Am Ende des Weges....
 



„Seltsam...“, dachte sie sich, als sie das Bild an der Wand vor sich betrachtete, und ihren Blick nicht davon abwenden konnte, wie unzählige male die Tage zuvor.
Diese Augen, diese alles durchdringenden Augen, in diesem schmerzverzerrten Gesicht inmitten all der Dunkelheit und Stille und Einsamkeit.
Ihre Seele lag nun vor ihr, gebannt auf dieses Stück Zeichenpapier, endlich vollständig sichtbar mit all seinen Schatten und Facetten. Mit Wasserfarbe auf dieses unendliche Weiß gebannt, in all seinen grausamen Farben. Unzählige male hatte sie versucht ihrer Seele ein Gesicht zu geben, ihr Innerstes zu spiegeln –ohne Erfolg. Und nun, endlich, war es ihr gelungen und sie fühlte unbändigen Schmerz in ihrer Brust und es schien ihr unmöglich den Blick abzuwenden.
„Diese graugrünen Augen, dieser ferne Blick, der Wunsch nach einem Ende der Qualen, was mag es bedeuten?“
Unnötige Frage, die Antwort doch offensichtlich
Sie wusste was all die tiefrote Wasserfarbe auf dem Papier zu bedeuten hatte, sie wusste auch, wonach sich ihre Seele sehnte, immer öfter, bei jedem Sonnenuntergang intensiver....
Sie sprach es nicht aus.
Tränen stiegen ihr in die Augen, alles war so klar und tat so weh.
Endlich riss sie sich von dem Bild, dem Spiegel ihrer Seele, los und blieb zurück mit all den Fragen und Ängsten und der Melodie eines Liedes, das sie in einsamen Stunden komponiert hatte.
„Leere“, sagte sie lautlos bei sich, so lautete der Name des Stückes.
Der Schmerz des Herzens in Tönen und Farben gefangen, doch kein Ende in Sicht. Das Ende leben?
Sie erschauderte und schüttelte den Kopf um die Gedanken abzuwerfen. Endlich raffte sie sich dazu auf, sich in Bewegung zu setzen. Etwas niedergeschlagen verschwand sie im Badezimmer um sich in ihre zu engen Laufsachen zu zwängen. Fertig angezogen stand sie dann wieder vor dem Spiegel im Flur und blickte sich ins Gesicht, suchte und fand diese Augen, diese tiefen, hoffnungslosen Augen.
Noch bevor sie sich wieder mit schmerzvollen Fragen beschäftigen konnte, hatte sich ihr Körper bereits in Bewegung gesetzt und trug sie hinaus in die Kälte des Winters. Den Walkman auf volle Lautstärke lief sie los, wohin wusste sie noch nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Weg, nur weg von dem Haus und den Ängsten und Schmerzen, weg, damit sie nichts mehr fühlen musste.
Irgendwann stand sie auf dem Hügel und blickte in den Sonnenuntergang, und sie verfluchte ihr Leben, und wünschte, dass sie tot wäre, und keine Angst mehr zu haben bräuchte; Angst vor dem Tod anderer und dem damit verbundenen Schmerz, der jetzt schon nicht mehr zu ertragen war. Wäre der Hügel ein Berg gewesen, wäre sie vielleicht gesprungen um dem Verlust zu entfliehen.
Aber er blieb ein Hügel, es wurde kälter und wieder stand sie vor der Haustür und wünschte sich wo anders hin, als sie die Tür aufschloss und hineinging.
Überall Erinnerungen, überall Dinge, die nach dem Tod zurückbleiben würden. Sie kniff die Augen zusammen, doch die Bilder in ihrem Kopf waren noch grausamer als die Wirklichkeit.
„Lasst los! Lasst mich in Ruhe!“, brüllte sie in ihrem Kopf um die Ängste zu vertreiben, doch sie griffen nach ihr, ihre Augen brannten heiß, die Tränen strömten über ihre blassen Wangen. Egal wohin sie sich auch zu wenden versuchte, kein Fluchtweg, kein Ausweg, nur Tod und Schmerz, hässliche Fratzen.
Ihre Seele kreischte wie ein kleines Kind. „RAUS!!!“, ihr blieb keine andere Wahl. Sie stürmte aus dem Haus, schlug die Tür hinter sich zu um das Grauen hinter sich einzusperren.
Ewigkeiten wanderte sie durch die klare Winternacht, ziellos. Der sternenklare Himmel hing emotionslos über ihr und schwieg. Zu müde um noch zu kämpfen kehrte sie erneut nach Hause, und verschwand ohne sich umzusehen schnellstmöglich in ihrem Zimmer. Nicht hinsehen konnte sie, doch die vertrauten Geräusche der vertrauten Menschen ließen sich nicht abstellen.
Es wurde eine lange Nacht im verschlossenen Zimmer, mit alles übertönender Musik und einer neuen Rasierklinge, auf dem Fußboden in Blut und Tränen getaucht bis zur endgültigen Erschöpfung. Alles nur noch verschwommen und Stille brach über sie herein und deckte sie zu für die Nacht...
Sie hatte es der Figur auf dem Bild gleichgetan, sie hatte sich ein Stück Leben aus dem Körper bluten lassen um endlich etwas Frieden zu bekommen, um in der Stille zu versinken und nicht mehr denken zu müssen.
Jeden Abend kroch die Angst in ihr Herz und tanzte wild zu ohrenbetäubender Musik.
Immer häufiger griff sie zur Klinge um dem Schmerz ihrer Seele einen anderen gegenüberzustellen.
Immer tiefer wurden die Schnitte, die Wirkung zusehends weniger, die Sonnenuntergänge gewannen erneut an Kraft, je mehr Farben sie spielten.
Die Seele vernarbte, selbst das Bild schien sich zu verändern, der Blick wurde mit jedem Tag entschlossener. Das Bild kannte den Weg, die Seele kannte den Weg nur sie wollte es nicht wahr haben.
Die Tränen waren versiegt, die Arme geschunden. Emotionslos wurde der Rest des Körpers massakriert. Nackt stand sie nachts vorm Spiegel, setzte die Rasierklinge unter ihrem Bauchnabel an, starrte in ihre leeren Augen, suchte nach Gefühlen, nach Angst, fand keines von beiden und ihre Hand drückte die Klinge langsam in ihr junges Fleisch und zog diese über ihren Unterleib bis ihre Augen zusammenzuckten. Sie verringerte den Druck, das Blut quoll aus den unzähligen Schnitten und bildete einen roten Fluss der ihr zwischen die Beine kroch.
Sie hasste sich, sie konnte nicht mehr weinen, sie grinste sich schadenfroh ins Gesicht.
Eine Mauer aus Kälte umgab sie, es drang nichts zu ihr, keine Wärme, keine Liebe, keine Worte. Sie war mit sich und den brennenden Schmerzen und dem Echo der Verlustsängste allein. Wie ein Ball prallte sie immer und immer wieder gegen Wände und wurde abgeschmettert. Alles war leer, alles war egal. Gefühle in der Kälte des Winters erfroren.
In der letzten Nacht stand sie noch einmal vor dem Spiegel und betrachtete ihr Werk. Sie hatte versucht alles aus sich rauszukotzen, sie hatte versucht alles aus sich rauszubluten, ohne Erfolg.
Ihre Haut war gerötet und geschwollen, nicht mal vor ihrer Brust hatte sie halt gemacht, alles war mit Seelenventilen überzogen.
Und aus den Wunden quollen die Schmerzen und Ängste, sie konnte es gar nicht mehr spüren.
So saß sie im Auto, war soeben auf dem Weg nach Hause.
„Seltsam“, dachte sie sich als sie den farbenprächtigen Abend betrachtete. Im Radio lief dieses eine Lied, das so herrlich melancholisch war, und sie spürte wie die schwermütigen Töne sich auf ihre Seele legten.
Das Lied erreichte seinen Höhepunkt als sie den Sicherheitsgurt ablegte und sich eine angenehme Wärme in ihrem Körper ausbreitete.
Der Wagen beschleunigte, sie fühlte nur noch Frieden als sie endlich in den Sonnenuntergang hinein fuhr....

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