dem ausfüllenden
Gefühl verbringen, deplaziert zu sein. Weder gut, noch schlecht, wieder einfach
Nichts. Leer und sinnlos. Dann heute Morgen mehrere Anläufe, um in der Neuro
endlich durchzukommen. Die Versuche verunsichern mich zusehends und als ich
endlich meine Ärztin am andren Ende erreicht habe, fühle ich mich
unwahrscheinlich lästig. Und das, obwohl ich ja nicht freiwillig anrufe, sondern
angehalten wurde Rückmeldung zu geben. Lästig und aufdringlich. Und irgendwie
egal. Gestern Nachmittag entstand bereits so ein beschissenes Gefühl, als ich
meine Krankenakten durchforstete um diese unter Einbeziehung des soeben
gelesenen zu entschlüsseln. Das Bild, das da von mir entstand, war: Eine lästige
Patientin, die sich alles nur einbildet, selbst wenn die MRTs im Nachhinein
immer das Gegenteil bestätigten und vor allem LÄSTIG (das scheint DAS Schlagwort
des Tages zu werden). Und immer dieses „Sie hätte“ und „Sie würde“. Diese
permanente Fallsform zeugt irgendwie von Misstrauen, als würde ich lügen und als
dürfte man meinen Worten keinen all zu großen Glauben schenken. Arztjargon?
Danke.
Ein armseliges Bild, eigentlich
schon jämmerlich. Und je mehr Befunde ich durchlas, desto mehr hatte ich das
Gefühl, ÜBERHAUPT nicht verstanden zu werden, geschweige denn ernst genommen zu
werden. In mich sinken und mich selbst der dumpfen Stille zum Fraß vorwerfen.
„Du bist hässlich, fett und aufdringlich!!!“. Mit
mir kämpfen. Darum, die Arme komplett verheilen zu lassen um von neuem beginnen
zu können. Wieder tabula rasa. Wieder eine neue Runde in diesem beschissenen
Kreislauf, den ich so sehr liebe und anscheinend auch brauche. Ist all der
Schmerz in mir so egal? Bin ich so egal? Bin ich es nur wert, dass man sich über
all den Schmerz lustig macht?
Immer wieder zusammenzucken bei
der Vorstellung mir in die Zunge zu schneiden. Mich mundtot machen. Kampflos
aufgeben. Den Schorf von den Armen kratzen um den Prozess zu beschleunigen und
mich der Erlösung näher zu bringen. Du bist kein guter Mensch! Wieder eine
neue Klinge? Ich gönne mir ja sonst nichts. Und es bleibt die Frage, wie viele
irreparable Schäden mittlerweile auf das Konto des „Du kannst ja nicht schon
wieder anrufen und lästig sein, sitz es aus!“ gehen. Der Spaziergang gestern
Nachmittag gab dieser Frage nur noch mehr Berechtigung. Alles kaputt. Aber will
ich es denn anders? Will ich es hergeben? Den Grund verlieren, der mich darin
bestätigt, dass es legitim ist zu gehen? Lebe nur noch für den einen Gedanken,
für den Plan. Und
mich scheiße fühlen, weil ich zu offen bin, zu viel von mir preis gebe, zu viel
von meiner Umwelt fordere. Wahrlich, du bist schlecht! Es ist
nicht recht. Das Chaos in meinem Kopf in chaotischen Sätzen auskotzen wie Gift.
Dreckschleuder!
Abend
Warum nicht auch mal die schönen
Seiten dieses beschissenen Dachschadens erwähnen? Nach Jennersdorf laufen,
lautete der Plan. Mein Körper zitterte davor schon wie wild. Ich kam auch nicht
weit, vielleicht 1,8km bis ich mir in die Hose gemacht hatte. Die Welt, die
Krankheit, all die Häuser am Straßenrand verfluchend, schlich ich mich am einzig
abgelegenen Fleck in den Wald, den steilen Hang hoch um an unzähligen Brombeeren
hängen zu bleiben. Und nun? Schadensbegrenzung irgendwo oben am Hügel hinter
einem Holzhaufen. Nach Hause laufen um rechtzeitig vor 4 dort anzukommen, damit
ich Sebastian noch anrufen kann um Bescheid zu sagen, dass ich zu Hause bin. Ich
rannte. Schneller, immer schneller. Mein linkes Bein wurde zusehends gelähmter
und die Schritte unkoordinierter. 300 Meter vor unsrem Haus und 5 vor 4 machte
ich mir nochmals in die Hose. Die Abkürzung über die Wiese glich einer
Katastrophe, das Bein war nicht mehr hebbar. Ich kroch förmlich Richtung Haus
und schaffte es so noch gerade rechtzeitig vor Schluss in der Firma anzurufen.
Sofort duschen! Beim Blick nach unten erschrak ich erst, ehe ich in ein
lachendes und krampfhaftes Weinen verfiel. Ich hatte es nicht bemerkt. Alles mit
Blut voll gespritzt, sogar die Schuhe und die Kniebandage war getränkt mit Blut.
Ich kann nicht mehr…
12. Februar, Dienstagvormittag
Kam nicht aus dem
Bett. Fühle mich zu schwach für den Tag. Zu schwach für die zu erfüllenden
Aufgaben. Zu schwach für das Bild. Will nur noch sterben.
Abend
Meine Mutter anrufen, nachdem sie
eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Während des Telefonats
in Sprachlosigkeit versinken. Davor schien alles normal. Ich machte zwar meine
Späßchen, aber eigentlich ist mir nur nach Heulen zumute. Ich fühle mich
schlecht. Liegt es daran, dass ich mich satt gegessen habe und es unter den
wieder eingetretenen Zuständen als unerträglich empfinde? Und wieder bin ich mit
dem Bild nicht zufrieden.
Ich sehe erneut den Tod und wieder ist es nicht meiner. Scheiß Verlustsängste. Mich
mit schwerer Musik noch weiter runter ziehen. Runter, tiefer, näher an den
Verletzungsgedanken. Oder mir doch das Leben aus dem Leib kotzen. Die Tage vor
der erneuten Kortisontherapie hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht dick zu
sein. Mein Selbstbild war erträglich. Doch nun ist es zerschlagen. Blutige
Scherben, mehr nicht. Und ich HASSE mich! FETTES DRECKSSTÜCK!!! Mich zu
beschimpfen ist leichter zu ertragen als diese Trauer. Hass lebt, die Trauer
hingegen ist tot. Nach außen hin wieder ein Bild abgeben, das nicht meinem
Innenleben entspricht. Und ich beginne wieder all die „Wieder“ zu zählen und bin
angewidert von mir selbst. Ich fühle mich schlecht, weil ich Lebenszeit
verstreichen lasse. Kostbare Zeit wird vergeudet. Was, wenn wirklich etwas
passiert? Hin- und hergerissen zwischen Funktionieren und dem Versinken in
meinem schwarzen Seelenloch. Geh!!! Geh endlich!!! Vielleicht tut es allen
andren ganz kurz weh, aber dann ist es vorbei. Warum soll ich noch länger die
Qualen aller tragen? Still und alleine? Warum muss ich diese Bürde tragen? Was
habe ich getan? WAS? Mein Leben besteht nur aus Angst. Und nun auch noch aus
weiteren Scherben, die mit jedem Jahr mehr werden.
13. Februar, Mittwochvormittag
Eine Nacht voller Alpträume, Panikattacken,
Realitätsverlust und absurderweise immer wieder das Gefühl, dass alles in
Ordnung ist. Mich durch einen Berg von Tabletten kämpfen, die letzte Urbason in
einer Dosishöhe von 20mg runterwürgen. „Sag tschüss zum Kortison!“. Nach all den
Schweißausbrüchen gestern ist auch mein Gewicht wieder etwas runter. Eigentlich
sollte mir die Routine allmählich Sicherheit geben. Aber sie tut es nicht. Es
kann keine Routine geben wenn ich mir einfach nichts merken kann. Ich brauche
eine Ablaufsliste, detailliert jeden Tag dokumentiert und diese hänge ich mir
dann im Bad auf, vor den Spiegel. Aber habe ich mir das nicht auch schon jedes
Mal vorgenommen? Das Ausschleichen der Dosis macht sich in unkontrollierten
Zuckungen bemerkbar, der Eiweißshake landete elegant in meinem Gesicht. Mein
Körper zittert. Ich weiß zudem wieder nichts mit mir anzufangen, geschweige denn
was ich fühlen soll und welchem Gedanken ich vertrauen kann. Tee trinken und
abwarten. Wer hätte das gedacht. Ich
weiß auch nicht, was mich im Moment von weiteren Verletzungen abhält. Die
Hoffnung, dass sich nun endlich etwas ändert? Dass mein Leben eine Struktur
bekommt? Zuviel Hoffnung in den Termin am Montag? Oder das Kortison? Hej, meine
Arme sehen richtig schick aus, so weiß und lila gestreift, der Sommer kann
kommen. Ich denke bei warmen Temperaturen nicht mehr an kurze Ärmel und nackte
Haut. Der einzige Gedanke der mich bewegt ist, dass ich noch bevor es warm wird
einen weiteren dünnen und vor allem langärmligen Laufpulli auftreiben muss. Und
man sollte sich fragen, was kranker ist: Dass meine Haut zerschnitten ist oder
dass die Gesellschaft glotzt? Wie dumme Schafe auf der grünen Wiese…
Nachmittag
Panik im Supermarkt. Wieder so unendlich fremd in diesem
menschlichen System. Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass mir ein
Fehler unterläuft, mir irgendetwas aus der Hand fällt und ich schreiend
wegrenne. Der anschließende Lauf stabilisierte mich wieder etwas, sodass ich
Sebastian gut gelaunt empfangen konnte. Doch nun? Die Zeit hat erneut begonnen
mich aufzufressen. Die erste Sendung stand ich noch durch. Während der zweiten
begann meine Hand zu zittern, ich zeichnete mit dem Zeigefinger unentwegt
Quadrate auf die Decke. Es hätte nicht sein müssen, nicht deswegen. Denn selbst
die Verletzung erscheint nur befremdlich. Doch ich tue, was ich immer tue. Was
bleibt mir sonst? Ich muss mich ernsthaft damit auseinandersetzen, was sich an
meiner Situation ändern kann, wenn ich nachmittags doch wieder nur in meinem
eigenen Körper wie gefangen bin und eigentlich keine Optionen offen bleiben.
Nachdenken über Auswege. Doch alles bleibt starr und festgefahren, Körper und
Geist wie paralysiert. Und jetzt, da die erneute Katastrophe schon mal
losgetreten ist, lasse ich die Lawine Lawine sein. Warum? Es frisst Zeit, die
sonst mich fressen würde…
Die Krankenkasse will wissen, warum sie weiterhin einen
Zuschuss zur Psychotherapie gewähren soll. Soll ich den beschissenen Fragebogen
in meinem Blut tränken? Ich ertrage es nicht einfach nur da zu sein, um da zu
sein. Der Himmel ist strahlend blau, die Vögel erfüllen die Stille mit ihrem
Gesang und ich weiß nicht mal warum ich mich zum zweiten Mal aufschlitze. Die
Klinge ist wertlos. Würde mich jemand vermissen? Würde irgendjemand nach mir
fragen? Was für einen gravierenden Unterschied macht es ob man lebt oder tot
ist? Welchen in meinem Falle? Die Rehe toben durch den Wald, oben auf dem Hügel
und die sich senkende Sonne scheint mir auf den schwarzen, ausgeleierten Pulli.
Ist da Leben? Ich kann nichts fühlen. Lediglich der Geruch meines Blutes wirkt
besänftigend auf mein Gemüt. Darauf
warten, dass die Sonne versinkt, der Tag im Dunkeln in die Verlängerung geht um
dann endlich sein Ende zu finden.
Abend
Wie schnell doch alles wieder in geordneten Bahnen
verlaufen kann. Ist es traurig, dass es sich um meine Definition von „geordnet“
handelt? Schmierölgeruch einer neuen, unendlich scharfen Klinge klebt an meinen
Fingern. Ich konnte es nicht ertragen, als das Blut beim Duschen meinen Arm
hinab lief, nicht, dass die Wunden verblassen könnten. Zurück in meinem Spiel,
gefangen in diesem Körper, geknebelt von betäubender Stille. Es tut so weh, dass
die Schnitte wieder nur Kratzern gleichkommen und dem kostbaren Werkzeug nicht
gerecht werden. 3 Mal. 4 Mal. Es reicht nicht. Ich sollte herausfinden, was mir
vor dem Akt durch den Kopf geht. Nichts? Denn es ist egal weil ich egal bin.
Zittern und verschluckte Tränen. Atemlosigkeit,
angepeitscht durch den brennenden Schmerz und der bittere Nachgeschmack des
Versagens. Und nun? Glotze anschmeißen und versuchen, mich mit den wenigen
Schmerzreizen am Arm zufrieden zu geben? Versager!!! Ich glaube, ich kann das
nicht… Will es nicht können…
Und Sebastian hatte am Abend eine Schachtel Pralineherzen für mich mitgebracht: „Damit du nicht immer so hilflos bei der Werbung dahinschmachten musst!“. Da ist er wieder, der Tod und die Angst vor dem Verlust. Los! Tu es!
5 Mal. Der linke Unterarm zur Hälfte zerschnitten. Ein starkes Brennen. „Kannst du dich jetzt endlich spüren???“. Langsam verhärtet sich der Verdacht, dass sich eine Parästhesie entwickelt hat. Umso besser, denn umso massiver ist der Schmerz. „Wie ein Verbrecher…“. Zitternd auf meine Erlösung warten…
14. Februar,
Donnerstag 8 Uhr
Bin schon viel zu lange wach, will aber noch nicht wach
sein. Ist es die Angst davor, dass mich die nächsten Stunden wieder verschlucken
könnten? Die Befürchtung wird beim Anblick der Reste des gestrigen Spektakels
zur Erwartung. Bin nicht stark genug für diesen Tag, will es auch nicht sein.
Selbst die Dinge des Alltags langsam zu vollführen, reißt auch keine Löcher in
die Zeit. Warum kann ich nicht noch schlafen? Warum darf ich nicht? Mein
Leben eine Tag für Tag wiederkehrende Beerdigung. Sei es ein Teil meiner
Gesundheit, eine Fähigkeit, mich selbst oder all die Menschen, die mir nahe
stehen; es gibt immer etwas zu Grabe zu tragen. Die Spuren, die Sebastian
hinterlässt wenn er morgens geht, schmerzen. Die Krümel unter dem Tisch ein
Mahnmal und ich tagein tagaus im Trauerflor. Was für ein Leben! Der linke Arm
ist leicht angeschwollen und die Wunden reißen beim Abziehen des schäbigen
Strumpfes wieder auf und bluten. Was ist da? Schweres Atmen? Sehnsucht? „Warum
ist es jetzt so schlimm geworden mit dir???“. Warum… Keine Alternativen, kein
Ausweg. Die Ressourcen müssen genauestens kalkuliert werden, um irgendwie über
den Tag zu kommen. Entweder Laufen oder etwas anderes. Das Angebot schrumpft und
die Kombinationsmöglichkeiten machen sich ebenfalls rar. „Typische
Tagesschwankungen“; so ein Scheiß! Selbst die große, glänzende
„Freiheitsstatue“, das Laufen, bröckelt seit nunmehr einem Jahr. „Es geht zu
Ende, wie?“. Im „Freitodaktenordner“ summieren sich allmählich die Anträge,
immer klarer werden die Gründe artikuliert, immer eindringlicher und logischer
erscheinen diese. Gehen, bevor jemand anders geht. Ein tröstlicher Gedanke.
Die Welt vorm Fenster erstarrt unter einem weißen Mantel aus
Eiskristallen, hier drinnen künstliches Licht und schwere, traurige Musik. Mein
Kerker ist hübsch mit den Vorhängen.
Zwei Stunden noch und schon festgefressen.
Ich beginne mich zu verlieren, mich aufzulösen in befremdliche Einzelteile. Und alles um mich rum zerlegt sich ebenfalls in noch nie erkannte Fragmente. Muss mich erden…
Im Spiegel eine hässliche, alte Fratze. Könnte mir selbst
vor lauter Jähzorn ins Gesicht spucken. Letztendlich hatte das ganze nur einen
Effekt: Unzufriedenheit. Es reicht nicht. Es reicht nie. Es ist nie massiv und
tief genug. Gebe ich erst Ruhe, wenn ich mir bis in die Muskeln schneide? Meine
Mutter kommt heute Nachmittag. An diesem Punkt kann ich noch nicht sagen, ob ich
bis dahin in der Lage bin zu funktionieren. Zittern und mich selbst ankotzen. Es
noch mal versuchen? Versuchen, versuchen, nichts als versuchen!!
und Du feige Schlampe!!!
Nachmittag
Alle faseln immer von den bösen Nebenwirkungen des
Kortisons. Und was ist mit dem Entzug? Zitternd nach Jennersdorf fahren. Beim
Lauf stellt sich erst nach Ewigkeiten so etwas wie Ruhe ein. Und dann wieder das
Gefühl, eine Zumutung zu sein, entschuldige mich wieder. Fliegender Abklatsch:
Sebastian geht, meine Mutter kommt. Ich bin nicht in der Lage ihr zuzuhören. Und
nun kann ich nicht mal sagen, was sie mir alles erzählt hat. Auch das mitunter
ein Grund, mich nun schlecht zu fühlen und ins nächste Loch zu fallen. Sebastian
kommt um 4. Bis 4 ist noch viel Zeit, zuviel Zeit. Zittern…
15. Februar,
Freitagvormittag
Der Tag verlief sich in den folgenden Stunden in
Unendlichkeit und ich spürte nur, dass nicht mal Aufschlitzen mich retten würde.
Aus Angst, wieder nur zu kurz zu schlafen und vor dem Absaufen in einem viel zu
langen Vormittag, entschloss ich mich abends Mirtazapin erneut für meine Zwecke
zu nutzen. Diesmal aber in der für mich verschriebenen Dosis von nur 15mg und
nach etwa 20 Minuten fiel ich in einen tiefen Schlaf, gegen den es keine
Gegenwehr gab. Bis nach 10 hielt er an. Und nun? Massive Zuckungen und das
Gefühl, betäubt zu sein. Der Lauf steht erst am Nachmittag an und ich kann nur
hoffen, dass sich die Ausartungen meines Körpers bis dahin gelegt haben. Sonst
ist da nicht viel in mir. Müdigkeit? Ein ausfüllendes Nichts?
Martha erbricht sich im Flur, nachdem ich sie erst vor 5 Minuten rein gelassen habe, wie immer auf einem der drei Flurteppiche. Danke, jetzt ist mir auch noch schlecht. Und schwindelig. Das Mittel ist wohl ein Symptomverstärker, so wie Fieber. Und ich muss mich ernsthaft fragen, ob so eine kurze Zeit ausreicht, um erneut zu straucheln. Zumindest fühlt es sich nun nach Verstreichen einiger Minuten so an.
16. Februar, Samstagnachmittag
Wo willst du hin?? Mich raus schneiden, aus diesem
beschissenen Körper raus schneiden. Nichts geht mehr. Kein Gehen, noch Stehen,
denn selbst aufrecht Sitzen fällt ungemein schwer. Und dieser Zustand wird sich
nun wie bereits gestern auf den gesamten Tag verteilen und unverändert anhalten.
Ich lache zwar, wirke lebendig und denke doch unentwegt daran, dass ich das hier
NICHT ertragen will. Wie machen das andere? Bin einfach zu unruhig, innerlich zu
stark getrieben, als dass ich es einfach hinnehmen und aussitzen könnte. Der
Lauf gestern war eine Katastrophe. Der Lauf heute war zwar etwas besser, aber
mit massiveren Folgen. Hier hocken, trinken und essen und nichts tun. Ich
ertrage es nicht. Ertrage diese Körpergefühl nicht. Mag sein, dass ich
jämmerlich wirke. Aber unter diesen Umständen kann ich einfach nicht. Vielleicht
sollte ich mich wirklich raus schneiden. Mir ist nur noch nach Heulen,
unterdrücke es wie immer und gebe nur mit spitzen Bemerkungen mein kaputtes
Innenleben preis. Es
ist keine Trauer, die mir das Wasser in die Augen treibt. Es ist purer Zorn und
Hass, die ich kaum noch zu bändigen vermag. „Du musst dich abfinden!“. Ich denke
nicht dran. Und irgendwie macht das alles keinen Sinn, kotze mich selbst nur
noch an.
18. Februar,
Montagvormittag
Während der Hausbau unsrer neuen Nachbarn in die Gänge
kommt, frage ich mich, warum ich überhaupt da bin. Alles ist vergänglich, alles
geht kaputt, selbst ich. Warum bin ich dann noch hier? Und es macht wahrlich
keinen Unterschied, ob ich beschäftigt bin oder in Langeweile und Nutzlosigkeit
versinke. Ich war beschäftigt, und dennoch drängte sich mir erneut die Frage
auf. Ich werde selbstgerecht und hasse mich dafür. Aber die Entartungen meines
Körpers scheinen nichts andres zuzulassen. Selbstmitleid? Warum nicht? Und noch
mehr Jähzorn. Ich weiß nicht, wie ich den gestrigen Tag ohne Laufen überstehen
konnte. Sebastian gab sich redlich Mühe mich aufzumuntern. Trotz allem fand ich
mich irgendwann im Bad wieder und versetzte meinem Arm noch an die zwanzig
flache Schnitte. Wertlosigkeit gehört untermauert. Selbstmitleid dort, wo die
Kraft zu Kämpfen versiegt. Ich bin ein schlechter Mensch.
Die Musik des
Kammerchors „Accentus“ so laut aufdrehen, bis sie mich zu Tränen rührt, mich
noch mehr aufwühlt und verwirrt zurücklässt, wenn der letzte Ton verklingt. Die
Musik in diesem beinahe ohrenbetäubenden Zustand belassen um den beschissenen
Bagger nicht zu hören. Natürlich ist das ein wunderschönes Fleckchen Erde. Aber
es wird nicht zwangläufig schöner, wenn alle hier hin ziehen. Unser schöner
Graben geht den Bach runter. Woran noch klammern? Die Minuten zählen und daran
zweifeln, dass der geplante Lauf heute Nachmittag „entspannend“ wird.
Abend
Den Hausbau weiter verurteilen. Doch als ich dann unsre
Einfahrt runtergehe und mir Resi, die alte Mutter der zukünftigen
Hausbesitzerin, freundlich lächelnd zugrüßt, fühle ich mich scheiße. Es folgt
der Lauf bei Frühlingstemperaturen. Starker Schwindel, Schlagseite und Torkeln.
Es fühlt sich so an, als würde ich neben mir her laufen. Nichtsdestotrotz
schaffe ich 6km. Bin gut gelaunt, doch habe keine Lust mehr diesen Zustand
weiterhin aufrecht zu erhalten. Die Wertlosigkeit schleicht sich soeben wieder
ein und ich ertrage es nicht länger, tatenlos vor der Glotze zu hocken.
Mit dem brennenden Schmerz unterm langen Ärmel fühle ich mich gleich viel wohler. Wertlos, wortlos. Gib es auf!…